19 Camp Fawn See Ford, Minnesota

Immer noch Samstag, 15. September

Ich gehe um den Jachthafen herum. Rauf zum Laden. Wieder zum Jachthafen runter. Zum Parkplatz, um den Umschlag mit den Fotos im Wagen zu verstecken. In den Wald zwischen der Lodge und dem Ort.

In den Wald wurden Pfade geschnitten. Nicht in letzter Zeit – bei den ersten, die ich ausprobiere, muss ich wieder umkehren –, doch in einem Ausmaß, das zeigt, dass es irgendwann mal jemand für eine gute Idee hielt, von Ford zum CFS zu Fuß gehen zu können. Etwa auf halber Strecke höre ich vor mir plötzlich Stimmen und bleibe stehen.

Es sind Debbie und ihre Jungs, die auf mich zukommen. In Richtung CFS unterwegs.

Angesichts der Tatsache, dass Debbie, die die Hände zu Fäusten geballt hat, als marschierte sie zu einer Kneipenschlägerei, Jeans und ein weißes T-Shirt trägt, finde ich es fast witzig, dass die Jungs Tarnkleidung tragen und sich die Gesichter mit Tarnfarbe angemalt haben. Aber nur fast, denn die Jungs haben Waffen dabei.

Ich laufe zurück zur Lodge und klopfe an die Tür von Hütte Nummer zehn.

»Wer ist da?«, fragt Violet.

»Ich bin’s.«

»Verschwinde.«

»Geht nicht. Debbie kommt gerade mit ihren Jungs durch den Wald. Wir müssen alle Leute auf den Hügel raufschaffen, bevor die Gang hier ist, und Reggie sagen, dass er Sheriff Albin verständigen soll.«

Es tritt eine Pause ein. »Im Ernst?«

»Ich schwöre es.«

 

»Hi, Debbie«, sage ich, als sie zu mir auf den Rasen tritt.

»Was wollen Sie denn hier?«, fragt sie. Ihr Trupp kontrolliert, ob rings um die Hütten die Luft rein ist.

»Das frage ich mich schon, seit ich hergekommen bin. Hallo, du bewaffneter Idiot.«

Der schon etwas ältere Junge mit der Colt Commander kommt auf mich zu und richtet die Pistole auf mein Gesicht. »Sie wollen wohl unbedingt kaltgemacht werden, was?«

»Wenn das so wäre, würde ich nicht mit dir reden. Du hast schon wieder vergessen, den Hahn zu spannen.«

Er betrachtet seine Pistole und sagt lahm: »Nur zur Sicherheit.«

»Dann steck das Ding endlich weg.«

»Wo sind die anderen?«, fragt Debbie.

»Die meisten sind oben auf dem Hügel. Sie und Reggie haben Glück gehabt: Alle anderen Gäste sind auf Sightseeing-Tour. Noch können Sie verschwinden, bevor Sheriff Albin kommt, dann wird niemand erfahren, was vorgefallen ist. Aber da müssen Sie sich beeilen. Kennen Sie Del und Miguel?«

»Klar kenn ich diese Armleuchter.«

»Diese Armleuchter haben Gewehre, und sie beobachten uns gerade mit Ferngläsern. Wahrscheinlich finden sie es nicht besonders gut, dass die Jungs in ihren Sachen rumwühlen.« Die Jungs haben die Türen der Hütten aufgetreten und blicken ins Innere.

»Ich bin nicht hier, um irgendwas zu stehlen«, sagt Debbie.

»Und warum sind Sie hier?«

»Um mit Reggie zu reden.«

»Worüber?«

»Was geht Sie das an?«

»Ich bin nicht in Minnesota, um einen Dinosaurier zu sehen, Debbie. Ich soll rauszufinden, was Reggie ausgeheckt hat.«

»Egal was er vorhat, was dabei rausspringt, ist Blutgeld.«

»Von dem Sie offenbar was abhaben wollen.«

Sie baut sich vor mir auf. »Seien Sie vorsichtig! Er hat meinen Sohn umgebracht. Und ich lasse nicht zu, dass er daraus auch noch Profit schlägt.«

»Kapiert. Ich hab das mit Ihrem Sohn gehört. Tut mir leid.«

»Na klar.«

»Doch, wirklich. Das ist schlimm. Aber wir müssen nicht drüber reden.«

»Na vielen Dank.«

»Doch wir müssen überlegen, wie Sie von hier verschwinden können. Als Reggie Albin verständigt hat, war Albin schon westlich von Ely auf dem Highway One.«

»Wie weit?«

»Keine Ahnung.«

»Warum sollte ich Ihnen glauben?«

»Ich weiß nicht genau, ob es darauf eine Antwort gibt.«

»Und warum sollten Sie mir helfen wollen?«

»Ich bin Arzt. Ich habe den Eid geleistet, dass ich den Menschen helfen will.« Das hört sich sogar für mich komisch an. »Und weder Sie noch diese Jungen sollten für so was Dämliches ins Gefängnis kommen.«

Ich betrachte einer ihrer kleinen Schläger. »Was ist das, ein Sturmgewehr?«

»Ich gehe erst, wenn ich mit Reggie geredet habe.«

»Gut. Dann bleiben Sie zum Reden. Aber schicken Sie Ihre Jungs nach Hause. Oder wenigsten ein paar von ihnen, mit den Waffen, und sagen Sie den übrigen, dass sie diese idiotische Tarnfarbe abwischen sollen.«

Debbie überlegt. Geht zu dem Trottel mit der Colt und redet mit ihm. Während er alle zusammentrommelt, funkelt er mich zornig an.

Als Debbie zurückkommt, hebt sie einen Zipfel ihrer Fleeceweste an, um mir ihr Hüfthalfter und die darin befindliche Taschenpistole zu zeigen. »Diese Glock darf ich verdeckt tragen. Ich tue, was Sie sagen, aber wenn das Ganze nicht klappt, mache ich Sie verantwortlich.«

»In Ordnung.« Ich zögere kurz. »Kann ich Ihnen eine Frage stellen?«

Sie sieht mich misstrauisch an.

»Warum glauben Sie, dass Reggie für Benjys Tod verantwortlich ist?«

Sie lacht verbittert. »Sie sind doch hier, oder? Und noch eine Menge andere reiche Leute. Reggie holt sich bloß, was er schon immer haben wollte.«

»Glauben Sie, er hat Chris junior und Pfarrer Podominick erschossen?«

»Wollen Sie immer noch behaupten, dass Sie kein Cop sind?«

»Bin ich nicht.«

»Egal. Ja, ich glaube, er war’s.«

»Warum?«

»Aus demselben Grund.«

»Dann haben Sie also nichts damit zu tun.«

Debbie schüttelt den Kopf. »Wissen Sie, es gibt keinen Grund, Ihnen zu antworten, aber ich tu’s trotzdem. Ich habe Chris junior und Pfarrer Podominick nicht erschossen. Ich habe den Mord auch nicht in Auftrag gegeben oder in anderer Form zu ihrem Tod beigetragen.«

»Haben Sie Chris junior und Pfarrer Podominick wegen des geplanten Schwindels um das Ungeheuer keine Vorwürfe gemacht?«

»Schätzchen, die beiden hätten nicht mal planen können, wie eine Bowlingkugel fällt, wenn sie sie vom Dach werfen. Ich weiß nicht, wer von ihnen der Dümmere war.«

»Sie glauben, Reggie hat die beiden beeinflusst?«

»So was kann er gut. Er tut es gerade mit Ihnen.«

Ich muss sagen, dass mir das einen leichten Schauer über den Rücken jagt.

»Haben Sie Dylan Arntz kürzlich gesehen?«, frage ich.

»Ich weiß nicht, von wem Sie reden.«

 

»Das sollte verdammt noch mal gesetzwidrig sein.«

»Ist es bisher aber nicht«, sagt Sheriff Albin.

»Und wie viel Kohle kriegst du von Reggie, Boss Hogg?«

»Debbie, auf das Niveau lass ich mich nicht ein.«

»Ich rufe die echten Cops.«

»Du weißt, du hast das Recht zu schweigen.«

Ich höre nicht länger zu. Die beiden streiten sich schon eine halbe Stunde, und Sheriff Albin demonstriert seine Fähigkeit, sofort für Langeweile zu sorgen. Doch jetzt, wo ich drüber nachdenke, scheint mir das der Grund zu sein, warum man die Polizei verständigt.

Plötzlich höre ich etwas: der Rotor eines Hubschraubers.

Reggie kommt mit besorgtem Blick von der Empfangshütte rübergelaufen, vor der er gerade telefoniert hat.

»Gleich treffen ein paar VIPs hier ein«, sagt er.

Sheriff Albin lässt ein paar Sekunden verstreichen und sagt dann: »Okay.«

»Egal, was Debbie hier will, wenn Sie sie auf der Stelle wegschaffen können, lasse ich alle Anschuldigungen fallen.«

»Kannst du mir das nicht ins Gesicht sagen, du Kindermörder?«, fragt Debbie.

»Debbie, wenn das hier vorbei ist, rede ich gern mit dir über dieses oder auch jedes andere Thema. Bloß nicht jetzt.«

»Wozu die Eile?«, fragt Albin.

»Wegen dieser ganzen Geheimhaltungssache. Der Hubschrauber landet nur, wenn hier unten jeder eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschrieben hat.«

Der niedrig fliegende Hubschrauber kommt mit ohrenbetäubendem Lärm am anderen Ende des Sees in Sicht. Er ist riesig – ein Sikorsky Sea King oder so was Ähnliches. Einer mit Bullaugen, wie ihn der Präsident benutzt.

»Warum? Wer ist das?«, will Sheriff Albin wissen.

Reggie windet sich. »Könnten Sie eine Vertraulichkeitsvereinbarung unterschreiben?«

»Reggie, ich bin Polizeibeamter.«

Es ist nicht schön anzusehen, wie Reggie die schlimme Hand an die intakte Seite seines Mundes führt, um an den Fingernägeln zu kauen. »Sheriff, das ist wirklich wichtig. Meines Wissens verstoße ich gegen kein Gesetz.«

Albin beobachtet, wie der Hubschrauber den See umrundet. »Sind Sie morgen hier?«, fragt er schließlich. »Sagen wir um halb zwei?«

»Ja, Sir.«

»Und Sie sind dann noch nicht aufgebrochen?«

»Nein, Sir.«

»Ich bringe Debbie jetzt nach Hause, und Sie sind wirklich morgen da?«

»Ja, Sir.«

»Ich gehe nirgends hin«, sagt Debbie. »Ziviler Ungehorsam.«

»Ziviler Ungehorsam hin oder her, wir jagen dich zum Teufel«, sagt Miguel, der rübergekommen ist, um zu helfen.

»Entspannt euch«, sagt Albin so langsam, dass es tatsächlich passiert.

Zu Reggie sagt er: »Um drei Uhr muss ich in Soudan sein. Also muss ich hier um halb drei fertig sein. Und mit ›fertig‹ meine ich, dass wir beide uns hingesetzt und Sie mir alles erzählt haben, was Sie für diese Sache geplant haben. Und mich davon überzeugen konnten, dass ich mir keine Sorgen zu machen brauche.«

»Ja, Sir.«

»Wie ich das sehe, tue ich Ihnen damit einen großen Gefallen. Sehen Sie das auch so?«

»Ja, Sir.«

»Also gut.« Albin öffnet die Beifahrertür seines Streifenwagens. »Mrs Schneke? Vorn oder hinten?«

Ich bin verwirrt.

Da, wo ich herkomme, meinen Polizisten, die von einem Gefallen sprechen und sagen, man müsste sie von irgendwas überzeugen, dass man sie bezahlen soll. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass sich so etwas hier abgespielt hat. Soweit ich das beurteilen kann, haben sich Albin und Reggie bloß für morgen Nachmittag verabredet.

Aber wenn in dem Hubschrauber der Schiedsrichter kommt, brechen wir dann nicht morgen früh auf? Und wenn das stimmt und Reggie den Sheriff bloß loswerden will, wie verzweifelt muss Reggie dann sein? Albin scheint vernünftig zu sein, aber er vertritt das Gesetz, und es ist dumm, ihn zu verarschen.

Der Hubschrauber fliegt einen weiten Bogen, um auf dem Parkplatz des Ladens zu landen, und wir stapfen alle nach oben, um ihn zu empfangen. Unterwegs versuche ich mich Violet zu nähern, doch sie wirft mir einen so abweisenden Blick zu, dass ich sie lieber in Ruhe lasse.

 

Es dauert eine Ewigkeit, bis die Rotoren zum Stillstand kommen. Man spürt, wie der aufgewirbelte Staub über einen hinwegfegt und die Hitze des Treibstoffs aus den Wellenturbinen strömt.

Der Parkplatz ist freigeräumt, und an der Highwayabfahrt wurde mit Hilfe von Leitkegeln ein Wendeplatz eingerichtet. Das Gelände wird von etwa zwanzig ernsten, gesund aussehenden jungen Leuten vom selben Schlag wie Davey und Jane bewacht. Die übrigen Angestellten des Ladens hat man nach Hause geschickt.

Schließlich klappt die Gangway des Hubschraubers auf den Boden. Drei Gorillas in schwarzem Anzug und mit verspiegelter Sonnenbrille steigen aus, einen Kopfhörer im Ohr, dessen Ringelschnur hinten in ihrem Kragen verschwindet. Sie gehen eine offenbar vorgeschriebene Sicherheitszone ab, blicken sich roboterhaft um und sprechen mehrmals in ihr Handgelenk. Ich wundere mich, dass Geheimdiensttypen – oder Leute, die so aussehen wollen – immer noch diese Kopfhörer benutzen. Es muss doch auch kleinere elektronische Hilfsmittel geben.

Einer von ihnen geht zu Reggie und spricht mit ihm. Dann ins Handgelenk. Ein vierter Gorilla steigt aus dem Hubschrauber und stellt sich neben die Stufen.

Zwei Mittzwanziger in Anzügen kommen herunter und stehen dann ebenfalls rum. Praktikanten oder Assistenten oder so was. Danach kommt Tom Marvell, der in Vegas als Zauberkünstler arbeitet.

Marvell, der als erster Schwarzer dauerhaft Topstar in einem Kasino ist, hätte ich wohl sowieso erkannt. Aber von einem Verbindungsmann im Justizministerium habe ich auch eine interessante Geschichte über ihn gehört.[53] Als Dominique Strauss-Kahn im Mai 2011 in New York verhaftet wurde und einer Anklage wegen sieben schwerer Straftaten entgegenblickte, soll eine französische Kanzlei versucht haben, Marvell anzuheuern, damit er Strauss-Kahn außer Landes brächte. Bei diesem Plan hielt man Strauss-Kahns Überführung von Riker’s Island in den Hausarrest für die günstigste Gelegenheit. »Marvell sollte ihn wohl in einen Taubenschwarm verwandeln oder so was«, hat mein Verbindungsmann gesagt.

Marvell ist als Schiedsrichter eine kluge Wahl. Er hat zwar nichts mit der Regierung zu tun, wie in Reggies Brief angekündigt, doch er ist so glamourös, dass die Leute wahrscheinlich darüber hinwegsehen. Eigentlich ist niemand so qualifiziert, einen Schwindel aufzudecken, wie er. Und die Vegas-Perspektive, die vermutlich für diese Pseudo-Geheimdiensttypen verantwortlich ist, kann auch nicht schaden.

Doch er läuft bloß an der Gangway herum, während immer mehr Leute aussteigen.

Zuerst ein hochgewachsener Mann in grauem Anzug und offenem Hemd, der aussieht wie ein Model in einer Uhrenreklame. Seltsam, aber der ist auf keinen Fall der Schiedsrichter: Er wirkt zu gelangweilt.

Als Nächstes kommt ein ungefähr vierzehnjähriges Mädchen, so hoch aufgeschossen, dass ein Erwachsener, der so dünn wäre, sofort ins Krankenhaus gebracht würde.

Es folgt ein weiterer Sicherheitsbeamter.

Und dann kommt Sarah Palin die Stufen herunter.