32 White Lake
Immer noch Sonntag, 23. September
Mein Gesicht durchstößt die Wasseroberfläche, ich werde komplett verschluckt, alles wird realer als noch vor einem Augenblick. Da war es schon ziemlich real, nur nicht so wie jetzt das kalte schwarze Wasser, in dem irgendetwas Schauerliches lebt, und über dem sich ein Typ mit Nachtsichtbrille, Jagdgewehr und Dynamit herumtreibt.
Menschen sind übrigens noch stärker komprimierbar als Fische.
»Violet!«, rufe ich, als ich an die Oberfläche komme.
Ich glaube, ich bin deshalb so weit geflogen und so durcheinandergewirbelt worden, weil sich das Kanu verformt hat, als es von der Harpune getroffen wurde, und mich dann, als es wieder halb in die alte Form zurückgeschnellt ist, wie einen Pfeil in die Luft katapultiert hat.
»Hier!«, sagt sie.
Ich schwimme schnell auf sie zu, den Kopf unter Wasser, weil ich doch nichts sehen kann, und meine Kleider geben jeder Bewegung den falschen Rhythmus mit. Ich würde sie ausziehen, aber das dauert, und ich rede mir immer noch ein, dass da was drin ist, was ich noch mal gebrauchen kann.
Eine Hand von Violet streift mich. Ich greife zu und hebe den Kopf. Sie ist kaum zu sehen, nur ihre Augen und Haare schimmern wie der See.
Ich sage: »Wir tauchen, Hand in Hand, so weit wie möglich, holen Luft, reden nicht und tauchen wieder, bis wir ans Ufer kommen. Okay?«
»Ja«, sagt sie.
Wir küssen uns schnell, falls Sie meinen, dass wir so weit gediehen sind, und tauchen. In die schrille Stille des Wassers, das darauf zu warten scheint, dass es kracht oder ein Vieh uns die Köpfe abbeißen kommt, je nachdem, wer schneller ist.
Wir schwimmen ziemlich weit, in einer möglichst geraden Linie, dann drückt Violet meine Hand und wir tauchen prustend auf. Gehen erneut runter und schwimmen diesmal, bis unsere Hände die Steine am Grund berühren und wir wissen, dass wir im Uferwasser sind. Kaum nehmen wir die Köpfe hoch, hören wir das Klapperschlangenzischen einer Zündschnur.
Ich glaube nicht, dass das Dynamit in unserer Nähe einschlägt. Ich spüre keine Welle, weder, als es aufs Wasser trifft, noch als es explodiert. Ich spüre nur den Ruck, der durch mich hindurchgeht wie ein Tritt in die Eier, meine Muskeln schreddert und dabei meinen Blutdruck vervierfacht. Dann merke ich, dass ich wieder unter Wasser bin, untergehe.
Aber nur einen Augenblick. Nur nicht trödeln jetzt. Violet und ich krabbeln an Land. Dann stürzen wir uns, ohne den aufrechten Gang überhaupt zu probieren, in das pechschwarze Gehölz.
Das wie ein mit Dornen und Beinstellern garnierter Geburtskanal ist. Immer wieder renne ich bei diesem Stolpersprint in stehende und liegende Hindernisse, unterscheiden kann ich’s nicht, und höre, dass es Violet genauso geht. Als ich hinter mir nach ihrer Hand greife, ist sie nass von Blut.
So scheint das eine Stunde lang zu gehen, obwohl es wahrscheinlich eher zehn Minuten sind. Denn wie lange braucht einer schon, um ein Amphibienboot zu landen, einem Pärchen, das nichts sehen kann, in den Wald nachzulaufen und es mit dem Jagdgewehr aufs Korn zu nehmen?
Die erste Kugel kracht mit dem Klatscher eines Homeruns direkt vor uns in einen Baum. Die zweite schlägt so nah ein, dass sie mir Moos in den Mund spritzt und die rechte Gesichtshälfte inklusive Hals mit Splittern spickt.
Dann stolpern Violet und ich praktischerweise gemeinsam und kommen Auge in Auge zu liegen.
»So geht das nicht«, sage ich, bemüht, sie nicht mit Moos zu bespucken. »Wir müssen uns trennen. Geh du links, ich halte mich geradeaus. Wenn er sich an dich statt an mich hängt, drehe ich um und setze mich hinter ihn.«
»Und ich mach es so, wenn er dir nachgeht.«
»Nein, das ist zu gefährlich. Der sieht dich.«
»Und dich nicht?«
»Nein. Geh.«
Diesmal bleibt zum Küssen – falls Sie wirklich meinen, dass da so was läuft – keine Zeit, vielleicht weil wir beide gemerkt haben, dass ich sie wieder anlüge. Sie streicht mir aber mit der Hand über die versplitterte Gesichtshälfte.
Dann presche ich weiter, streife meine Jacke ab, um eine Spur zu legen, filze sie aber erst nach Sachen, die mir helfen könnten, den Arsch umzubringen. Finde nur eine Digitalkamera in einer Neoprentasche. Wäre ich Professor Marmoset, wäre ich fein raus gewesen.
Da ich jemand ganz anderes bin, konzentriere ich mich eine halbe Minute halbherzig darauf, auszuknobeln, wie sich das Drecksding in ein Nachtsichtgerät verwandeln lassen könnte. Hat es einen Filter, den man rausnehmen muss? Irgendein Sub-Submenü zum Neueinstellen? Dann gebe ich es auf. Ich bin eben kein Elektrotechniker.
Dafür bin ich jemand, der wissen sollte, wie man Irre im Wald ausschaltet. Und der sich schon darauf freut, die Rechtsschleife zu beenden, die ihn ungesehen hinter dieses Arschloch bringt. Ich müsste fast wieder an der Stelle sein, wo ich mich von Violet getrennt habe.
Genau deshalb lässt mir der nächste Schuss, den ich höre, das Blut gefrieren.
Er kommt nicht daher, wo er sollte. Nicht, wenn er mir auf den Fersen ist, nicht, wenn er Violet auf den Fersen ist. Er kommt aus einer ganz anderen Richtung und von zu weit weg.
Das bedeutet, er ist Violet auf den Fersen, und ich bin blind durch die Gegend getappt. Und jetzt kann ich unmöglich schnell genug weit genug kommen, um sie vor ihm zu retten.
»HEY, ARSCHLOCH!«, schreie ich. Presche in die Richtung, aus der der Schuss zu kommen schien. Verheddere mich im Gezweig. Höre den nächsten Schuss.
Da entschließe ich mich, die Kamera zu zerschlagen. Nicht, weil das nachtsichtfördernd sein könnte. Sondern, weil ich überhaupt nicht mehr weiter weiß. Höchstens werfen könnte ich das Ding. Mit etwas Glück den Arsch am Kopf treffen, bevor er sie abknallt.
Als ich aushole, wird mir jedoch klar, dass für beides nicht die Zeit ist.
Es ist Zeit für mein Mantra. Das da lautet:
Was bin ich doch für ein Vollidiot.
Ich halte die Rückseite der Kamera von mir weg, damit sie mir nicht die Netzhaut zerstört, decke die Vorderseite mit der Hand ab und schalte sie ein. Vor meinen weit geöffneten Pupillen erleuchtet der Monitor alles um mich herum.
Sehr interessant. Ich bin noch nicht mal auf dem Boden. In den letzten Sekunden bin ich ein Gewirr von Ästen und Zweigen hochgeklettert. Durch die erste Lücke, die ich sehe, springe ich wieder auf den Boden.
Und dann lege ich los. Sehr weit kann ich zwar nicht sehen, aber ich kann laufen. Ich kann Bäumen ausweichen, die ich sonst mit dem Gesicht hätte finden müssen, und kann Sackgassen ausmachen, bevor ich mich festrenne. Schließlich lerne ich sogar, die Kamera auf Display zu lassen, damit sie nicht automatisch die Optik schließt und sich ausschaltet.
Ich höre einen Schuss in der Nähe und laufe noch schneller. Komme um einen Baum und knalle dem Schützen fast in den Rücken.
Mich verblüfft, wie langsam er ist. Schneller zwar als ich, bevor ich was sehen konnte, aber langsam. Er schlendert voran. Macht gemütliche Terminator-Kopfschwenks mit seiner Nachtsichtbrille, ohne das Gewehr zu bewegen. Als ob er das Ganze gewohnt ist und sich nicht ermüden will.
Noch hat er mich nicht gehört und das Kameralicht nicht gesehen. Es juckt mich, ihn einfach umzubringen – Handflächenschlag auf den sechsten Wirbel, Schön, von Ihnen gejagt worden zu sein –, aber wenn Violet tot ist, möchte ich, dass er dafür zur Verantwortung gezogen werden kann. Und wenn sie lebt, hat sie sicher selbst ein paar Fragen an ihn.
Ich entreiße ihm das Gewehr und benutze die Hand mit der Kamera, um die Nachtsichtbrille hochzuziehen und ihm ins Gesicht zu leuchten.
»Ach du Scheiße«, sage ich laut.
Es ist Dr. McQuillen.
Auf dem Rückweg zum Boot – Violet mit McQuillens Nachtsichtbrille voran, ich mit der Kamera in der Hand dahinter – lasse ich McQuillen gelegentlich mit dem Kopf gegen einen Ast laufen. Ich friere und habe Schmerzen, und Violet war voller Blut, als ich ihr McQuillens Anorak gab. Ich hätte ihr auch noch sein Hemd gegeben, wusste aber nicht, ob jemand seines Alters die Kälte überstehen würde, so fit er offensichtlich auch war.
Um mich womöglich noch mieser zu fühlen, denke ich daran, wie ich sein Sprechzimmer auf den Kopf gestellt habe, ohne zu schnallen, dass sein CT fehlte. Verkauft für das Amphibienboot, denke ich jetzt.
Wir erreichen selbiges.
Ich sage: »Also: Was ist da im Wasser?«
»Das weiß ich nicht.«
Ich frage nicht noch mal. Ich packe ihn am Kragen und steige oberschenkeltief in den See mit ihm. Klappe mit den Zähnen das Messer auf, das ich aus seiner Jacke geholt habe, und ritze ihm die Schulter blutig. Tauche ihn unter.
Violet schaltet hinter uns die Bootsscheinwerfer an. Es ist komisch, wieder normal sehen zu können.
»Was ist da?«, frage ich, als ich ihn hochziehe.
»Ich sag’s Ihnen!«, schreit er. »Holen Sie mich aus dem Wasser!«
Ich tu’s. Er sagt’s mir.