23 Lake Garner/White Lake Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota
Immer noch Mittwoch, 19. September
Als wir am Nordostufer des Lake Garner anlegen, eile ich mit meinem Rucksack sofort zum White Lake. Die Nacht senkt sich schnell herab – es ist zwei Stunden später als gestern und vorgestern beim Aufschlagen des Lagers –, und ich will nicht, dass irgendwer mich bedrängt. Nicht mal Violet. Ich will nur so viel an mein Vorhaben denken wie unbedingt nötig.
Hinter der Landzunge, die den nordöstlichen Zipfel des Lake Garner vom Südrand des White Lake trennt, erreiche ich den Beginn des schmalen, steinigen Strandes, der sich am Westufer des White Lake nach Norden zieht. Dort lege ich meine Sachen ab.
Alles ist schon dunkelgrau und voller Schatten. Der Wald am Strand steigt nach Norden steil an, bis zu den Granitfelsen hinauf, der White Lake liegt am Grund einer zickzackförmigen Spalte. Wie angekündigt, ist der Ort ziemlich trostlos.
Ich habe gerade meinen Neoprenanzug angelegt, als Surfwise, Palins Verwandte, um die Ecke kommt.
»Wollen Sie schwimmen gehen?«, fragt sie überrascht.
»Ja«, sage ich.
»Im White Lake?«
»Ja.«
»Warum?«
Ich antworte mit Violet Hursts Worten: »Weil da die Ungeheuer sind.«
Sie nickt verwirrt. »Haben Sie Bell gesehen?«
»Nein. Warum?«
»Er war bei mir und Violet im Boot, und kurz bevor wir anlegten, ist er rausgesprungen und in den Wald gelaufen, so wie Sie.«
»Du meinst, er ist hierher gelaufen?«
»Nein, direkt den Berg rauf.«
Also parallel zum White Lake, aber über die Felswand, statt unten entlang, wo wir stehen. »Ich würde mir keine Sorgen machen«, sage ich. »Der kommt mit Sicherheit wieder. Der Hund ist dumm, aber er scheint euch zu mögen.«
Aber Surfwise wirkt besorgt. »Könnten Sie trotzdem nach ihm Ausschau halten?«
»Na klar.«
»Danke.«
Sie geht, und ich schnappe mir meine Schwimmflossen und die Taschenlampe.
Das Wasser ist schweinekalt, und durch meine Taucherbrille, im Strahl der Taschenlampe, sieht es aus wie Gemüsesuppe. Überall reglose Partikel. Außerhalb des Taschenlampenstrahls ist nichts zu erkennen. Das reinste Schwarz.
Ich sollte aus dem Wasser steigen und mich anziehen, bevor Palins Verwandte Samwise allen erzählt, dass ich hier bin. Ich fange schon an, nach Dingen zu treten, die gar nicht da sind, wie ich im Schein der Taschenlampe erkennen muss. Der Schlitzerfilm-Soundtrack meines durch den Schnorchel verstärkten Atems ist nicht gerade hilfreich.
Aber erst will ich mir etwas ansehen. Ich hebe den Kopf aus dem Wasser und wate zur Landzunge hinüber.
Da sich Charlie Brisson hinsichtlich seines Beins als völlig unzuverlässig erwiesen hat, habe ich mich gefragt, wie zutreffend er die Landzunge beschrieben hat. Ziemlich genau, stelle ich überrascht fest, als ich dort ankomme. Sie besteht nur aus glitschigen Baumwurzeln, und die Erde und das Gras darauf sehen aus wie eine Bürstenfrisur. Durch meine Taucherbrille kann ich sehen, dass sich die Wurzeln unter Wasser weiter ausbreiten und vermutlich bis irgendwo unter oder hinter mir in den White Lake reichen.
Ich nehme die Taschenlampe in die linke Hand und ziehe mich mit der rechten über den Wurzelwall, als wäre er eine waagerechte Unterwasserleiter, um auf die andere Seite der Landzunge zu gelangen.
Im Strahl der Taschenlampe blitzen kleine silberne Fische auf, die von dem Moos fressen, das wie ein feiner grüner Nebel aussieht. Doch keiner von ihnen kommt aus dem schützenden Wurzelwerk hervor. Ich frage mich, ob sie zwischen den Wurzeln durch bis zum Lake Garner schwimmen können.
Plötzlich fängt die Taschenlampe vor mir etwas Helles, Großes ein.
Es ist eine orangerote Granitwand. Verwirrt richte ich mich auf und trete Wasser.
Ich habe die ganze Breite des White Lake durchschwommen, bis zur Felswand auf der anderen Seite. Zwanzig Meter vorher bin ich am Ende der Landzunge vorbeigekommen – zumindest schien es von Land aus ihr Ende zu sein. Doch unter Wasser erstreckt sie sich bis zur anderen Seite.
Ich tauche wieder unter. Die im Wasser liegende Landzunge befindet sich etwa fünfzehn Zentimeter unter der Oberfläche. Als ich den Strahl der Taschenlampe darüber gleiten lasse, sehe ich, dass das Wurzelgewirr hier genauso breit wie am Ufer ist.
Das heißt, der White Lake und der Lake Garner teilen sich zwar dasselbe Wasser, sind aber tatsächlich getrennt. Vielleicht nicht für die winzigen Fische, die durch den Sperrwall schwimmen, doch mit Sicherheit für jedes Tier, das groß genug ist, um einen Menschen zu fressen. Wenn sich so eine Bestie auf dieser Seite des White Lake befindet, muss es ihr vorkommen, als wäre sie in einem Weidenkörbchen gefangen.
Gruselig. Aber wenigstens kann ich jetzt von hier verschwinden. Während ich dieselbe Strecke zurückschwimme, die ich gekommen bin, versuche ich, so selten wie möglich mit der Taschenlampe nach meinen Füßen zu leuchten.
Trotzdem tue ich es immer wieder, und einmal sehe ich etwa einen halben Meter von meinen Knöcheln entfernt eine große graue Flosse aufblitzen. Die Haut wirkt matt wie Wildleder, sieht aber trotzdem schlammig aus.
Meine Taucherbrille ist weg. Mein Schnorchel ist weg. Meine Taschenlampe ist weg. Ich schwimme einfach, als würde ich von einem Gebäude stürzen. Atme nicht mal. Überlege, ob ich mich mit den Händen über die im Wasser liegende Landzunge ziehen oder lieber warten soll, bis ich das richtige Ufer erreiche.
Dann bin ich auch schon auf dem Hang der Landzunge – der echten, die oberhalb des Wassers liegt –, streife die Schwimmflossen ab, hechte die Leiter aus Wurzeln rauf, obwohl mir völlig klar ist, dass ich hart in dem Gewirr aus Dornen lande, wenn ich an Schwung verlieren oder eine Stufe nicht treffen sollte. Jedenfalls bin ich heilfroh, aus dem Wasser draußen zu sein. Ich erreiche das Gras. Einen Baumstamm. Greife nach ihm und halte mich daran fest.
Auge in Auge mit Violet, die auf die Landzunge gekommen ist, um mich zu suchen.
»Lionel, was ist los?«
Ich drehe mich wieder zum Wasser um. Nichts. Es ist noch so hell, dass man die Wasseroberfläche sehen kann, doch da draußen passiert nichts, was sich nicht mit meiner durchgeknallten Zwanzig-Meter-Krauleinlage erklären ließe.
»Hast du’s gesehen?«, frage ich.
»Was gesehen?«
Ich antworte nicht, sondern lasse den Blick übers Wasser schweifen.
»Oh, Scheiße«, sagt sie.