9 Bill Rom Public Library, Ely, Minnesota
Freitag, 14. September
»Ich kann mich nicht mehr an die Einzelheiten erinnern«, sagt die Bibliothekarin und greift zum Telefon, »aber ich kenne jemanden, der Bescheid weiß. Warten Sie einen Moment.«
Violet, mit Sonnenbrille, lehnt am Tresen. Ich habe sie früh geweckt und in ein Lokal hier in Ely geschleift, das, ganz ohne Scheiß, Moos au Chocolat heißt.
Ely ist ganz anders als Ford. Die Hauptstraße sieht aus, als gehörte sie zu einem Wintersportort, jede Menge Andenkengeschäfte und Bioläden. Zwei Blocks entfernt gibt es eine Kreuzung mit vier von der Arbeitsbeschaffungsbehörde gebauten Bürogebäuden aus Granit, von denen eins die öffentliche Bücherei beherbergt.
Bis jetzt war die Bücherei noch nicht besonders hilfreich. Wir haben alte Ausgaben der beiden Wochenzeitungen von Ely am Computer gelesen, doch was Ford betrifft, sind beide seltsam zurückhaltend. Ich weiß nicht, ob sie glauben, Ford sei zu abgelegen, um interessant zu sein, oder ob das, was dort passiert, nicht so gut zu den Hochzeiten, den Footballspielen der Highschools und den Leserbriefen passt, die das restliche Material der Zeitungen bilden. Jedenfalls wird Ford kaum erwähnt.
Immerhin haben wir alle vier Todesfälle bestätigt gefunden – Autumn Semmel und Benjy Schneke »infolge eines Bootsunfalls« im Juni vor zwei Jahren und fünf Tage später Chris Semmel junior und Pfarrer Nathan Podominick »allem Anschein nach bei einem Jagdunfall«.
Und interessanterweise haben wir erfahren, dass die University of Minnesota mal erwogen hat, ein Labor für Hochenergiephysik im Ford-Bergwerk zu errichten. Das könnte den Aufenthalt der Wissenschaftler erklären, obwohl U Minn anscheinend zur Vernunft kam und sich stattdessen für das Soudan-Bergwerk entschied.
Darüber hinaus schien es eine gute Idee zu sein, die Bibliothekarin zu fragen.
»Carol?«, sagt sie am Telefon. »Hier spricht Barbara. Ist der Sheriff da? Hier sind zwei Leute, die was über den White Lake wissen wollen.«
»Das ist wirklich nicht nötig«, werfe ich ein.
Die Bibliothekarin hält die Hand vor die Sprechmuschel. »Keine Sorge, die haben genügend Zeit.«
»Nein, wirklich …«
Aber sie hört mir nicht zu. Sie nickt und sagt »Hm hmm, hm hmm« zu der Frau, mit der sie telefoniert. Sie hält die Hand wieder vor die Sprechmuschel. »Carol sagt, Sie sollen rüberkommen. Wie lauten Ihre Namen?«
»Violet Hurst und Lionel Azimuth«, sagt Violet.
»Die beiden heißen Violet Hurst und Lionel Azimuth«, sagt die Bibliothekarin. »Ich schicke sie sofort rüber.«
»Und die Tour wird von Reggie Trager veranstaltet?«, fragt Sheriff Albin.
Albin ist Anfang dreißig, hat einen kleinen, knorrigen Kopf und spricht ganz langsam, vielleicht weil seine Konzentration durch die gerade laufende hocheffektive Unsinnentlarvungs-Software beansprucht ist. Seit Carol uns zu ihm gebracht hat, hat er natürlich nichts anderes getan, als uns auszuquetschen. Und unsere Namen zu notieren.
»Klingt das so unwahrscheinlich?«, frage ich, obwohl ich mich bemüht habe, so still zu bleiben, dass Albin keine Notwendigkeit sieht, sich näher mit mir zu beschäftigen, wenn wir gegangen sind.
Er zuckt nur leicht mit den Schultern. »Wer ist Ihr Auftraggeber?«
»Das dürfen wir nicht sagen«, erwidert Violet mit der Furchtlosigkeit der Gerechten. »Es ist eine große private philantropische Organisation.«
So viel ich weiß, stimmt das, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass mein Scheck von einer Firma stammt, in deren Namen das Wort »Technologies« steht.
Albin überlegt eine Weile und beschließt, nicht weiter nachzuhaken. »Hat Ihr Auftraggeber Geld an Reggie Trager gezahlt?«
»Nein. Zumindest noch nicht«, sagt Violet.
Man kann praktisch sehen, dass Albin schon überlegt, ob Reggies Treiben im Rahmen der Bekämpfung krimineller Vereinigungen strafbar sein könnte, und wenn ja, ob er dann den Staatswalt informieren muss. Der dürfte ihm dafür nicht besonders dankbar sein.
»Und hat er explizit gesagt, was für ein Tier Sie am White Lake finden sollen?«
»Nein«, sagt Violet.
»Obwohl Ihr Auftraggeber eine Paläontologin geschickt hat.«
»Ich bin die einzige biowissenschaftliche Forscherin in seinen Diensten«, sagt Violet. »Ich glaube, ich bin eher deshalb hier.«
Albin blickt mich an.
»Ich betreibe keine Forschung«, sage ich. Und das stimmt ja auch.
Dann betrachtet er seine Notizen. »Und es handelte sich um Briefpapier von CFS. Wie lange soll diese ›Tour‹ dauern?«
»Sechs bis zwölf Tage«, sagt Violet.
»Sechs bis zwölf Tage?«
»Wo liegt das Problem?«
»Das ist bloß viel Zeit für eine Kanutour mit Leuten, die sich im Kanufahren nicht auskennen.«
»Ich glaube, wir sind meistens an Land«, sagt Violet.
»Hat Reggie das gesagt?
»Nein …«
»Dann würde ich das bezweifeln. Wissen Sie, wo der White Lake ist?«
»Nein«, sagt Violet.
Albin geht zu einem Waffenschrank, in dem sich jedoch statt Gewehren nur Karten befinden. Reizend. Er nimmt eine heraus und rollt sie auf seinem Schreibtisch aus.
Es ist eine Fischer-Höhenkarte. Gelbes Land, blaues Wasser. Die habe ich manchmal in meinem früheren Metier benutzt.
Aber auf der hier ist verdammt viel Blau. Wie Löcher in einem Schwamm.
»Das hier ist der Lake Garner«, sagt er und zeigt auf ein längliches waagerechtes blaues Oval. »Und das hier ist der White Lake.«
Der White Lake sieht aus wie ein Blitzstrahl, der nordöstlich an den Lake Garner grenzt. Zusammen sehen die beiden Seen aus wie ein Notenzeichen mit gezacktem Hals.
»Der White Lake sieht so schmal aus«, sagt Violet.
»Das liegt daran, dass der Lake Garner ziemlich groß ist«, erwidert Albin. »Da, wo der White Lake an den Lake Garner grenzt, ist er ungefähr hundert Meter breit, aber nach Norden hin wird er breiter.« Albin zeigt auf die südwestliche Ecke der Karte. »Und Ford liegt drei Karten weiter in dieser Richtung.«
»Wie lange dauert die Fahrt normalerweise?«, fragt Violet.
»Die kann zwei Tage, aber auch eine Woche dauern«, sagt Albin. »Kommt drauf an, welche Portagen man benutzt.«
»Portaschen?«
»Portaaasch«, sagt er und spricht es so aus, dass es sich auf fromage reimt. »Bloß franko-kanadisch statt amerikanisch.«
»Ich …«, beginnt Violet und sieht mich an.
»Keine Ahnung«, sage ich.
Sheriff Albin lässt frustriert den Kopf sinken. »Okay. Ich erkläre Ihnen, was Portagen sind. Sie sind der Schlüssel zu den Boundary Waters.«