25 Lake Garner/White Lake Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota

Donnerstag, 20. September

Nachts um halb vier habe ich die schweißtreibende Hitze in meinem Schlafsack satt und beschließe aufzustehen. Violet kehrt mir immer noch den Rücken zu.

Draußen im Schwarz-Weiß-Fernseher-Mondschein herrscht dichter Bodennebel, wie ich ihn nur aus Diskos oder Vampirfilmen kenne. Er liegt über dem ganzen Lager und dem Lake Garner, verströmt von der warmen Erde und vom Wasser. Der Mond ist wieder eine schmale Sichel, wie bei meinem Gespräch mit Reggie auf seiner Veranda. Aber jetzt zeigt er wohl in die andere Richtung, falls das beim Mond so abläuft.

Ich höre leise Stimmen und sehe auf der anderen Seite des Zeltplatzes rote Glut, also schleiche ich mich zum Spaß an Reggie und einem von Palins Sicherheitsleuten vorbei, die darüber diskutieren, warum Waschbären die einzigen wirklich reinlichen Tiere sind.

»Und warum heißt der Thunfisch Thunfisch?«, fragt der Bodyguard.

»Sie haben recht, Junge«, sagt Reggie. »Es gibt ja auch keine Thunvögel.«

Nur der Ordnung halber: Ich habe nicht gesehen, dass der Typ an Reggies Joint zieht.

Kurz bevor ich den Wald betrete, sehe ich noch jemand anderen und will mich schon auf den Boden werfen, doch es ist bloß einer von Wayne Tengs Bodyguards, der mich kommentarlos beobachtet.

 

Als ich auf der Landzunge stehe, die sich wie ein Arm in den von beiden Seen aufsteigenden Nebel streckt, beginnt es wieder zu nieseln. Ich weiß zwar nicht, was für eine beschissene Stell-dich-deinen-Ängsten-Übung das werden soll, aber solange ich nicht wieder in den Neoprenanzug schlüpfen muss, habe ich nichts dagegen. Ich kann nicht mal die Wasseroberfläche erkennen. Und wenn die Regenwolken den Mond verdecken, werde ich gar nichts mehr sehen.

Doch ich höre was.

Ein Brummen. Ganz leise, nicht viel mehr als eine Veränderung des Drucks im Gehörgang, als würde in der Wohnung nebenan der Kühlschrank anspringen.

Doch ich bin mir ziemlich sicher, dass es kein Kühlschrank ist. Ich folge dem Strand nordwärts am Rand der sich verbreiternden Schlucht des White Lake entlang. Der Strand ist schmal und uneben, aber selbst im Nebel kommt man mühelos voran, weil sich daneben eine Granitwand erhebt.

Das Brummen wird allmählich lauter. Nach einer Weile komme ich zu der Stelle, wo die Felswand und die ganze Schlucht nach rechts schwenken und sich meinem Blick ein noch unbekannter Teil des Sees darbietet. Der Schemen, den ich darauf sehe, muss ein Boot sein. Glitzerndes Metall im wabernden Nebel und ein schwacher grüner Lichtschein.

Natürlich habe ich mein Fernglas und mein Nachtsichtgerät im Zelt liegenlassen.

Das Brummen verstummt. Das Boot treibt nur noch auf dem Wasser.

 

»Was machst du da?«, fragt Violet, als ich meinen Rucksack durchsuche. »Hast du Bell gefunden?«

»Scht. Nein. Auf dem White Lake ist ein Boot.«

»Was?« Sie richtet sich auf den Ellbogen auf. »Was macht es da?«

»Keine Ahnung. Ich konnte es nicht richtig erkennen.«

»Du willst noch mal hin?«

»Ja.«

»Warum hast du mich nicht geweckt?«

»Hab ich doch.«

»Ich meine, mit Absicht.«

»Weil wahrscheinlich wieder auf uns geschossen wird«, sage ich.

Violet tastet nach ihren Kleidungsstücken. »Ich komme mit.«

»Es regnet.«

»Wen interessiert das schon?«

»Wir müssen uns beeilen.«

»Gut. Dann nehme ich kein Bad, sondern dusche nur. Was ist nur mit dir los?«

Eine ganze Menge. Ich beobachte, wie sie den Reißverschluss ihres Schlafsacks öffnet und noch im Liegen die Jeans über die Gänsehaut an ihren Schenkeln zieht. Die Hose bleibt kurz an ihrem Venushügel hängen, und beim Zuknöpfen sehe ich ihren nackten Bauch.

Als ich ihr ins Gesicht blicke, sehe ich, dass sie mir dabei zusieht, wie ich sie beobachte. Doch ihr Blick ist nicht streng.

Da bleibt einem nicht viel zu sagen. Ich öffne den Reißverschluss des Zelteingangs. Inzwischen regnet es in Strömen.

 

Es ist ein großes Schlauchboot, etwa sechs Meter lang, in der Mitte ein Sockel für das Steuerrad und metallene Stützstreben, die nach oben und über die Seiten ragen wie ein Baukran. Bei dem Nebel fällt es mir auch mit dem Fernglas schwer, nähere Einzelheiten zu erkennen. Meine Digitalkamera, die ich ebenfalls mitgebracht habe, ist nutzlos.

»Hier«, sagt Violet und reicht mir das Nachtsichtgerät. Der Regen ist so laut, dass wir unbesorgt miteinander reden. »Er schaufelt immer noch Pulver aus dem Sack ins Wasser.«

Als Erstes suche ich mit dem Nachtsichtgerät den Strand hinter uns ab. Als wir uns aus dem Lager geschlichen haben, habe ich Violet aufgefordert, mich an der Hand zu fassen, damit alle, die uns sehen, glauben, wir wollten irgendwo vögeln. Doch sie hat mich darauf hingewiesen, dass das nicht unbedingt jeden abschrecken würde.

Jedenfalls habe ich mich weder wie ein Mistkerl noch wie ein Sechsjähriger gefühlt, weil ich jemanden bitten musste, mich an der Hand zu fassen.

Ich blicke mit dem Nachtsichtgerät auf den See hinaus. Im Infrarotlicht sind der Regenschauer und der Nebel noch undurchdringlicher, aber ich kann sehen, dass vorn am Boot – wie die Galionsfigur am Bug eines Schiffes – ein dicker Reifen mit starkem Profil sitzt und hinten an beiden Ecken identische Reifen befestigt sind. Neben dem vorderen Reifen befindet sich etwas, das sehr nach einer geladenen Harpunenkanone aussieht. Am Heck ist ein großer Motor montiert, der hochgeklappt ist, und ein wesentlich kleinerer, dessen Schraube noch im Wasser liegt. Das muss der Elektromotor sein.

»Es ist ein Amphibienboot«, sage ich.

»Ja. Tut mir leid, ich dachte, das könnte man durchs Fernglas erkennen. Was macht er gerade?«

»Ich kann ihn nirgends sehen.«

Über der Steuerungsanlage ist ein greller Lichtschein, vermutlich von einem Sonardisplay, aber ich sehe den Mann erst, als er sich zwischen dem Ruder und einem Behälter am Heck aufrichtet, der wie eine große eingebaute Kühlbox aussieht. Er hält etwas in der Hand, als wollte er kugelstoßen.

»Jetzt sehe ich ihn«, sage ich.

»Kannst du sein Gesicht erkennen?«

»Nein. Er steht auf der anderen Seite des Bootes und kehrt uns den Rücken zu.« Und außerdem trägt er genau wie Violet und ich und wahrscheinlich auch alle anderen, die zur Zeit in Minnesota auf den Beinen sind, einen Anorak mit Kapuze. Wenigstens wissen wir, was er gerade hört: die Regentropfen, die auf seine Kapuze fallen.

Ich suche mit dem Nachtsichtgerät noch mal den Strand ab und reiche es Violet.

»Jetzt hängt er was an einen großen Haken, der mit einer Leine an dem Ding befestigt ist, das über die Bootswand ragt«, sagt sie kurz darauf. »Ich glaube, es ist ein Stück Fleisch.«

Wenig später höre ich trotz des prasselnden Regens den Motor der Winde. Er ist lauter als der Elektroaußenborder.

Nach einer Weile reicht mir Violet das Nachtsichtgerät zurück, und ich sehe, wie sich der Mann aufrichtet und zu uns umdreht.

An der Stelle, wo sein Gesicht sein müsste, leuchtet ein greller Lichtstrahl.

»Scheiße!«, sage ich und stopfe die Vorderseite des Nachtsichtgerätes in meine Jacke. Aber ich weiß, dass es zu spät war.

»Was ist?«

Ohne das Nachtsichtgerät herrscht dort draußen nur Finsternis. Das Licht, das vom Gesicht des Typen ausstrahlt, ist nicht zu sehen.

»Er trägt eine aktive Infrarotbrille«, sage ich. »Dieselbe Technik, die wir benutzen. Er kann das Licht sehen, das unser Nachtsichtgerät ausstrahlt.«

»Und kann er …?«

»Ja. Wahrscheinlich sieht er uns gerade an.« Ich halte das Nachtsichtgerät wieder ans Auge.

Er starrt uns direkt an, sein Gesicht immer noch grell wie ein Leuchtturm. Aber jetzt hält er ein Gewehr in der Hand.

Ein Classic Remington 700, mit großem Zielfernrohr und Regenschutz. Ich behaupte zwar nicht, dass Chris junior und Pfarrer Podominick mit diesem Gewehr erschossen wurden, aber so ein ähnliches war es eindeutig.

Das ist offenbar der Moment, in dem wieder auf uns geschossen wird. Wenn das Gewehr ein Nachtsicht-Zielfernrohr hat, dann wird der Lauf zum Wald, bei dem sich unsere Silhouetten auf der kahlen Felswand abzeichnen, ein langes Vergnügen. Vermutlich wäre es sinnvoller, in den See zu springen und zu dem Boot zu schwimmen, während Violet so lange wie möglich unter Wasser bleibt.

Doch der Mann legt das Gewehr nicht an. Er hält es bloß vor dem Körper, als wollte er es mir zeigen oder als wäre er unschlüssig. Dann wirft er es vorn ins Boot und geht in die andere Richtung, um den großen Motor runterzuklappen.

»Was macht er?«, fragt Violet.

Ich gebe ihr das Nachtsichtgerät. »Er macht sich aus dem Staub.«

In der schmalen Schlucht klingt der Benzinmotor wie eine Harley. Ein tiefes Tuckern, das auch noch zu hören ist, als sich andere, höhere Töne darüberlegen, das Boot scharf wendet und, die Leine mit dem Haken hinter sich herziehend, davonfährt.

Als plötzlich eine Taschenlampe aufleuchtet und die anderen den Strand entlangkommen, ist das Boot schon hinter der nächsten Biegung verschwunden.

»Was zum Teufel war das?«, fragt Reggie.

»Auf dem See ist ein Boot«, sagt Violet.
 Sein Kielwasser schwappt noch in unsere Schuhe.