Epilog
Gellen, North Dakota
Acht Monate später
Ich mache in dem Sessel am Fenster gerade das Bilderrätsel im New England Journal, als die erste Kugel aufs Glas trifft. Das Bild zeigt zwei offene Hände, aus denen Hörner wachsen. Noch habe ich die Lösung nicht.
Dank des Druckschalters unterm Polster geht das Licht aus, bevor ich am Boden lande.
Der zweite Schuss versprüht ein wenig Glas im Raum, das heißt, der Heckenschütze hat eine schwerere Waffe als erwartet – eine Steyr .50 vielleicht, wie sie Österreich an Iran verkauft hat. Denn mit Glas meine ich natürlich in Stoßdämpfer gefasstes, 66 Millimeter starkes Kevenex-Laminat.
Das Fenster ist nicht mehr zu retten. Egal. Ich robbe schnell an dem leuchtenden Eisenoxidband zwischen mir und der Falltür entlang. Und die Kugeln können nur geradeaus kommen, da die Jalousie aus in Boden und Decke verankerten Stahlleisten besteht. Das soll Heckenschützen dazu verleiten, die Ansitze einzunehmen, die ich auf den Felsen gegenüber dem Haus für sie vorbereitet habe.
Ich gleite die Luke hinunter. Schließe die Falltür hinter mir – sie gehört zu einem Safe von Nationwide und soll dem Aufschlag eines Leichtflugzeugs und zehn Stunden chemisch beschleunigtem Feuer standhalten. Ich steige auf den Schlitten.[72]
Der Betontunnel, den Rec Bills angeblich nicht ausfindig zu machendes Bauunternehmen mir angelegt hat, ist etwa zweihundert Meter lang. Der Bunker am anderen Ende ist gerade so hoch, dass man drin sitzen kann: mein Geronimo-Poster reicht vom Boden bis zur Decke. Ich schließe die zweite Luke und ziehe an der Schnur für die Monitoren.
Beide Heckenschützen sind, wo sie sein sollen. Sechs andere paramilitärische Freaks rücken von den »Flanken« her aufs Haus vor, um möglichst lange aus dem Schussfeld ihrer eigenen Scharfschützen zu bleiben. Vielleicht sind noch mehr da, aber die Firmen, die solche Loser ausbilden, stehen auf Achtergruppen, weil auch ein Navy-SEAL-»Bootsteam« normalerweise acht Mann hat und weil mehr sich eher gegenseitig behindern. Und in die Haare geraten. Killer wird man aus verschiedenen Gründen – psychische Abnormität, militärisches Training gepaart mit der Bereitschaft, für Geld alles zu machen, das Bedürfnis, sich wie James Bond zu fühlen –, aber soziale Kompetenz ist weniger gefragt.
Auf dem Breitbandmonitor sehe ich, dass sie Infrarot-Knicklichterketten umhaben, um sich von ihrem Ziel, sprich mir, zu unterscheiden. Das ist gut. Ich habe auch ein paar, direkt neben der Dose UV-reflektierender Sprühfarbe, die sie ebenfalls hätten benutzen können. So aber kann ich schon mal meine Kampfweste anziehen.
Die bei weitem beste Neuigkeit ist der Hubschrauber. Er geht direkt über dem Haus in Stellung, schön auf dem Monitor, so postiert, dass er mich beschießen kann, wenn ich aus irgendeiner Tür rauskomme. Hubschrauber und die Leute, die sie fliegen, sind teuer. Und es ist mehr als genug Semtex im Haus, um ihn runterzuholen.
Aber dafür ist es noch zu früh. Auch noch, um die Heckenschützenstellungen hochzujagen. Die Freaks haben noch keine der Antipersonenminen ausgelöst. Erst wenn sie das tun, lege ich die restlichen Schalter um, dann gehe ich raus und jage die Nachzügler. Natürlich erst, wenn ich mit den diversen Spektrallampen, die in den Bäumen hängen, ihre Nachtsichtbrillen ausgeglüht habe.
Es dürfte also ein Massaker geben, und das ist bedauerlich. Andererseits habe ich niemanden hergebeten. Ich habe lediglich unter einem falschen Namen, aber mit meinem echten Daumenabdruck und dieser Adresse eine Zulassung als Notar beantragt, so wie es Kriminelle manchmal machen, um an einen Waffenschein zu kommen. Dabei dachte ich schon, das wäre vielleicht zu subtil.
Lässt sich das, was ich vorhabe, rechtfertigen? Schwer zu sagen. Zählt man Teng mit, hat McQuillens Treiben fünf Menschen das Leben gekostet. Mein Ausflug nach Minnesota war das Ende für Dylan Arntz, Debbie Schneke, vier von ihren Jungs und acht Typen von Locano und hätte beinah auch noch Violet Hurst, Sheriff Albin und Albins Hilfssheriff umgebracht. Meine Schuld, dass ich da reingeraten bin, klar, aber damit so etwas nicht noch mal passiert, kann ich nur entweder weiter weglaufen – das heißt, nie mehr unter egal welchem Namen als Arzt arbeiten, die Öffentlichkeit meiden, mich mit niemandem zusammentun und dabei auf entschieden mehr Glück hoffen als letztes Mal – oder mich wehren. Soll ich warten, bis ich mit dem Rücken zur Wand stehe? Vielleicht tu ich das schon. Die Wand ist meistens, wo man sie sich denkt.
Ein Grund, das hier nicht durchzuziehen, wäre – abgesehen davon, dass ich gerade elf Jahre lang mit großem Erfolg versucht habe, niemanden umzubringen und die alten Untaten wiedergutzumachen –, dass es mir wahrscheinlich gefallen wird. Weil es mir jetzt schon gefällt.
Für die Tricks, die ich gleich vom Stapel lasse, müsste ich mich schämen, und ich schäme mich wirklich dafür. Es macht aber auch einen Heidenspaß, sie anzuwenden, und so zu tun, als wäre es anders, ändert nichts an dem, was passieren wird.
Ich lege meine Hand auf die Schalter.
Was soll ich lügen?