Anlage D: Ford, Minnesota
Donnerstag, 13. September (etwas früher)[27]
Violet sitzt in McQuillens Wartezimmer, liest eine sechs Monate alte Ausgabe des Time Magazine und eine uralte Nummer von Field & Stream und langweilt sich langsam. Es ist nicht so, dass sie für Jäger kein Verständnis hätte. Sie versteht das Bedürfnis der Leute, so zu tun, als könnte die Welt sie immer noch mit unendlich vielen ressourcenintensiven Tieren versorgen, die man aus einer bescheuerten Wut heraus reihenweise abknallen kann, genauso wie sie das Bedürfnis der Leute versteht, den Bürgerkrieg nachzuspielen, damit sie so tun können, als wäre er anders ausgegangen. Das Problem ist, dass sich diese beiden Gruppen so oft überlappen. So dass man irgendwann bei Sarah Palin anlangt, in einem Hubschrauber, der einen Wolf bis zur Erschöpfung jagt, damit sie das Tier erschießen kann, während es hechelnd im Schnee liegt. Oder bei Dick Cheney, der auf der Ranch eines Lobbyisten seinem Freund ins Gesicht schießt.
Violet ist sich ziemlich sicher, dass sie, ein ganzes Stück von Debbie’s Diner entfernt, in der Rogers Avenue eine Bar gesehen hat. McQuillen hat jedenfalls eine erwähnt. Und sie ist sich auch ziemlich sicher, dass sie einen direkteren Weg findet als die Strecke, auf der Azimuth hergefahren ist. Eine Abkürzung, mit der sie sich gleichzeitig von dem Restaurant fernhält. Kein Grund, nicht zu Fuß zu gehen.
Sie schreibt Azimuth auf dem vergilbten Rezeptblock am Empfang eine Nachricht, die sie unter die Wagenschlüssel legt. Schaltet die Schreibtischlampe ein und löscht das Deckenlicht, damit er den Zettel nicht übersieht.
Draußen ist es schon dunkel, über dem See hängt der Sichelmond, doch landeinwärts ist bis auf vereinzelte Straßenlaternen fast alles pechschwarz. Die Kälte und der Geruch des Holzrauches erinnern sie an Halloween in Lawrence. Sie kann ihren Atem sehen.
Sie schätzt, dass es etwa fünfzig Grad Fahrenheit sind. Das Fahrenheit-Problem geht ihr auf die Nerven. Es wird Violet nie gelingen, Temperaturen unwillkürlich in Celsius einzuschätzen. Damit ist sie nicht aufgewachsen. Und wenn man ohne das Dezimalsystem aufwächst, ist es, als wäre man mit einem Gewicht auf dem Hirn zur Welt gekommen.
Im Dezimalsystem füllt ein Milliliter Wasser einen Kubikzentimeter Raum aus, wiegt ein Gramm und benötigt eine Kalorie Energie, um sich um ein Grad Celsius zu erwärmen – was ein Prozent der Differenz zwischen seinem Gefrier- und seinem Siedepunkt darstellt. Ein Gramm Wasserstoff enthält genau ein Mol Atome.
Im amerikanischen System hingegen lautet die Antwort auf die Frage »Wie viel Energie ist nötig, um eine Gallone zimmerwarmes Wasser zum Kochen zu bringen?« »Du kannst mich mal«, weil man keine dieser Größen direkt aufeinander beziehen kann.
Violet kann zwar noch das Zifferblatt ihrer Uhr erkennen, gelangt aber zu dem Schluss, dass sie die exakte Temperatur anhand der Grillengeräusche berechnen sollte. Denn die dazugehörige Gleichung folgt – wie die meisten Gleichungen, die sie kennt – dem Dezimalsystem.
Den Grillen zufolge sind es draußen zehn Grad Celsius. Das sind umgerechnet fünfzig Grad Fahrenheit.
Sie verlässt die Veranda. Was auch immer sie dort draußen erwartet, es ist besser, als über diesen Unsinn nachzudenken.
Aber es ist zugleich ziemlich unheimlich.
Hinter dem drei Blocks langen Nobelviertel nimmt die Anzahl der Straßenlaternen rapide ab. In den meisten Häusern brennt auch kein Licht, und da, wo Licht brennt, sind die Fenster oft aus keinem ersichtlichen Grund mit Papier abgedeckt. Die seltenen Boote in den Einfahrten sind mit Hilfe von Ketten und blauen Planen mumifiziert, die Ketten an Betonblöcken befestigt. Überall, wo sie vorbeikommt, prangt ein Schild mit der Aufschrift »ZU VERKAUFEN«.
Eine Weile hört sie diesen »Blue da ba de da«-Song aus einem der Häuser, aber als sie an der Haustür vorbeikommt, ist alles dunkel. Ein paar Blocks weiter stößt sie auf einige im Kreis stehende Leute, die auf der Straße rauchen und sich murmelnd unterhalten, und im ersten Moment hält sie die rote Glut ihrer Zigaretten für Lichter am Horizont.
Kein Grund, warum sie nicht mitten auf der Straße stehen sollten. Es gibt hier keine Gehsteige, nur kiesknirschende Randstreifen, und Violet hat immer noch kein Auto gesehen.
Trotzdem umkreist sie die Raucher, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen, halb darauf gefasst, dass sie die Gesichter in die Luft strecken und nach ihr schnuppern.
Die Bar liegt vier Straßen hinter Debbie’s Diner. Sie heißt Sherry’s – was die Frage aufwirft, ob am Ende nicht eine Frau namens Sherry mit einer Axt hinter ihr herkommen wird. Sie beschließt, das Risiko einzugehen.
Das Innere der Bar ist ein langer dunkler Schlauch, mit Holztäfelung und spärlicher Weihnachtsbeleuchtung, in dem sich nur zwei Leute befinden: der Barkeeper und, auf dem Hocker ganz links, ein Gast.
Beide sind männlich und Anfang dreißig, damit würden sie in Portland noch als junge Hipster durchgehen, doch hier sind sie Erwachsene mit praktischem Haarschnitt, die schon einiges durchgemacht zu haben scheinen. Besonders das Gesicht des Barkeepers ist so verhärmt, dass es Violet an jemanden erinnert, der eine Entziehungskur hinter sich hat. Der Typ auf dem Hocker sitzt mit dem schrägen Rücken und gesenkten Kopf eines Bären da. Beide sind groß, und keiner grinst sie anzüglich an.
Violet mag große Typen. Kleine Männer wollen immer nur mit ihr vögeln, um sich überlegen fühlen zu können. Das könnte erklären, warum sie im Beisein von Dr. Lionel Azimuth, der die Unterarme und das Lachen eines Abfallschredders hat, am liebsten ihren BH ausziehen würde. Aber vielleicht lässt sich das auch nicht erklären.
Sie setzt sich auf den Hocker ganz rechts und fragt: »Haben Sie eine interessante Biersorte?«
»Jedes Bier ist auf seine Art interessant«, sagt der Typ auf dem anderen Hocker.
»Nicht wahr?« Violet ist voll und ganz seiner Meinung. Bier ist das perfekte Szenarium zur Übervölkerung: Man gibt einen Haufen Organismen mit jeder Menge Kohlehydraten in einen abgeschlossenen Behälter und beobachtet dann, wie sie sich mit ihren eigenen Abfallstoffen – in diesem Fall Kohlendioxid und Alkohol – vernichten. Dann trinkt man das Ganze.
»Sie meinen, wie Hefeweizen oder so was?«, fragt der Barkeeper.
»Na ja, vielleicht nicht unbedingt Hefeweizen.«
»Das sollte nur ein Beispiel sein.« Er kramt in dem Kühlschrank unter der Theke herum. »Sieht nicht besonders gut aus. Wenn Sie nicht hier aus der Gegend sind, finden Sie vielleicht Grain Star interessant.«
Der Typ auf dem Hocker hebt die Flasche hoch. Cooles Retro-Etikett.
»Hört sich gut an.«
»Also ein Grain Star«, sagt der Barkeeper.
»Aber wie kommen Sie darauf, dass ich nicht aus der Gegend bin?«
Die beiden Männer lachen. »Die Bar hier haben Sie wohl im Michelin-Führer gefunden, was?«
»Ja«, sagt Violet. »Sie stand unter der Rubrik: ›Bars in Ford, die tatsächlich geöffnet haben‹.«
Der Barkeeper schleudert zwei St. Pauli Girl-Untersetzer auf die Theke und stellt auf den einen ein Pint-Glas und auf den anderen eine Flasche.[28] Als er die Flasche öffnet, schlägt sich daran Wasserdampf nieder. »Ich hab auch kein St. Pauli Girl da«, sagt der Barkeeper. »Die Untersetzer waren schon hier, als ich den Laden gekauft hab. Es sind immer noch welche da.«
»Dann sollten wir sie jetzt aufbrauchen«, schlägt Violet vor. »Noch eins für den Barkeeper, bitte.«
»Danke, aber ich trinke lieber Cola light.« Zum Beweis erhebt der Barkeeper sein Glas, und Violet und der Typ auf dem Hocker stoßen mit ihren Flaschen mit ihm an. Diese Bar gefällt Violet immer besser.
»Nicht schlecht«, sagt sie, als sie einen Schluck getrunken hat. Aber auch nicht besonders gut. Grain Star schmeckt süß, dünn und metallisch, aber so ungewöhnlich, dass man vermutlich daran Gefallen fände, wenn man beim Trinken etwas täte, was Spaß macht.
Kommt ihr nicht allzu wahrscheinlich vor. Es sei denn, Dr. Azimuth tauchte auf und würde sie ins Hotel mitnehmen, um sie von hinten an den Haaren zu ziehen.
Violet hat nicht nur daran gedacht. Sie stößt auf. »Verdammt, was ist hier bloß los?«, fragt sie.
Der Barkeeper und der Typ auf dem Hocker wechseln einen Blick. »In Soudan gibt’s ein paar gute Bars, die Sie ausprobieren könnten«, sagt der Barkeeper.
»Ich rede nicht von der Bar«, erklärt Violet. »Die Bar ist super. Ich rede von diesem Ort.«
»Ach so«, sagt der Barkeeper.
»Tja, Ford«, sagt der Typ auf dem Hocker.
»Ja«, sagt Violet. »Ford.«
»Ich persönlich glaube, der Bürgermeister ist schuld«, sagt der Typ auf dem Hocker.
»Das glauben fast alle«, sagt der Barkeeper.
»Warum? Was ist mit ihm?«
»Er ist ein ziemliches Arschloch«, sagt der Typ auf dem Hocker.
»Das mit noch größeren Arschlöchern rumhängt«, erwidert der Barkeeper.
»Die verglichen mit ihm ziemlich gut wegkommen.«
»Und er erregt eine Menge Groll.«
»Das glaubt er zumindest.«
»Wie meinen Sie das?«, fragt Violet.
»Wir nehmen Sie bloß auf die Schippe«, sagt der Typ auf dem Hocker und deutet mit dem Kopf auf den Barkeeper. »Er ist der Bürgermeister.«
»Und ihm gehören auch der Speed Mart und der Spirituosenladen. Gratuliere: Sie haben gerade den zweit- und drittgrößten Arbeitgeber in Ford kennengelernt.«
»Nett, Sie kennenzulernen. Und wer ist der größte?«
»CFS. Bei weitem.«
»Debbie beschäftigt mehr Leute als du oder ich«, sagt der Typ auf dem Hocker. »Es sei denn, ›beschäftigen‹ heißt für dich auch ›ihnen Geld bezahlen‹.«
»So, so«, sagt der Barkeeper.
»Sie meinen, Debbie, die psychopathische Kellnerin?«
»Sie haben Debbie also schon kennengelernt«, sagt der Typ auf dem Hocker.
»Ja. Was ist ihr verdammtes Problem?«
Statt Violet zu antworten, fragt der Barkeeper: »Sie sind nicht zufällig Polizistin, oder?«
»Nein.«
»Nichts für ungut. Sie sehen bloß aus wie jemand aus dem Fernsehen.«
»Oh, mehr davon. Nein, ich bin keine Polizistin. Weder in der Realität noch im Fernsehen.«
Die beiden scheinen zu überlegen, wie sie, ohne unhöflich zu sein, fragen können, was sie denn nun ist. »Ich bin Paläontologin.«
Der Typ auf dem Hocker wendet sich ihr zu. »Wie in Jurassic Park?«
»Genau.«
Obwohl sie an Jurassic Park einzig und allein realistisch fand, dass alle den männlichen Doktor »Dr. Grant«, seine weibliche Kollegin aber »Ellie« nennen, stört sie die Assoziation nicht. Das Buch und der Film waren maßgeblich an ihrer Berufswahl beteiligt. Und es ist schön, dass beides die Paläontologie in einen Beruf verwandelt hat, von dem alle wenigstens glauben, sie könnten ihn nachvollziehen.
»Das ist doch Unsinn«, sagt der Barkeeper.
»Ich kann Ihnen meine Marke zeigen«, sagt Violet.
»Echt?«
»Ja. Es gibt eine Dienstmarke für Paläontologen. Was hat’s mit Debbie auf sich?«
Die beiden Männer blicken sich an. »Na ja … sie hat’s ziemlich schwer gehabt«, sagt der Barkeeper.
»Stimmt«, pflichtet ihm der Typ auf dem Hocker bei.
»Was ist passiert?«
»Sie hat vor ein paar Jahren ein Kind verloren«, erklärt der Barkeeper.
»Scheiße«, sagt Violet.
»Vielleicht entschuldigt das nicht, dass man gleich ausrastet, aber vielleicht doch.«
»Könnte gut sein«, stimmt der Typ auf dem Hocker zu.
»Hinter dem Restaurant waren ein paar Jugendliche«, sagt Violet.
Der Barkeeper schüttelt den Kopf. »Die Jungs arbeiten bloß für sie. Von denen ist keiner ihr Sohn. Sie hatte nur den einen, Benjy.«
»Was ist ihm zugestoßen?«
Die beiden Männer wechseln wieder einen Blick.
»Was ist?«, fragt Violet.
Der Typ auf dem Hocker zuckt mit den Schultern. »Das ist … nicht ganz klar.«
»Wie meinen Sie das?«
Nach kurzem Zögern sagt der Barkeeper: »Benjy und seine Freundin sind beim Nacktbaden in einem See namens White Lake ums Leben gekommen.«
Violet verschluckt sich beim Trinken.
»Sie haben davon gehört?«, fragt der Barkeeper.
»Ja. Wie sind sie ums Leben gekommen?«
»Die Polizei ist zu dem Schluss gekommen, dass sie von einer Bootsschraube zerfetzt wurden.«
»Aber ihr glaubt, das stimmt nicht?«
»Das war die Ansicht der Polizei.«
Violet mustert die beiden. »Ihr verarscht mich schon wieder. Ihr wollt mir weismachen, dass es das Ungeheuer war.«
Sie starren Violet an.
»Sie haben von William gehört?«, fragt der Typ auf dem Hocker.
»William?«
»William, dem White Lake Monster.«
»Okay«, sagt Violet. »Erstens weiß ich jetzt, dass ihr mich verarscht. Ich hab gehört, dass es ein Ungeheuer gibt, aber nicht, dass es ›William‹ genannt wird. Oder jemanden umgebracht hat.«
Die beiden haben sie bestimmt auf die Schippe genommen. Wenn es am White Lake Tote gegeben hätte, hätte Reggie Trager das als Werbung in seinem Brief erwähnt.
Sie schiebt ihre leere Bierflasche über die Theke. »Und zweitens brauche ich noch so ein Bier.«
»Wenn du sowieso schon den Kühlschrank aufmachst«, sagt der Typ auf dem Hocker.
»Ihr labert totalen Mist«, sagt Violet.
»Na ja«, sagt der Barkeeper und kramt im Kühlschrank herum. »Ja und nein.«
Len breitet das T-Shirt auf der Theke aus. Len ist der Barkeeper. Der Typ auf dem Hocker heißt Brian. Die drei haben sich gegenseitig vorgestellt, ehe Len das Hemd aus dem Lagerraum geholt hat.
Auf dem Shirt prangt die Karikatur eines Seeungeheuers. Eine Mischung aus Apatosaurus und Plesiosaurus, aber mit hochgezogener Augenbraue. Unter der Abbildung steht »Ford, Minnesota« und in der Sprechblase daneben »I’m a BILLiever!«
»Das kannst du behalten«, sagt Len. »Ich hab jede Menge von den Dingern. Vielleicht sollte ich die als Untersetzer benutzen. In Ford darfst du’s aber nicht tragen, sonst gibt’s einen Aufstand.«
»Warum?«
»Die Menschen hier glauben, dass die ganzen Leute irgendwie wegen diesem Schwindel sterben mussten.«
»Was meinst du mit ›die ganzen Leute‹?«
Eine Pause tritt ein. »Äh, es sind noch zwei andere Leute gestorben«, sagt Brian van Hocker.
»Am White Lake?«
»Nein, nein«, sagt Len. Als wäre das lächerlich. »Chris junior und Pfarrer Podominick wurden erschossen. Hier im Ort.«
»Was hat das dann mit dem See zu tun? Auch ich wurde heute hier fast erschossen. Ford ist ein gefährliches Pflaster, Herr Bürgermeister.«
»Ich leite deine Besorgnis an den Polizeichef weiter.«
»Aber jetzt mal im Ernst: Was hat das mit dem White Lake zu tun?«
»Die beiden Männer, die erschossen wurden – Chris junior und Pfarrer Podominick –, waren eigentlich die beiden, die sich den Schwindel ausgedacht haben. Und sie wurden nur fünf Tage nach dem Tod der beiden Jugendlichen erschossen«, sagt Brian.
Violet fragt: »Ein Geistlicher hat sich das Ganze ausgedacht?«
Vielleicht gibt es tatsächlich einen Grund, warum Reggie Trager nicht auf diese schmutzige Angelegenheit eingehen wollte. Vier Leichen und ein in die Sache verwickelter Geistlicher, das klingt unheimlich.
»Und Chris junior war Autumn Semmels Vater.«
»Moment mal. Was?«
Violet ist nicht mehr ganz nüchtern. Das ist das Lustige an Violet Hurst: Sie ist ein Leichtgewicht. Teils wegen der Antidepressiva, und auch wenn sie ihr sonst nichts bringen, lohnt es sich allein dafür, sie einzunehmen. Aber sie glaubt, dass sie jetzt auch verwirrt wäre, wenn sie nüchtern wäre.
»Autumn und Benjy kommen ums Leben, und kurz darauf werden dieser Pfarrer Podominick und Autumns Vater erschossen. Also schien es da eine Verbindung zu geben«, sagt Brian.
»Ja. Ich verstehe.«
»Aber du musst wissen«, sagt Len, »dass das Ganze als Scherz begann. Ich meine, guck dir doch mal das T-Shirt an.« Statt der Cola light hält er inzwischen ein Glas Bier in der Hand. Violet hat die Umwandlung verpasst.
»Aber die beiden Männer, die erschossen wurden«, sagt Violet. »Wenn Debbie geglaubt hat, dass sie für den Schwindel verantwortlich waren und ihr Sohn irgendwie wegen diesem Schwindel ums Leben kam, warum geht man dann nicht davon aus, dass Debbie sie erschossen hat? Oder es von ihren Jungs erledigen ließ?«
Brian tippt sich an die Nase. Als Len das sieht, sagt er: »Hey – also wirklich. Das ist doch bloß Gerede.«
»Trotzdem kann’s stimmen«, sagt Brian.
»Muss aber nicht.«
»Und stimmt es nun?«, fragt Violet.
Len antwortet nicht.
»Mich darfst du nicht fragen«, sagt Brian. »Ich soll ja den Mund halten.«
»Ich glaube nicht, dass es stimmt«, sagt Len schließlich. »Sie hat es auf keinen Fall von ihren Jungs erledigen lassen. Die hatte sie damals noch nicht. Und ich kann mir nur schwer vorstellen, dass Debbie so was allein macht. Außerdem gibt Debbie eigentlich Reggie Trager die Schuld an dem Schwindel. Und soweit ich weiß, hat sie nie versucht, ihn umzubringen.«
»Warum Reggie Trager?«
»Wer weiß? Er hatte bestimmt was damit zu tun. Das gilt für den ganzen Ort. Aber ich habe ihn auf keiner der Versammlungen gesehen, und ich war meistens anwesend. Und auch mich hat niemand umzubringen versucht.«
»Ich bin schon innerlich tot«, sagt Brian.
»Und vielleicht hatte der Tod von Pfarrer Podominick und Chris junior gar nichts mit dem von Autumn und Benjy zu tun. Vielleicht hat sie jemand für Hirsche gehalten. Das weiß niemand, weil niemand weiß, wer es war. Inzwischen fühlen sich alle schuldig. Als wäre es unsere Schuld, dass es das Ungeheuer wirklich gibt.«
Violet spult die letzten Sätze noch mal in ihrem Kopf ab. »Ihr wollt sagen, das Ungeheuer gibt’s wirklich?«
Beide Männer starren plötzlich ganz interessiert die Holztheke an.
»Na los. Ich werde eure Worte nicht wiederholen.«
»Na ja«, sagt Brian leise. »Was Benjy und Autumn auch zugestoßen sein mag, es war jedenfalls keine Bootsschraube.«
»Woher weißt du das?«
»Es waren noch zwei andere Jugendliche mit ihnen am See. Anständige Kinder, die jeder kannte. Sie sagten, da draußen hätte es kein Motorboot gegeben. Es wäre irgendwas anderes gewesen.«
»Und was?«
»Sie haben es nicht richtig gesehen.«
»Und was haben sie geglaubt? Was glaubt ihr?«
»Es gibt ein paar verschiedene Theorien«, sagt Len, den Blick immer noch abgewandt.
»Zum Beispiel?«
»Vieles davon klingt ziemlich verrückt.«
»Verstanden.«
»Weißt du, Dinosaurier oder …« Er sieht sie an. »Hey, bist du etwa deshalb hier?«
»Nur zum Teil«, sagt Violet. »Wie lauten die anderen Theorien?«
»Also … ein Wesen aus dem All. Oder dieses Ding, das die Ojibwe ›Wendigo‹ nennen. Das wurde schon zu allen Zeiten gesichtet.«
»Was ist das?«
»So ein Bigfoot-artiges Wesen.«
»Also, ich glaube – ist es okay, wenn ich ihr sage, was ich glaube?« fragt Brian.
»Sei kein Schwachkopf«, sagt Len.
»Ich glaube, es kam aus dem Bergwerk. Du wirst es nicht glauben, aber als das Bergwerk geschlossen wurde, schickte die Regierung ein paar Wissenschaftler runter, um nachzusehen. Das hab ich mir nicht ausgedacht: Sie waren hier in der Stadt. Sie kamen ein paarmal in den Laden. Ich glaube, sie wollten irgendwas fangen, aber das klappte nicht, und sie haben das Vieh bloß wütend gemacht. Oder aufgeweckt. Das soll nicht heißen, dass es ursprünglich nicht aus dem All kam oder kein Dinosaurier oder Wendigo oder was auch immer ist. Aber bevor es sich in den White Lake verzog, hat es anscheinend sehr lange in dem Bergwerk gehaust. Vielleicht auch schon bevor es hier oben warmblütige Viecher zu fressen gab.«
Als die Hintertür aufgerissen wird, zucken alle zusammen.
Es ist Dr. Lionel Azimuth, der angerauscht kommt wie eine Bowlingkugel. Der Brian und Len erst richtig erschreckt.
Violet steht auf, um ihn zu begrüßen. »Hallo, Liebling!«
Sie hakt sich bei Azimuth ein und – so wahr ihr Gott helfe, ein Unfall – stolpert in ihn rein. Es ist, als würde sie gegen einen Telefonmast stolpern.
»Wir unterhalten uns bloß«, sagt sie. »Die beiden wissen was über William.«
»Hm hmm. Zeit, nach Hause zu gehen, Liebes.«
Violet beugt sich vor. Stößt ihren feuchten Atem in sein Ohr und sagt: »William, das White Lake Monster.« Er wird ganz steif, doch es ist nicht klar, ob wegen ihrer Information oder weil ihre Lippen seine Haut streifen.
Brian und Len werden nervös. »Kümmert euch nicht um ihn«, sagt Violet. »Er ist ein ziemlicher Spießer. Er ist Arzt und missbilligt es, wenn ich Alkohol trinke.«
»Ihr beide wisst was über das White Lake Monster?«, fragt Azimuth. »Über den Schwindel?«
»Äh …«, sagt Len. Azimuth folgt seinem Blick zu dem T-Shirt auf der Theke.
»Ich erzähl’s dir im Wagen«, sagt Violet, um Brian und Len zu ersparen, das Ganze noch mal durchgehen zu müssen.
»Sie fährt doch jetzt nicht mehr, oder?«, fragt Len.
»Nein«, sagt Violet. »Sie ist zu Fuß hergekommen.«
»Eins noch«, sagt Azimuth. »Wie heißt der Mann in dem Film, der behauptet, ihm wäre das Bein abgebissen worden?«
Die beiden Männer blicken sich an.
»Charlie Brisson«, sagt Len.
»Danke. Wie viel sind wir Ihnen schuldig?«
»Das geht aufs Haus.« Und zu Violet sagt er: »Vergiss dein T-Shirt nicht.«