29 Chippewa River Reservation
Immer noch Donnerstag, 20. September
»Ich erklär Ihnen mal, was daran so beleidigend ist«, sagt Virgil Burton von den North River Ojibwe-Stämmen.
Wir sitzen ihm an einem niedrigen Imbisstisch für Kinder im Speiseraum des Gemeindezentrums gegenüber. Ich wüsste nicht, dass ich mal klein genug war, um an so einen Tisch zu passen.
»Als zauberkräftig können die Leute das erste Volk ja von mir aus bezeichnen«, sagt Burton. »Obwohl das auch schon Schwachsinn ist, wenn man bedenkt, wie es uns ergangen ist. Aber das bedenken die Weißen eben nicht. Sie sehen nur die Tipis. Und die Wendigos.«
Ich bin verlegen bis zum Anschlag.
»Die ersten Völker hatten Gesellschaften. Damit meine ich keine Robin-Hood-Lager im Wald. Ich meine Kultur. Bevor Kolumbus herkam, lebte ein Viertel aller Völker der Erde in der sogenannten Neuen Welt. Tenochtitlan war die größte Stadt auf Erden. Wir hatten Bücher, Regierungen, Gerichte und die besten Armeen überhaupt. Als Hernandez und de Grijalva auf die Mayas losgingen, haben die ihnen den Arsch versohlt. Die Azteken haben Cortez 1520 den Arsch versohlt. Im Jahr darauf haben die Florida Ponce de Leon kaltgemacht. Dann wurden die Pocken aus Europa eingeschleppt, und fünfundneunzig Prozent der Ureinwohner starben. Die Europäer erhöhten das per Sklaverei und Ausrottung auf siebenundneunzig Prozent.
Danach war die Laube dann natürlich weit offen. Ackerfrucht und Hausgetier, wohin die Europäer blickten. Fertig abgebautes Gold. Wissen Sie, wie viel die erste von Pizarro nach Europa gebrachte Schiffsladung an gestohlenem Gold wert war?«
Wir schütteln die Köpfe.
»Viermal so viel wie die Bank von England. Aber das weiße Volk, wenn Sie den Ausdruck entschuldigen, huldigt romantischen Vorstellungen darüber, wie die Überlebenden sich danach durchgeschlagen haben. Als hätten die Menschen der ersten Völker als von Kriegshäuptlingen regierte Nomaden in den Wäldern leben wollen. Das lag uns fern. Die Weißen haben uns dazu gezwungen. Für uns war das finsteres Mittelalter. Aber ihr redet lieber von Schamanen und Seelenführern und der Würde des einfachen Lebens. Klar war dieses Leben einfach – es war postapokalyptisch.« Per Themenwechsel oder so was sagt er: »Wussten Sie, das Hitler ein Porträtbild von Geronimo in seinem Bunker hatte?«
»Nein«, sagt Violet.
»Hitler liebte die ersten Völker. Und wissen Sie, was die Menschen der ersten Völker von Hitler hielten? Sie sind in die U. S. Army eingetreten, um gegen ihn zu kämpfen. Und sie waren nicht gerade Freunde der U. S. Army. Aber das interessierte Hitler nicht. Er hat uns trotzdem geliebt. Und noch was. Er hatte Syphilis. Echt. Das können Sie nachschlagen. Der hatte Syphilis, und dafür hat er die Juden verantwortlich gemacht. Ein ganzes Kapitel in Mein Kampf heißt ›Syphilis‹.«
»Ich habe Mein Kampf gelesen«, sage ich und merke erst, als es raus ist, wie sich das anhört.
»Wissen Sie, wo die Syphilis herkommt?«, fragt Burton. »Eben. Aus der Neuen Welt. Genau wie die Kartoffeln. Wie Mais und Tomaten. Aber hat Hitler uns deshalb gehasst? Nein. Denn dazu hätte er sich die Fakten über uns ansehen müssen. Und das wollte er nicht. Er hat uns geliebt, aber er wollte uns nicht wahrnehmen.
Und jetzt kommt ihr daher und fragt nach den Wendigowak. Dabei habt ihr einen Doktor, Mann. Aber fragt ihr nach Bildungsprogrammen? Fragt ihr nach der Diabetesrate und ob dagegen was unternommen wird? Habt ihr eine Ahnung, wie viele Menschen hier zur Dialyse müssen? Wenn ihr wollt, zeige ich euch das Zentrum. Da hängen Teenager ab, weil sie, wenn noch nicht jetzt, dann doch irgendwann dahin müssen. Wir zeigen da Spielfilme. Wir haben Netflix. Freundliche Damen helfen den Leuten dort bei der Steuer. Wer für den Stammesrat kandidiert, geht im Dialysezentrum auf Stimmenfang. Wenn jeder vierte Weiße Diabetes hätte, gäbe es keine Diabetes mehr.«
»Entschuldigen Sie, dass wir Sie behelligt haben«, sagt Violet.
»Geschenkt«, sagt Burton. »Es genügt, wenn Sie aufgeschlossen sind. Sie möchten wissen, was ein Wendigo ist?«
Wir nicken.
»Ein Wendigo ist was, wovon man Kindern erzählt. Kindern und Weißen. Es ist einer, der im Winter Hunger leidet und deshalb seine Familie auffrisst. Zur Strafe dafür muss sein Geist für immer bleiben, wo er ist. Und Hunger leiden. Immer Leute jagen, damit er sie fressen kann, aber er ist so schwach, dass er sie dazu ertränken muss. Seht ihr, worauf das rausläuft? Der übliche Road Warrior-Scheiß. Ein Volk hat solche Angst, Hungers zu sterben, dass es seine Kinder ermahnen muss, sich nicht gegenseitig zu essen. Das ist die ganze Wendigo-Geschichte: Fresst euch nicht gegenseitig. Wie schlimm es auch kommt, bleibt menschlich. Die Europäer hören da genau das Gegenteil heraus: Die ersten Völker sind zauberkräftig und verstehen mit Bigfoot zu reden. Aber wenn es Bigfoot wirklich gab, wird er vor langer Zeit an den Pocken gestorben sein.
Der White Lake ist gefährlich. Wo junge Leute feiern, ist es immer gefährlich, erst recht bei weißen jungen Leuten. Schiebt’s nicht auf uns, wenn da was abgeht.«
Im Wagen, wo am Ende einer ungeteerten Abzweigung mit Blick auf einen See, dessen Namen wir nicht kennen, der Regen auf die Windschutzscheibe prasselt, stürzt der ganze Tag auf uns ein. Violet weint. Ich bin für den Kack seit Jahren nicht empfänglich, sonst würde ich wahrscheinlich auch anfangen.
»Teng war so nett«, sagt sie.
»Ja.«
»Er war nett zu seinem Bruder.«
»Ja.«
»Und jetzt ist er tot? Und kein Mensch weiß, warum?«
Ich überlege, was ich außer »Ja« darauf sagen könnte, aber mir fällt nichts ein.
»Ich hab das Gefühl, ich werde verrückt.«
»Wirst du nicht«, sage ich. »Sonst werde ich es jedenfalls auch. Und eine Menge andere Leute. Wir haben immer noch eine ziemlich starke Droge im Körper.«
»Deswegen nicht. Wegen Teng. Und weil im White Lake etwas lebt. Das widerspricht allem, was ich weiß.«
»Geht mir auch so.«
»Ich weiß nicht mal, ob ich mich hier noch auf irgendwas verlassen kann.« Sie dreht mir ihr nasses Gesicht zu. Ich rieche ihre Tränen. Ihre Lippen sehen nass und weich aus.
Ich kann nicht mehr.
»Violet«, sage ich, »ich muss dir was erzählen.«
Sie reißt die Augen auf und schüttelt kaum merklich den Kopf. Sie will es nicht hören.
Ihr Pech. Mein Pech. In den vergangenen acht Stunden ist es nicht zuletzt auch sinnlos geworden, Violet Hurst anzulügen.
»Ich heiße nicht Lionel Azimuth«, sage ich ihr. »Ich heiße Pietro Brnwa. Aufgewachsen bin ich in New Jersey. In Kalifornien habe ich Medizin studiert. Dazwischen habe ich im Auftrag der sizilianischen und der russischen Mafia Leute umgebracht.«
Sie sieht mich nur an. Sucht nach Anzeichen dafür, dass ich scherze.
»Bitte?«, sagt sie.
»Ich habe Leute umgebracht.«
»Das glaub ich nicht.«
»Trotzdem. Es stimmt. Es ist das einzig Wahre, das du bis jetzt von mir gehört hast.«
»Im Ernst?«
»Ja.«
»Du warst was?«
»Ein Mörder. Bezahlter Mörder. Für die Mafia.«
»Wirklich?« Sie scheint einfach verwirrt. »Weiß das Rec Bill?«
Die Frage habe ich verdient. »Keine Ahnung. Ich glaube nicht.«
Dann trifft es sie wie ein Schlag.
»Ach, du großer Gott.«
Sie stürzt aus dem Wagen.
Ich steige auf meiner Seite aus. Es schüttet. »Violet – komm zurück. Ich lass dich irgendwo raus.«
»Bleib mir bloß weg!«
»Dann nimm wenigstens den Wagen. Zu Fuß ist es zu weit.«
»Verschwinde!«
Ich gehe rückwärts vom Wagen weg. »Der Schlüssel steckt in der Zündung.«
Ängstlich und verwirrt bleibt sie stehen.
»Du hast Leute ermordet?«
»Ja.«
»Wie viele?«
»Ich weiß nicht. Um die zwanzig.«
»Du weißt es nicht?«
»Je nach Situation könnten ein paar überlebt haben.«
»Du bist also ein Serienmörder?«
»Technisch gesehen ja.«
»Technisch? Ach du Scheiße.«
In ihren Augen steht nackte Angst und Abscheu. Aber was soll ich sagen? Dass ich nie jemanden wie sie umgebracht habe? Dass ich als Erwachsener mal acht Jahre am Stück gelebt habe, ohne jemanden umzubringen? Und jetzt beinah schon wieder drei?
Ich gehe weiter rückwärts in Richtung Straße. Will so weit weg vom Wagen, dass sie hinlaufen kann, ohne befürchten zu müssen, dass ich sie angreife.
Ich quatsche den Highway entlang, bis ich zum CFS komme. Anderthalb Stunden brauche ich dafür.
Jetzt, wo der Regen nachlässt, baut ein junger Kerl, den ich nicht kenne, die Sperre an der Straße zur Lodge wieder auf, diesmal mit Sägeböcken.
»Kann ich Ihnen helfen, Sir?«, fragt er. Er sieht mich an, als ob nicht allzu viele hier zu Fuß langkommen. Oder klatschnass.
»Ich bin Lionel Azimuth. War bei Reggies Tour dabei. Ist hier in den letzten ein, zwei Stunden eine Frau durchgekommen?«
»Die Paläontologin?«
»Ja.«
»Die ist unten in der Hütte. Sind Sie der Arzt?«
»Ja. Hat sie eine Nachricht für mich hinterlassen?«
»Nein. Aber jemand hat nach Ihnen gesucht. Ein Ind…«
»Wann war das?«
»Vor ungefähr einer Stunde.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Weiß ich nicht. Wieder weg wahrscheinlich. Ich hab ihm gesagt, dass Sie nicht in der Hütte sind.«
»Hat er gesagt, wie er heißt?«
Der Junge kratzt sich schuldbewusst am Kopf. »Kann sein.«
»Virgil Burton vielleicht?«
»Ich weiß nicht mehr. Tut mir leid.«
»Wie sah er aus?«
Achselzucken. »Älter als Sie, meine ich mal. Graue Haare, aber so alt auch wieder nicht.«
Klingt nach Virgil Burton.
»Ich brauche einen Fahrer«, sage ich. »Oder leihst du mir deinen Wagen?«
Starker Regen fällt aus einem strahlend weißen Himmel, und das Gemeindezentrum ist geschlossen und verriegelt. Henry, der Junge, der mich hergefahren hat, wartet in seinem Subaru, während ich die Fenster des Gemeindezentrums abklappere. Ich halte einen »Moment noch«-Finger hoch und laufe über einen Baseballplatz und einen kleinen Abzugskanal zum ersten Haus, das ich sehe. Blanke Bretter. Niemand kommt an die Tür.
Ein paar Häuser weiter öffnet eine Frau von Anfang dreißig. Nicht viel jünger als ich, was betroffen macht bei einer, die so offensichtlich ein Leben hat.
»Ja?«, sagt sie. Misstrauisch, aber Gott sei Dank nicht ängstlich.
»Kennen Sie Virgil Burton?«
»Warum fragen Sie?«
Auf der Zufahrt hinter mir höre ich Reifen. Ich nehme an, es ist Henry, der quasi im Schritttempo hinter mir hergefahren ist.
Irrtum. Es ist Virgil Burton, der aus seinem Pickup steigt. Als ich mich wieder umdrehe, schließt die Frau gerade die Tür.
»Was gibt’s, Mister?«, fragt Virgil.
»Ich hab gehört, Sie suchen mich.«
»Wie das? Per Rauchzeichen?« Er sieht mein Gesicht und bleibt stehen. »Hey, Mann, alles in Ordnung?« Er deutet mit dem Kopf auf Henry, der weiter hinten an der Straße parkt. »Ist das Ihr Freund?«
»Sie haben ihm nicht gesagt, dass Sie mich suchen?«
»Nein. Bestimmt nicht.«
»Pardon. Ich …«
»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Aber lassen Sie sich mal untersuchen. Alles Gute.«
Mehr gibt es nicht zu sagen. Ich gehe zu Henry und setze mich auf den Beifahrersitz.
»War das der Mann, der nach mir gefragt hat?«
Henry sieht mich überrascht an.
»Nein. Sie haben mich ja nicht ausreden lassen. Es war kein Indianer, sondern ein Inder.«