Anlage J: Ford, Minnesota

Eine Stunde vorher[70]

»Trottelowski!«, schreit der Feldwebel. »Reißen Sie sich zusammen!«

Dylan Arntz weiß, dass er eine komische Art hat, mit sich zu schimpfen. Die hat er schon, seit er als Kind bei einem Freund zu Hause Der Soldat James Ryan gesehen hat.

Es ist aber noch komischer, als man meint. Der knallharte Feldwebel, der ihn in seiner Vorstellung unentwegt anbrüllt, sieht nicht wie einer aus dem Film aus. Er sieht aus wie Dylans Dad, soweit sich Dylan an den erinnert. »Lieutenant Pat Freudianek«, meint der Sergeant gern dazu. »Unter dem Drecksack hab ich in Ortona gedient.«

Jetzt steigt der Sergeant Dylan gerade aufs Dach, weil er mit seinem Fahrrad an der schmierigen Backsteinwand der Unterführung am Highway 51 lehnt, eine Zigarette raucht und daran denkt, dass hier für ihn der Scheideweg des Lebens war.

Etwa neun Meilen hinter ihm liegt die Walden L. Ainsworth High School mit der Englischlehrerin Mrs Peters und dem Geschichtslehrer Mr Terbin, der auch das Schachteam trainiert. Etwa zwei Kilometer hinter ihm wohnen seine Mutter und sein Stiefvater. Und drei Kilometer vor ihm, an der Rogers Avenue, liegt Debbie’s Diner.

Aber die größere Landkarte hat sich verändert. Nicht, weil Debbie ihn hat windelweich prügeln lassen, obwohl der Geier weiß, wohin das geführt hätte, wäre Caveman Doctor Cop nicht aufgetaucht. Sondern weil sie ihn am Tag zuvor nach Winnipeg geschickt hatte.

Winnipeg hat ihn umgehauen. Die Stadt war ein einziger Fantasy-Park, voller vernünftiger und doch nicht einschüchternder Menschen. Riesengroße alte Bankgebäude wie bei Dickens, aber auch eine Flusspromenade.

Dylan versucht sich vorzustellen, wie die Leute in Ford eine Seepromenade bauen. »Was gibt’s zu lachen, Clownarini?«, will der Sergeant wissen.

Dylan möchte für immer dort sein. Wenn nicht in Winnipeg, dann in einer ähnlichen Stadt, in den USA oder sonstwo. Jeder in Winnipeg war nett zu ihm, sogar obwohl er Matt Wogun dabeihatte. Sogar Wajid, der Arsch, der ihm das Pseudoephedrin verkauft hat, war okay. Ein bisschen hochnäsig zwar, und er wollte sie nicht bei sich übernachten lassen, aber deshalb ist er noch kein Scarface.

Die Mädchen in der Bar genauso. Sie wollten zwar Stoff, aber sie haben nur gefragt: »Weißt du, wo wir was herkriegen?« Und sie waren alle gesund und freundlich, als ob sie vom Sonnenschein reden. Dylan hat einen Steifen, wenn er nur daran denkt. In so einer Stadt könnte man leben.

Man müsste sich nur überlegen, wie man hinkommt. Ob man zurück zu Debbie geht in der Hoffnung, dass sie einen wieder nach Winnipeg schickt statt einen umzubringen, und sich dann absetzt, oder ob man die Highschool zu Ende macht und dann als rechtschaffener Bürger hinzieht. Vielleicht sogar zur kanadischen Armee geht, falls die eine haben.

Armee lieber doch nicht, überlegt Dylan. Das Letzte, was er gebrauchen kann, sind zwei Sergeants.

Zwei Möglichkeiten blieben. Schwere Entscheidung. Vielleicht sollte er Dr. McQuillen fragen.

Vor ihm kommen zwei schwarze Geländewagen aus dem Highway-Kreisverkehr und halten hintereinander an der Ampel zur Rogers Avenue. Dylan sieht sie zwar, beachtet sie aber nicht weiter, bis die Ampel umspringt und sie stehenbleiben.

Da tritt er aus dem Schatten der Unterführung und steigt die Böschung hinauf, damit er sie besser sehen kann.

Der Fahrer des ersten Geländewagens steigt aus. Ganz in Schwarz, kahlgeschoren, Tattoos. Eine kleinere Ausgabe von Dr. Neanderthal. Der Typ wartet darauf, dass der Fahrer des zweiten Wagens die Scheibe runterdreht, und lässt sich dann eine Karte von ihm geben. Kehrt zu seiner Karre zurück und biegt auf die Rogers Avenue.

Was die auch vorhaben, Dylan weiß, dass es für Debbie nichts Gutes bedeutet. Sprich, er muss sich ganz schnell überlegen, was er macht.

 

»Was willst du, Schleimer?«, sagt der Klotz, der abnimmt.

Dylan steht in einem Münztelefon vor dem Pizza Grinder, dem alten Backsteinrestaurant an der Highwayausfahrt. Da war er als Kind ein paarmal drin.

»Brian, ich muss Debbie sprechen. Und zwar sofort.«

»Was ist denn so dringend?«

»Dass sie dich umbringen lässt, wenn du mich nicht gleich durchstellst und sie erfährt, weshalb ich anrufe.«

»Ja, klar …«

Aber Brian besinnt sich, und fünf Sekunden später ist Debbie dran.

»Dylan«, sagt sie. Sanft, als ob sie will, dass er zurückkommt. Ob zum Sterben oder um nach Winnipeg geschickt zu werden, weiß man nicht.

»Debbie, ich habe ein paar Typen in Geländewagen gesehen, die auf dem Weg zu dir sind.«

»Wann?«

»Jetzt gerade. Sie kamen vom Highway.«

»FBI

»Weiß ich nicht. Einer hatte Tattoos am Hals.«

»Die Sinaloa-Leute.«

»Nehm ich an.«

»Danke, Dylan. Bitte komm wieder her.«

»Mach ich.«

Als Dylan auflegt, hört er Debbie nach hinten rufen: »Aufwachen! Die Sinaloa-Leute kommen!«

Er nimmt sein Rad von der Wand. Fragt sich, warum er ihr gerade bestätigt hat, es handele sich um die Sinaloa-Leute.

Sie sahen nicht aus wie die Typen aus Sinaloa, die Dylan ins Restaurant hat kommen sehen. Die waren viel kleiner gewesen und kamen ihm immer vor, als hätten sie viel zu lange nicht geschlafen.

Warum hat er also gesagt, sie wären’s?

»Augen geradeaus, Ambivalenski!«, ermahnt ihn der Feldwebel.

 

Als er auf der Rogers Avenue zu Debbie fährt, sieht Dylan die beiden Wagen nebeneinander auf dem Parkplatz stehen. Dann sieht er, dass sich auf einem der Panoramafenster des Restaurants wie durch Zauberei ein Netz von Rissen bildet. Als das Glas sich wölbt und rausfällt, hört er plötzlich die Schießerei.

Er schrägt über den Asphalt und wirft sich in den betonierten Abflussgraben auf der anderen Straßenseite.

Nach einer Weile lässt die Schießerei nach. Für Dylan hört es sich an, wie wenn man Popcorn in der Mikrowelle macht: Pengpengpengpengpeng, dann nur noch Pengpengpeng.

Immer längere Pausen dazwischen.

Als es eine ganze Minute still bleibt, rennt Dylan geduckt über die Straße. Guckt über den Fenstersims.

Ein Blutbad. Tote in zwei Nischen, auf den Boden gekippt. Keine Jungs, lebend oder tot, soweit Dylan sieht.

»Hallo?«, ruft er durchs Fenster.

Drinnen erstickt er fast an dem scharfen Gestank von Gipsstaub, Pulverrauch und frischem Blut. Als er seine Atmung unter Kontrolle hat, zählt er acht Leichen. Gerade hatte er noch doppelt so viele geschätzt. Das Gemetzel muss seinem Verstand einen Streich gespielt haben.

Aus der Nähe, mit runterhängenden Sonnenbrillen, sehen die Typen noch härter aus. Einige halten Knarren in den Händen. Dylan reißt dem, der am weitesten von den Tischen entfernt liegt, den schwarzen Anorak auf: MP5 an einem Nylongurt. Neben dem Mann liegt eine Speisekarte.

Das gibt’s doch nicht! Wer kommt denn in finsterer Absicht in so einen Laden – sei’s um ihn auszurauben, Debbie umzubringen oder sie auch nur einzuschüchtern – und bestellt erst was zu essen? Da muss man doch mindestens damit rechnen, dass man in die Vorspeise gespuckt bekommt.

Dylan knobelt aus, wie man die MP aus dem Gurt bekommt, und geht damit vorsichtig zur Küchentür. Darunter kommt Blut herausgelaufen. Im Aluminium sind Einschusslöcher.

»Was hast du vor, Dummbackski?«, fragt ihn der Sergant.

»Entsichern«, murmelt Dylan.

»Das hab ich nicht ge–«

»Hallo?«, sagt Dylan laut.

Er stößt mit der Hüfte die Tür auf, die MP5 im Anschlag.

Ein halbes Dutzend Jungs sind am Boden um Debbie herum. Die meisten leben, stützen Debbie ab. Debbie selbst ist bewusstlos oder tot, auf der einen Seite voller Blut.

Die Jungs haben ihre Knarren gezogen und auf ihn gerichtet.

»Ich bin’s. Nicht schießen. Ich bin wieder da«, sagt er noch schnell.

Aber sein Brustkorb gewittert, der Raum dreht sich, und der Boden knallt ihm auf die Backe.

Vielleicht haben sie ihn also schon erschossen.