Dritte Theorie:
Ungeheuer
28 White Lake/Lake Garner Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota
Immer noch Donnerstag, 20. September
Karl Weick, der Organisationspsychologe:
»Eine kosmologische Krise tritt ein, wenn man plötzlich und intensiv das Gefühl hat, dass das Universum kein sinnvolles, geordnetes System mehr ist. Ein solches Ereignis ist deshalb so erschütternd, weil sich zugleich das Gefühl einstellt, ein sinnvoller Zusammenhang ließe sich nicht wieder herstellen, [so dass man denkt,] das habe ich noch nie gesehen. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und wer mir helfen könnte.«
Ich glaube, Violet Hurst hat gesagt, es ist, als ob einem der ganze begriffliche Bezugsrahmen über den Haufen geworfen wird.
Das Tier, das im White Lake an mir vorbeirauscht, mich mit seiner schleimigen Lederhaut streift, als es Teng unter Wasser und außer Sicht zieht, wobei es mich mit etwas ohrfeigt, das sich verdammt nach einem Schwanz anfühlt, tut genau dies. Es kehrt mein Innerstes nach außen, so dass der Albtraum jetzt draußen ist.
Bloß klappe ich in Albträumen nie zusammen, weil mir da alles, was ich sehe, normal vorkommt. Nur im richtigen Leben wache ich schreiend auf und habe anfallartige Panikattacken.
Jetzt, wo das richtige Leben die Albtraumwelt ist, trete ich einfach ruhig Wasser. Ich sehe in die Richtung, in die Tengs Körper verschleppt worden ist, und denke: Wenn das Ding mich fressen will, frisst es mich. Was will ich machen? Natürlich könnte auch das Antipsychotikum etwas damit zu tun haben.
»Teng Wenshu! Teng Wenshu!«, rufen Tengs Leibwächter. Nach einer Weile dann: »Teng Shusen!«
Tengs Bruder antwortet drüben vom Ufer aus. Reggies Guides haben wieder einmal ganze Arbeit geleistet, alle ins Wasser Gefallenen lebend herausgeholt und an Land geschafft. Alle versammeln wir uns auf den Felsen wie Meergeborene, und das Wasser läuft uns aus den durchnässten Kleidern.
Es ist beißend kalt. »He«, rufe ich. »Reggie hat uns LSD verabreicht. Wer keinen Kaffee getrunken hat oder sich einfach nicht beschissen fühlt, nimmt sich bitte der anderen an. Alle, die nass geworden sind, brauchen schnellstes etwas Trockenes zum Anziehen. Wenn jemand Speed dabei hat, sollte er das jetzt verteilen.«
Reggie, der mit Miguel weiter unten am Strand das Boot an Land zieht, in dem Del sitzt und von Bell mit Wasser beschüttelt wird, sieht mich an. Ich würde ihn ja fragen, ob ich mit dem Kaffee richtig liege, aber wie könnte ich seiner Antwort trauen?
»Wer hat ein Satellitentelefon?«, frage ich.
»Ich mach das schon«, ruft einer von Palins Leibwächtern. Hörer am Ohr, sitzt er in einem der Kanus, die noch das Ufer ansteuern. Neben ihm kniet Palin, und es sieht aus, als ob sie gerade ins Wasser kotzt.
Ich bereite eine Andurilspritze für Teng Shusen vor, entschließe mich aber im letzten Moment, sie lieber einem seiner Bodyguards zu geben. Teng Shusen ist nicht in Panik, er sieht nur verwirrt um sich, und es ist vielleicht besser, wenn einer, der sich um ihn zu kümmern hat, klar denken kann.
Die beiden anderen Kanus landen. Violet und Froghat sitzen nicht drin, und da ich mir ziemlich sicher bin, dass sie nicht in dem gekenterten waren, laufe ich zum Lager zurück und rufe nach ihnen. Sie hocken zusammengekauert in dem Zelt, das ich mit Violet geteilt habe.
LSD auch in der heißen Schokolade. Reizend, Reggie.
Ich setze beiden eine Spritze.
Gehe zurück zu dem Boot mit dem Außenborder, um nach Del zu sehen.
Del hält die rechte Hand unter den linken Arm geklemmt. Nicht nur, weil ihm ein Finger abgeschossen worden ist, denn als ich den Arm wegziehe, sehe ich, dass er einen Streifschuss in die Seite abbekommen hat – Neopren, Haut, kanariengelbes Fett. Blut läuft wässrigrosa an seinem Taucheranzug herunter. Ein Wunder, dass er nicht noch schlimmer zusammengeschossen worden ist.
Miguel reicht mir unaufgefordert ein Handtuch und hält es mir dann fest, als ich Del so lagere, dass seine beiden Verletzungen höher als das Herz liegen. »Hol noch ein paar«, sage ich mit Blick auf das Handtuch.
»Verdammt nochmal, Bell«, sagt Del, die ersten Worte, die ich von ihm höre. Der Hund leckt ihm weiter das Gesicht, als wollte er ihn aufwecken.
Als ich aufstehe, sind meine Muskeln von dem Anduril wie Sand.
»Ich weiß«, sagt Reggie und hält schützend die Hände vor sich.
»Sie haben nicht die leiseste Ahnung.«
Sarah Palin sagt nicht auf Wiedersehen. Ich bekomme sie nur noch kurz zu sehen, bevor sie geht. Einer ihrer Bewacher schiebt sie in ihr Zelt und pflanzt sich davor, während die beiden anderen mit ihren Kampfmessern auf Geäst einhacken wie der Druide in Asterix. Fast sieht es aus, als wären sie verrückt geworden, aber schließlich bauen sie aus den Ästen einen mit Plastikschlaufen zusammengehaltenen Rost, und als Palins Sikorsky auf dem Lake Garner landet, benutzt er den Rost als Rampe, um sich ans Ufer zu schieben.
Haben Palins Leibwächter ihre Evakuierung veranlasst, bevor sie den Rettungsdienst gerufen haben? Ich weiß nur, dass Palin und ihre Gruppe, die auf einmal irgendwie auch Grody und seine Gruppe und sogar die bescheuerten Ficks einschließt – so als ob die Ficks vielleicht nicht nur sauertöpfische reiche Leute sind, die Klamotten von Costco mögen, und Dinge erschießen, sondern auch die Sorte Menschen, die Spendenaktionen für Politiker in ihrem Schloss abhalten – weg sind, ehe der Rettungshubschrauber der Parkverwaltung am Himmel erscheint. Und schon lange weg, als die Piper Cub mit Sheriff Albin kommt.
Ich versuche nicht, sie aufzuhalten. Ich weiß nicht, ob ich es gekonnt hätte, und außerdem habe ich ihnen geglaubt, dass sie nichts gesehen haben. Es war verdammt neblig, und alle waren durchgeknallt.
Albin ist allerdings nicht ganz glücklich damit. Er führt sich vielmehr auf, als hätten er oder Violet und ich mehr – oder wenigstens irgendwas – tun müssen, um das Ganze zu verhindern. In Spielfilmen bringen einen die Cops nach so einem Scheiß immer zum Krankenwagen, wo man für die Luftaufnahme Wolldecken umgelegt und einen Kaffee in die Hand gedrückt bekommt. Albin schickt alle anderen ins Krankenhaus, hält uns – und Bell, für den wir auf einmal verantwortlich sind – aber fest, um uns Fragen entgegenzuschleudern, während er über Funk mit Bemidji spricht. Erst Stunden später lässt er uns nach Ely fliegen, und da empfängt uns noch ein Hilfssheriff am Hafen und sieht zu, dass wir im Ely Lake Hotel absteigen, damit wir später zur Verfügung stehen.
Als der Hilfssherif abhaut, überrede ich den Leihwagenfahrer mit ein paar Scheinen, uns zum CFS zu bringen, damit wir unseren Wagen abholen können.
»Du willst nicht einfach warten?«, fragt Violet.
»Ich will zuerst Bell zu CFS zurückbringen.« Momentan ist er auf dem Golfplatz festgebunden, und ich weiß, dass Violet milder gestimmt sein wird, wenn wir das erledigt haben.
»Und was kommt nach zuerst?«
»Anscheinend wissen die Ojibwe über dieses Ding Bescheid. Sie haben es gemalt und ihm einen Namen gegeben: der Wendigo. Also will ich verdammt noch mal mit einem Ojibwe reden.«