27 Lake Garner/White Lake Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota

Immer noch Donnerstag, 20. September

Sieben Uhr dreißig, eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang, und bis jetzt hat die Sonne lediglich den Nebel zum Leuchten gebracht. Überall Nebel. Selbst der Lake Garner sieht aus, als läge er in einer Wolke. Der White Lake sieht aus wie das Vergessene Tal.

Reggie verteilt Kaffee wie an allen vier Tagen, vermutlich hatte er nicht genug anderes zu tun. Seine ernsten, geschmeidigen Führer sind zu gut. Wie alle anderen scheint es ihn nervös zu machen, dass Bell noch nicht aufgetaucht ist.

»Alles klar?«, frage ich.

»Sie meinen, ob ich mir Sorgen um Dels Köter mache? Nein. Die Töle hat sich wahrscheinlich einem Elchrudel angeschlossen.« Allerdings schickt er einen schuldbewussten Blick zu Violet und Palins Verwandter Frodo hinüber, die trostlos auf einem Stein hocken. »Mir geht’s gut. Kanufahrten, Seeungeheuer und Irre in Amphibienbooten sind halt nur nicht so mein Ding. Aber die Kanufahrt haben wir ja wenigstens halb hinter uns. Jetzt muss ich nur noch zurück.«

»Reggie, was ist mit der ganzen Jagdausrüstung passiert, die Chris junior bestellt hat und die erst nach seinem Tod ankam? Die Haken und Netze und alles?«

Er zuckt die Achseln. »Zurückgeschickt. Hätte nicht gedacht, dass ich mal hierherkomme und das gebrauchen kann.«

Ich gehe mit zwei Tassen Kaffee rüber zu Violet und Frodo, aber Frodo hat schon eine heiße Schokolade, also behalte ich eine Tasse und setze mich neben Violet. Sie lehnt sich an mich, keine Ahnung, ob bewusst[65] oder unbewusst. Es gefällt mir.

Reggies Guides backen Pfannkuchen, während wir alle darauf warten, dass sich der Nebel auflöst, verpufft oder was er sonst so macht. Geredet wird nur leise. Eine Stunde lang herrscht gedämpfte Stille im Lager, unterbrochen nur von einzelnen Vogelrufen.

Danach ertönt vom White Lake her jedoch ein Laut, als befänden wir uns in THX im Innern von Godzillas Kehle.

Natürlich kriegen alle Schiss und rennen panisch durcheinander, was ich mir aus irgendeinem Grund nur schwer ansehen kann. Stattdessen denke ich über den Zeitpunkt nach: angenommen, der Laut wurde von einem Menschen verursacht – ein Nebelhorn? Ein Laptop, der an einen Gitarrenverstärker angeschlossen wurde? – warum hat er ihn dann jetzt ausgelöst? Warum hat er uns nicht noch ein paar Tage am White Lake herumsuchen lassen, um es plausibler zu machen? Oder warum nicht gleich alles letzte Nacht hinter sich bringen?

Ich drehe mich um, um Violet nach ihrer Meinung zu fragen, aber sie und Frodo sind weg. Nicht nur weg von dem Stein, sondern aus meinem Blickfeld verschwunden. Auch wenn es mir nicht so vorkommt, als wäre genug Zeit dafür verstrichen. Aber mein Gehirn scheint sowieso gerade nicht richtig zu funktionieren. Ein Mann mit einer langen Tasche, die wie eine Gewehrtasche aussieht, kommt vorbei, doch erst, als er längst weg ist, wird mir klar, dass es Mr Fick war, dessen Gesichtszüge ich da sortiert habe. Und dass er gerannt ist.

Dann erscheint mir auf einmal das ganze Konzept von Zeit am Arsch zu sein. Warum sind Erinnerungen so minderwertig, dass die Erinnerung daran, wie Violet neben mir gesessen hat, wertlos erscheint im Vergleich zur tatsächlichen Erfahrung? Ich gebe zu, Fleisch ist nicht das ideale Aufzeichnungsmedium. Aber es scheint für den Anfang auszureichen, die Empfindung einzudrücken.

Zurück zu Violet. Ich vermisse diese Frau. Ich hege die seltsamsten Gefühle für sie. Als wären wir zwei Statuen, die seit fünftausend Jahren den Eingang einer Pyramide flankieren, und würden gern reingehen und vögeln.

Irgendjemand schreit: »Nicht, Leute!« Es ist Reggie. Stimmen erkenne ich erstaunlicherweise auf Anhieb. Teng und seine Jungs kommen vorbei. Alle auf einer Ebene, auch wenn sie nicht richtig dreidimensional sind, eher wie lebendige Papierschnitte, die auf mehrere Schichten Glas aufgeklebt wurden. Die Bäume hinter ihnen sind gefrorene Springbrunnen.

Okay, denke ich. Es reicht.

Ich nehme eine Einmalspritze und eins der vier Fläschchen Anduril, die ich aus Dr. McQuillens Arzneischrank gestohlen habe, aus der Jackentasche.

Anduril ist ein Antipsychotikum aus den 60er Jahren. Hammerhart angeblich, aber es wirkt und hat weniger Nebenwirkungen als der Mist, den Durchgeknallte heutzutage bekommen. Auch bekannt als LSD-Bremse.

Allerdings kann es den Bewegungsapparat blockieren, deshalb wird es zusammen mit einem Anti-Parkinson-Mittel verabreicht. Davon habe ich nur zwei Fläschchen stibitzt, aber das dürfte genügen.

Ich hätte die Spritzen vorher präparieren sollen. Jetzt eine aufzuziehen, dauert furchtbar lange. Keine Ahnung, warum ich nicht vorgesorgt habe. Und McQuillen nicht das ganze Anduril gestohlen habe. Ich muss wirklich lernen, meinen Instinkten zu vertrauen.

Schließlich kriege ich die Spritze gebacken. Da die Hose runterzulassen mir jetzt mühsamer erscheint als fünfzig Jahre Büro abzusitzen, jage ich mir die kurze Nadel durch die Jeans vorne in den Oberschenkel.

Als der Kolben durchgedrückt ist, springt die Nadel in die Spritze zurück. Deshalb konnte ich nichts vorbereiten – sich automatisch zurückziehende Nadel! Superraffiniert, das moderne Spritzendesign.

Wie sagte noch der Unabomber: Die Technologie bringt uns alle um, aber jeder einzelne Schritt dahin wird reizend sein.[66]

»Reggie!«, rufe ich, als ich die nächste Spritze aufziehe. »Was haben Sie gemacht, verdammt noch mal?«

Niemand antwortet.

Es ist niemand mehr da.

Aber vom White Lake her höre ich Stimmen.

Ich latsche zur Landzunge hinüber. Drei Kanus sind auf dem Wasser, Seite an Seite, von mir weggedreht im Nebel. Die Guides paddeln, ein paar Leute stehen. Ohne Gepäck reichen drei Boote für die ganze Gesellschaft.

Und ihre Gewehre.

Reggie ruft vom Ufer aus: »Nehmt die Schießeisen runter!«

Ich laufe an ihm vorbei, werfe ihm einen so bösen Blick zu, wie es die Zeit erlaubt, und sehe die Kanus von vorn.

Allein die Vielfalt der Waffen verblüfft mich. Fick, Mrs Fick und Teng haben diverse Bockbüchsflinten. Die von Teng ist aus rostfreiem Stahl. Tengs Geleitschutz hat TEC-9er. Ich wusste nicht mal, dass TC-9er noch hergestellt werden. Tyson Grodys Bodyguards haben Faustfeuer-Waffen – jeder zwei –, obwohl Grody versucht, sie von der Benutzung abzuhalten. Palins Bewacher haben übel aussehende Skorpion-MPs.

Palin selbst hat ein Schwert.

Reggie Trager, der auf mich zukommt, folgt der Armada in wilden Sprüngen am Ufer entlang, schwenkt die Arme und schreit: »Stopp!«

Violet sehe ich nirgends. Frodo auch nicht. Ihnen und dem Bruder von Wayne Teng will ich die drei anderen Fläschchen verabreichen. Frodo, weil sie so jung ist, und Tengs Bruder, weil er schon genug mitgemacht hat. Jetzt kniet der Bruder in einem der Boote und glotzt müde geradeaus.

Dann zeigt einer von Tengs Bodyguards mit dem Finger und ruft etwas, das nur heißen kann: »Da! Da ist es!«

Denn da ist es. Sogar, obwohl der Trip schon abflaut.

William, das Monster vom White Lake.

Oder, wie es von meinem Platz und durch den ganzen Nebel aussieht, drei Buckel gerippter schwarzer Plastikschlauch, rund sechzig Zentimeter dick, der mit billigem Gewackel von etwas über den See getrieben wird, das man nicht sehen kann, wenn man auch ahnt, dass es etwas mit den im Wasser aufsteigenden Luftblasen zu tun hat.

»HALT!«, sagt Reggie. »NICHT –«

»Nein!«, schreit Tyson Grody.

Jeder, der kann, eröffnet das Feuer. Es ist lauter als das Nebelhorn, oder was immer das war.

Die beiden hinteren Buckel fliegen weg, aufgerissen flattern sie davon. Zwei behandschuhte Hände recken sich zum Zeichen der Kapitulation aus dem Wasser und tauchen schnell wieder ab, als von der einen Hand ein Finger abgeschossen wird.

Die Touristen und ihre diversen Beschützer ballern weiter. Sogar die, die hinten stehen und wegen der Vorderleute keine freie Schussbahn haben. Grody brüllt und fuchtelt mit seinen Händen vor den Leuten in seinem Kanu herum, was unglaublich mutig ist. Allerdings ist er vernünftig genug, so weit unten zu bleiben, dass er niemanden wirklich aufhält.

Die Leute ballern auch noch weiter, als ein Ruderboot um die Biegung kommt, in dem Miguel und ein paar andere stehen wie George Washington und mit ihren Kanonen auf die Touristen anlegen. Irgendwann schleudert Palin das Schwert so von sich, dass es sich in der Luft überschlägt. Keine schlechte Waffe für diese Frau.

»MACH KEINEN SCHEISS, MIGUEL!«, brüllt Reggie direkt neben mir, direkt bevor Miguel und Co. eine zünftige Gewehrsalve abgeben. Die, je nachdem, wem man später glaubt, auf oder über die Köpfe der Leute zielt, die auf den Monsterlenker ballern.

Stille tritt ein, abgesehen vom Bellen eines Hundes: tatsächlich schwimmt Bell auf Miguels Boot zu. Da er nur stoßweise durch den Neben sichtbar ist, sieht er wesentlich mehr nach Seeungeheuer aus als die Schlauchbuckel. Keine Ahnung, warum die Leute aufgehört haben zu feuern. In den Booten stehen noch alle, außer Grody, der zusammengekauert dasitzt und heult. Dann knickt Wayne Teng plötzlich in der Hüfte ein und stürzt kopfüber in den See, und in der Ausgleichsbewegung des Kanus geht die ganze restliche Besatzung auf der anderen Seite über Bord.

Ich hechte ins Wasser. Die Kälte macht mir den Kopf sofort klarer, so wenig ich in dem Nebel jetzt auch sehen kann. Als ich zu Teng komme, halten die Bodyguards sein Gesicht über Wasser. Ihn in eins der Boote zu schaffen, wäre so gut wie unmöglich – wir würden nur noch ein weiteres Kanu zum Kentern bringen. Ich zeige mit dem Daumen ans Ufer und ziehe ihn in die Richtung.

»Ruft einen Rettungshubschrauber! Dass keiner ertrinkt!«, rufe ich, als würde mir irgendwer zuhören und danach handeln.

Ich sehe nach, wo Teng getroffen worden ist. Lange zu suchen brauche ich nicht: das Blut schießt so heftig unten links aus seiner Leiste, dass es durch die Wasseroberfläche bricht. Wenn die Darmbeinarterie verletzt ist – und bei diesem Whirlpoolstrudel von Blut sieht es ganz danach aus –, hat er kaum eine Chance. Die Ader ist elastisch, und die beiden Enden, die man zusammenbringen müsste, werden sich bereits in seinen Brustkorb und die Wade zurückgezogen haben.

Ich drücke die Wunde mit der Faust zusammen, habe die andere Hand unter ihm und trete, um uns über Wasser zu halten. Gern würde ich ignorieren, dass Teng nicht schluckt, als er Wasser in den Mund bekommt.

Als wir noch etwa sieben Meter vom Ufer entfernt sind, verbeißt sich dann das echte White Lake Monster von hinten in Teng und reißt ihn mir aus den Armen.