22 Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota
Sonntag, 16. September – Mittwoch, 19. September
Am nächsten Tag brechen wir mit Verspätung auf.
Kurz vor vier Uhr morgens hält Palin vor einer der Hütten eine Rede, in der sie sagt, dass das Ganze ein Unglück wäre, dass Reverend John gewollt hätte, dass es eine Prüfung wäre, die uns auferlegt wurde, und so weiter. Die Rede ist tatsächlich irgendwie inspirierend, hauptsächlich wegen der Vermutung, es könnte irgendwen außer Palin auch nur im Geringsten interessieren, ob Reverend John Drei-bis-sechzehn-Jahre-wegen-Aufforderung-zur-Unzucht, wie Del und Miguel ihn inzwischen nennen, auf die Expedition mitkommt oder nicht.
Danach ist allen seltsam schwindlig, doch niemand ist davon begeistert, in zwei Stunden aufzustehen und Kanu zu fahren. Also paddeln wir erst gegen Mittag los – gerade mal anderthalb Stunden, bevor sich Reggie mit Sheriff Albin treffen soll. Aber das ist nicht mein Problem.
Die Flottille besteht aus elf riesigen flachbödigen Kanus, alle mit ernsten Guides Anfang Zwanzig im Bug und am Heck. Wo Reggie diese ganzen Leute auftreibt, die ihr Handwerk anscheinend verstehen, obwohl sie aus Orten wie Santa Fe stammen, bleibt mir ein Rätsel. Wir Fahrgäste sitzen uns jeweils zu zweit in der Mitte eines Bootes gegenüber, den Rücken an die mit Planen abgedeckte Campingausrüstung gelehnt.
Und kein einziges Mal in den drei Tagen teile ich mir diesen Platz zwischen dem Gepäck mit Violet. Wir haben Dels Hund dabei, obwohl Del und Miguel im CFS geblieben sind, um sich um den Laden zu kümmern, und zusammen mit Violet und Palins Verwandter Samsung bildet er unverzüglich ein Rudel. Violet und ich schlafen im selben kleinen Zelt, also werde ich wohl jede Nacht sechs Stunden mit einem Steifen verbringen und ihren Duft einatmen, doch als wir das Zelt zum ersten Mal aufbauen, fragt sie mich: »Können wir uns vielleicht einfach professionell verhalten?«
»Wie meinst du das?«, frage ich. Denn auf ein Stechen in der Brust reagiere ich anscheinend mit schlechten Witzen.[58]
»Ich weiß nicht. Wie die Hardy Boys?«
Das macht alles nur noch schlimmer.
Aufbau und Abbau sind kompliziert.[59] Keine Ahnung, warum ich dachte, bei einer Tour in die Wildnis bräuchte man nicht so viel Hightech-Ausrüstung wie beim Golfen oder bei der Konstruktion eines Rennwagens, aber ich hab mich geirrt. Und das hier ist eine Luxuskreuzfahrt: Reggies Guides bereiten uns auf Waschbenzinkochern täglich drei warme Mahlzeiten zu. Zwar nur gefriergetrocknete Sachen aus Folientüten, aber heutzutage gibt es ja auch gefriergetrocknete Hummercremesuppe.
Die Guides mit den sonnengebleichten Härchen an den Unterarmen übernehmen auch die Portagen. Einmal muss ich einem von ihnen die Schulter einrenken. Die Gäste sollen nicht mal paddeln, doch als die Guides zu dem Schluss kommen, dass wir zumindest nicht langsamer sind, lassen sie uns auch mal ran, um die Langeweile zu bekämpfen.
Ich hab damit kein Problem. Auf dieser Tour dürfte es noch neun Personen geben, die die Aufgabe haben aufzupassen, doch ohne festen Zeitplan – den haben nicht mal Palins Bodyguards, weil man in den Kanus so schlecht schlafen kann – macht uns das einfach nur selbstgefällig. Und das beginnt schnell: Palins Leute entdecken nicht mal das Meth-Lager, an dem wir am Nachmittag des ersten Tages vorbeikommen. Im Gegensatz zu Violet, Samsung und Bell.
Es ist nur klein, aber nicht weit vom Pfad entfernt, und Palins Leute hätten es nicht übersehen dürfen. Dort ist ein modernes, achteckiges Zelt aufgestellt. Dahinter, unter einer aufgespannten Plane, ein kaputter Campingtisch, die eine Seite auf einen Baumstumpf gestützt und auf der Tischplatte ein kleines Chemielabor. Da hat jemand aber seine Glasgefäße nicht ausgewaschen. An einem Baum in der Nähe lehnt ein Industrieventilator, der nirgends angeschlossen ist, sich aber langsam im Wind dreht. An den Ventilatorblättern sind Cola Zero-Flaschen befestigt.
Im Zelt stoßen wir – neben Körpergeruch, drei Schlafsäcken und einer großen Menge Lebensmittelverpackungen – auf eine leere Pappschachtel mit der Aufschrift »7,62 × 39«: Patronen für ein AK-47.
Alles an diesem Ort deutet darauf hin, dass man ihn nur verlassen hat, um zu warten, bis wir wieder weg sind. Palins Leute wollen am liebsten die ganzen Kochutensilien zerstören, damit die Besitzer woanders hingehen, doch ich bin eher für leben und leben lassen, denn ich halte es für keine besonders gute Idee, einen Haufen Junkies wütend zu machen, die uns in diesem Moment vielleicht im Visier haben. Grodys Leute stimmen mir zu. Auf der Lichtung geht es zu wie auf einer Tagung für Bodyguards.
Letztlich lassen wir das Meth-Lager unversehrt, vielleicht weil es Palins Leuten peinlich ist, dass sie es nicht entdeckt haben.
Dieser ganze Vorfall ruft mir Dylan ins Gedächtnis, und ich wünschte, ich hätte mich vor unserer Abreise stärker bemüht, rauszufinden, was aus ihm geworden ist.
Ich behaupte nicht, dass die Kanufahrt keine grandiosen Momente hat. Am Morgen des dritten Tages tauchen zwei Otter neben unserem Boot auf, die sich auf dem Rücken durchs Wasser schlängeln und mich wie eine Gnade Gottes anlächeln. Auf manchen der Bergrücken, die wir bei unseren Portagen überqueren, sieht man in allen Richtungen bis zum Horizont nur Bäume und Wasser. Ein paar Seen sind so groß, dass die Wellen Schaumkronen haben, und in dem dort wabernden Nebel kommt man sich vor wie beim Einfall der Wikinger in Avalon. Hier ein Lagerfeuer unterm Sternenhimmel, dort ein Feld voller Blumen, und immer wieder die verdammten Felsen und Bäume.
Fairerweise muss man sagen, dass es wahrscheinlich eine Seite der Boundary Waters gibt, die man nicht kennenlernt, wenn man in einer Gruppe von vierundvierzig Leuten unterwegs ist. Irgendwer hat sozusagen immer den Daumen auf dem Objektiv.
Palin scheint mir während der Fahrt genauso aus dem Weg gehen zu wollen wie ich ihr, doch sie scheint sich in der freien Natur auch richtig wohlzufühlen und mit den unbedeutenden Entbehrungen, denen wir ausgesetzt sind, gut klarzukommen. Genau wie Tyson Grody. Er ist richtig aufgedreht.
Fast alle scheinen gute Laune zu haben. Mit Leuten, denen ich ihre Blasen verpflastere, wie Mrs Fick, oder denen ich im Wald begegne, weil wir beide so tun, als müssten wir Wasser lassen, während wir in Wirklichkeit auf den GPS-Recordern, die wir nicht dabei haben dürften, Wegmarken setzen, wie Wayne Teng, sitze ich danach oft auf mehreren Etappen der Reise im selben Boot. Eingezwängt zwischen den Gepäckhaufen, sich ohne andere Gesprächspartner gegenübersitzend, erfährt man eine ganze Menge über einen Menschen.[60]
Mrs Fick erzählt mir eine Geschichte, die sie eigentlich für sich behalten wollte – wie sich herausstellt, aus gutem Grund –, und ich weiß zu schätzen, dass ich sie zu hören bekomme. Einer von Palins Leuten sagt mir, dass er und die anderen Kopfhörer mit Ringelschnur tragen, weil die Schnüre die Außengeräusche ableiten, damit sie nicht an ihr Ohr dringen. Dann erzählt er, dass es ein neueres Gerät gibt, das hinterm Ohr befestigt wird und die Geräusche direkt durchs Schläfenbein überträgt, damit sich im Gehörgang infolge des Plastikkopfhörers nicht ständig ein Ausschlag bildet, doch dieses Ding ist so teuer, dass es nur von echten Geheimdienstleuten benutzt wird. Und das sind diese Männer nicht. Er erzählt mir sogar, dass er früher mal beim Geheimdienst war, und auch die Geschichte höre ich mir gern an.
Aber was mich am tiefsten bewegt und worüber ich später am längsten nachdenke – in der Hoffnung, dass es mir manches von dem erklärt, was mir inzwischen zugestoßen ist –, ist die Geschichte, die mir Wayne Teng an dem Morgen mit den Ottern erzählt.