18 Camp Fawn See Ford, Minnesota

Immer noch Samstag, 15. September

»Können das Haibisse sein?«

»Nein«, sagt Violet. Den Kopf in die Hände gestützt und den Rücken an mein Bett gelehnt, sitzt sie auf dem Boden. Hinter ihr sind die Schwarzweißfotos in zwei grauenhaften Reihen auf der Matratze ausgelegt.

»Bist du dir sicher?«

»Ja.«

»Und warum?«

»Aus mehreren Gründen.«

Ich weiß nicht, was beschämender ist, die Angst oder die Erleichterung.

»Zunächst einmal sind sie glockenförmig«, sagt Violet, »wie bei einem Tier mit flaschenförmiger Schnauze, und soweit ich weiß, gibt es das nicht bei Haien. Und ich habe noch nie von einem Hai gehört, der eine so hohe Stoffwechselaktivität hat, dass er in Süßwasser jemanden angreifen kann. Ich kenne keinen einzigen Salzwasserfisch, der das könnte.«

»Lachse scheinen damit keine Probleme zu haben.«

»Lachse wandern einmal im Leben vom Süß- zum Salzwasser. Das ist ziemlich einfach, weil sie bloß ihre Zellen so auffüllen müssen, dass sie für das Wasser osmotisch attraktiv bleiben. Wenn sie zurückwandern, werden sie vom Süßwasser vergiftet. Das ist der letzte evolutionäre Stressfaktor, bevor sie laichen und sterben. Jedenfalls haben Haie auch nur Schneidezähne. Wie Piranhas oder Komodowarane. Aber dieses Tier hier hatte hinten Schneide- und vorn spitze Zähne. Deshalb ist das Bissmuster vorn ganz faserig.«

»Mein Gott, gut, das zu hören.«

Violet sieht mich an. Fürs erste Mal hält sie sich ziemlich gut, doch sie sieht weinerlich und krank aus. »Wie meinst du das?«

»Ich kann Haie nicht ausstehen.«

»Lionel, egal, was für ein Tier das ist, es ist schlimmer.«

»Das glaube ich nicht. Wahrscheinlich war es eine Bootsschraube.«

»Im Wagen hast du gesagt, eine Bootsschraube verursacht kurze, parallele Schnittwunden, die so weit auseinanderliegen, wie es der Länge der Schraube von vorne nach hinten entspricht. Und die Körperteile, die mit Haaren oder Kleidungsstücken bedeckt sind, werden zerfetzt.«

»Ja, in Lehrbüchern

Die beiden Toten auf den Fotos tragen keine Kleidung. Leichen auf Autopsiefotos sind nur selten bekleidet, doch in dem beiliegenden Bericht steht, dass sie bei der Bergung größtenteils nackt waren. Das Mädchen hatte seinen Badeanzug noch an. Ob sie langes Haar hatte, ist unklar, denn ihr Kopf ist nicht mehr da.

»Du verstehst nicht«, sagt Violet. »Ich erkenne dieses Bissmuster.«

Ich halte inne. »Wie meinst du das?«

»Dieses Bissmuster – es ist unverkennbar. Ich meine, ich bin keine Zoologin. Nicht mal als Paläontologin habe ich etwas mit Zoologie zu tun …«

»Du scheinst dich aber gut auszukennen.«

»Nichts für ungut, aber das liegt daran, dass du noch weniger über dieses Zeug weißt als ich. Ich bin nur ein Laie. Ich weiß nicht mal, wo mein Wissen lückenhaft ist.«

»Okay.«

»Aber diesen Biss kenne ich. Den kennt jeder Paläontologe, weil er so einzigartig ist, dass man damit das Ende der Kreidezeit kennzeichnet.«

»Und wann war das?«

»Das ist das verdammte Problem. Vor fünfundsechzig Millionen Jahren.«

Ich mache mir bewusst, dass ich dieser Frau eigentlich gerade Standfotos aus einem Snuff-Film gezeigt habe. Ich würde ihr ja die Hand auf die Schulter legen, aber solche Hände habe ich nicht.

»Violet …«

Sie zuckt zusammen. »Ich weiß. Ich bin Paläontologin. Die meisten Tiere, die ich gut kenne, sind zusammen mit den Dinosauriern ausgestorben.«

»Genau.«

»Aber nicht alle.«

So vorsichtig wie möglich sage ich: »Ich bezweifle stark, dass es ein Dinosaurier ist.«

»Bis 1938 hat man gedacht, die Quastenflosser wären seit der Kreidezeit ausgestorben. Dann tauchten sie plötzlich wieder auf.«

»Aber wir haben nicht denselben Lebensraum wie die Quastenflosser. Dass sie noch da sind, wissen wir bloß, weil wir anfingen, ihre Laichplätze mit Schleppnetzen zu durchkämmen. Doch auch dann haben die meisten Leute, die einen Quastenflosser gesehen haben, wahrscheinlich gedacht, es handelte sich um einen Fisch, und ihn gleich wieder vergessen. Wir reden hier von einem Tier, das angeblich wie ein Dinosaurier aussieht und sich in einem Nationalpark rumtreibt. Und Menschen frisst. Wo war es die ganze Zeit? Eingefroren?«

Sie antwortet nicht.

»Was ist?«, frage ich.

»Das könnte durchaus sein.«

»Ausgeschlossen.«

»Doch. Ich mag keine Zoologin sein, aber ich weiß, dass es Frösche gibt, die vollständig gefrieren können.«

»Wie soll das gehen? Ihre Zellen würden doch platzen.«

»Sie überschwemmen ihre Zellen mit einer ultrahohen Glukosedosis und kühlen sich dann runter. Keine Stoffwechselaktivität. Bis sie wieder aufwachen, sind sie bloß Proteine in einem Eisblock.«

»Und so können sie bleiben? Fünfundsechzig Millionen Jahre lang?«

»Nein, nicht fünfundsechzig Millionen Jahre lang. Die ungeordnete Bildung von Kristallkeimen würde die Zellen in so einem Zeitraum zum Platzen bringen, und es käme zu molekularem Zerfall. Aber dieses Tier muss gar nicht fünfundsechzig Millionen Jahre lang eingefroren gewesen sein. Was, wenn es bloß die letzten paar Jahrhunderte ausgeharrt hat? Das würde erklären, warum es eine Zeichnung von ihm gibt. Und seit damals hat es jede Menge Verhaltensänderungen gegeben. 1780 ist der Hafen von New York zugefroren. Diesen Sommer war es in Minneapolis fünfzig Grad heiß.«

»Aber bloß weil eine Handvoll Amphibien gefrieren können, heißt das doch nicht, dass es auch Reptilien gibt, die das können.«

»Aber es könnte sein. Schildkröten haben eine Menge Tricks drauf, um am Grund eines zugefrorenen Sees zu überleben. Sie können ihre Enzyme verändern. Sie können Herz und Lunge herunterfahren und nur durch die Haut atmen.«

»Das heißt, dass sie noch Milchsäure aufbauen.«

»Es sei denn, sie speichern sie. Es gibt sogar ein Eichhörnchen, das sich runterkühlen kann.«[51]

»Und …«

Sie weicht meinem Blick aus. »Und deshalb ist es vielleicht so, wie Sherlock Holmes sagt: Wenn man alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat, muss die einzige, die übrig bleibt, die Wahrheit sein, auch wenn es unmöglich erscheint.«

»Tut mir leid, Violet, aber das ist das Dümmste, was Sherlock Holmes je gesagt hat. Woher soll man denn wissen, dass man alle anderen Möglichkeiten ausgeschlossen hat?«

Sie sieht unglücklich aus. »Nenn mir eine.«

»Mach ich. Es war ein Mensch.«

Sie blickt zu mir auf, und ihre Miene drückt zugleich Hoffnung und Zweifel aus.

»Woher willst du das wissen?«

»Weil es möglich ist, dass es ein Mensch war. In neun von zehn Fällen bedeutet das, dass es stimmt. Menschen sind zu den abartigsten Sachen fähig. Und wenn es ein Mensch war, dann kann es auch jemand gewesen sein, der so intelligent ist rauszufinden, wie das Bissmuster eines Dinosauriers aussehen müsste, und es nachzubilden. Wahrscheinlich bräuchte man dazu nur eine Bärenfalle umzubauen.«

»Aber bei Autumns und Benjys Tod waren noch andere Leute dabei.«

»Die beiden Jugendlichen, die sich nicht auf demselben See befanden. Wahrscheinlich haben alle gerade gevögelt. Vielleicht haben die Freunde Geräusche gehört oder glaubten, als sie zum White Lake kamen, das Wasser wäre noch aufgewühlt. Aber niemand hat uns gesagt, dass diese Jugendlichen irgendwas gesehen haben – nicht mal die Leichen. Niemand hat uns gesagt, dass irgendwer die Leichen gesehen hat, bevor die Polizei sie aus dem Wasser zog, und das war mindestens drei Tage später. Genug Zeit, um ein paar Dinosaurierbisse vorzutäuschen.«

Violet starrt mich an. »Und du denkst, Reggie ist zu so was fähig?«

»Keine Ahnung. Wenn nicht er, dann jemand anders. Vergiss nicht, es gab hier in derselben Woche zwei weitere Morde. Und da behauptet niemand, es wäre ein Tier gewesen.«

»Aber wenn die Person, die Chris junior und Pfarrer Podominick erschossen hat, eine Waffe hatte und damit umgehen konnte, warum hat sie dann … Ich meine, wie konnte sie so was tun? Die beiden waren doch noch Kinder.«

»Keine Ahnung. Vielleicht hat jemand die beiden Jugendlichen umgebracht, und jemand anders hat die beiden Erwachsenen erschossen, weil er Chris und den Pfarrer für ihren Tod verantwortlich machte.«

»Du meinst, jemand hat Chris junior für den Mörder seiner eigenen Tochter gehalten?«

»Wer weiß? Vielleicht hatte es der Schütze gar nicht auf Chris junior abgesehen.«

»Wie meinst du das?«

»Niemand scheint zu wissen, was Chris junior und Pfarrer Podominick an diesem Abend hier wollten. Wie viele Leute können dann gewusst haben, wo die beiden zu finden waren? Und Reggie zufolge, der zugegebenermaßen nicht der zuverlässigste Zeuge der Welt ist, wurde Pfarrer Podominick in den Kopf und Chris junior in die Brust geschossen. Also hat jemand mit einem Zielfernrohr sorgfältig auf Pfarrer Podominick angelegt, um ihn tödlich zu treffen. Und nach diesem Schuss musste der Mörder den zweiten Schuss so schnell wie möglich abgeben, weil der andere wusste, dass man es auf ihn abgesehen hatte. Deshalb hat sich der Mörder für einen Schuss in die Brust entschieden: Das geht schneller und einfacher. Vielleicht hat der Mörder gar nicht Chris juniors Gesicht gesehen.«

Oder seine Kleidung.

Das Ganze klingt nicht besonders glaubwürdig: Wer erschießt schon zwei Menschen mit einer Waffe mit Zielfernrohr, ohne vorher zu überprüfen, ob es die beiden Richtigen sind?

»Wer bist du eigentlich?«, fragt Violet.

»Wie meinst du das?«, frage ich zurück.

Aber ich weiß genau, was sie meint. Sie wirkt entsetzt.

Ich bin ein total bescheuerter Idiot.

»Woher weißt du, dass man ein Zielfernrohr benutzt, um jemanden in den Kopf zu schießen? Oder jemanden mit einer – was hast du gesagt? – einer Bärenfalle verstümmeln kann?«

»Violet …«

»Warum hast du keine Angst, wenn jemand auf dich schießt?«, fragt Violet.

»Ich hatte doch Angst.«

»Du hast gelächelt. Und danach hast du dich geweigert, die Polizei zu verständigen. Warum hast du McQuillens Büro ausgeraubt?«

»Ach, bitte. Eigentlich hab ich gar nicht …«

»Bist du überhaupt Arzt?«

Mein Gott.

Früher haben mir nur meine Patienten diese Frage gestellt. Und jetzt tut es jeder.

»Ja. Bin ich.«

»Und so was wie ein Polizist?«

»Nein.«

»Bist du ein Verbrecher?«

»Nein.« Zur Zeit nicht.

»Hast du schon mal im Gefängnis gesessen?«

»Nein.«

Vielleicht neun Monate in Untersuchungshaft wegen Doppelmords, aber im Gefängnis? Nie.

Wahr und doch falsch: Das ist nicht bloß eine Geisteshaltung. Das ist ein Lebensstil.

»Bist du der, für den Rec Bill dich hält?«, fragt Violet.

Was für eine raffinierte Frage, hätte ich fast gesagt.

»Ja, ich glaube schon.«

»Was bedeutet das?«

»Rec Bill hat Baboo Marmoset – weißt du, wer das ist?«

»Ja.«

»… gebeten, ihm jemanden mit wissenschaftlichem Hintergrund zu empfehlen, der dich auch beschützen könnte, falls irgendwas schiefläuft.«

»Mich beschützen?«

»Ich weiß: Da hab ich ziemlich versagt.«

»Moment. Wer wollte mich beschützen lassen?«

»Rec Bill.«

»Rec Bill wollte, dass du mich beschützt?«

»Wenn nötig, sollte ich zumindest dazu imstande sein.«

»Ach du meine Scheiße«, sagt sie.

Plötzlich sind meine kriminellen Neigungen vergessen. Genau wie die Fotos von den toten Jugendlichen.

Schwer zu übersehen, was das bedeutet.

»Bist du mit Rec Bill …«, sage ich.

»Was?«, fragt sie zerstreut.

»Ist Rec Bill derjenige, welcher? Der Quasifreund?«

Sie sammelt sich wieder. »Nein.«

»Warum wirst du dann rot?«

Sie wendet den Blick ab. »Du kannst mich mal. Ich werde gar nicht rot.«

Wir erröten beide. Ich kann es spüren. »Er ist es!«

»Darüber will ich nicht reden.«

»Dann bringen wir’s besser hinter uns.«

»Das geht dich gar nichts an.«

»Dass du mit unserem Boss vögelst?«

»Was?«

Wenigstens habe ich ihre Aufmerksamkeit wiedererlangt.

»Okay«, sagt sie. »Erstens: Ich vögele nicht mit ihm. Und zweitens vögele ich auch nicht mit dir, was zum Teufel geht es dich also an? Wir haben uns bloß geküsst. Ein einziges Mal.«

»Das war das einzige Mal, dass ich dich nach Sonnenuntergang nüchtern erlebt habe.«

»Ach, leck mich doch.« Sie stemmt sich hoch und wendet sich erst von mir und dann von den Fotos und mir ab. »Das ist doch Quatsch. Und es ist überheblich. Vielleicht nicht total überheblich, aber trotzdem überheblich. Jedenfalls ist es absolut unhöflich. Und was ist überhaupt dein Problem? Denn ich glaub dir nicht, wenn du sagst, dass du nicht mit betrunkenen Frauen vögelst.«

»Nur wenn ich auch betrunken bin …«

»Uäh!«, sagt Violet. »Vergiss einfach, dass ich gefragt hab. Das ist echt typisch. Weil du glaubst, dass mich Rec Bill begehrt, willst du plötzlich auch mit mir zusammen sein oder so was. Dabei weiß ich nicht mal, ob er mich wirklich begehrt. Ich weiß nicht, was zum Kuckuck in euch vorgeht. Nie weiß ich das.«

»Nie?«

»Rec Bill ist ja nicht ansprechbar. Und du beantwortest keine Fragen.«

»Na ja, wenigstens bin ich ansprechbar.«

»Leck mich. Du brauchst gar nicht zu versuchen, mich zum Lachen zu bringen. Es macht keinen Spaß, in deiner Nähe zu sein. Du gibst einem das Gefühl, als wäre es so, aber es ist beängstigend. Weil ich nicht mal weiß, wer du bist. Im Ernst: Wer zum Teufel bist du? Und was willst du von mir? Ein kleines Abenteuer auf einer Geschäftsreise? Dass wir Freunde werden, ohne dass ich irgendwas über dich weiß? Was?«

Verdammt.

Weder falsch noch unverdient, und trotzdem verdammt. Schon erstaunlich, wie viel von dem, was ich über sie gedacht habe, auf einmal lächerlich wirkt.[52] Und wie viel von dem, was ich zu ihr gesagt habe.

»Keine Ahnung«, sage ich.

»Na toll. Sag Bescheid, wenn du dich entschieden hast. Willst du inzwischen das Zimmer haben?«

»Nein.«

»Uäh. Einfach nur – uäh. Und nimm bitte die verdammten Bilder mit.«

Das bedeutet wohl, dass ich gehen soll.