17 CFS Lodge, Ford Lake, Minnesota

Immer noch Samstag, 15. September

Um sechs Uhr früh sitze ich im Hinterzimmer der Empfangshütte am Schreibtisch und rufe Dr. Walter McQuillen an, in der Hoffnung, dass ich ihn beeindrucken kann und er noch so müde ist, dass er meine Fragen beantwortet.

»Praxis Dr. McQuillen.«

»Dr. McQuillen, hier spricht …«

Um diese Uhrzeit einen anderen Arzt anzurufen, ist ausgesprochen seltsam. Fast hätte ich gesagt: »Hier spricht Peter Brown.«

»Hier ist Lionel Azimuth. Ich dachte, ich könnte Ihnen vielleicht ein paar Fragen stellen.«

»Nicht jetzt. Ich will gerade los.«

»Es ist doch erst sechs.«

»Dann bin ich spät dran. Um sechs Uhr zweiundfünfzig geht die Sonne auf, und da muss ich schon auf der Hoist Bay sein. Ich würde Sie ja einladen mitzukommen, aber Fische riechen Pferdescheiße schon aus zwei Kilometer Entfernung.«

»Der war gut. Wie geht’s Dylan?«

»Er hat meine Praxis bei bester Gesundheit verlassen.«

»Und was ist mit Charlie Brisson?« Der Mann mit dem abgebissenen Bein.

McQuillen lacht.

»Schönen Tag noch, Doktor«, sagt er und legt auf.

 

In der Hütte liegt Violet auf dem Bauch und schläft, ein Knie angezogen, das Laken über ihre Schenkel gestreift. Der fünf Zentimeter breite Streifen ihrer schwarzen Baumwollunterwäsche sitzt genau über ihrer Muschi. Man kann die Pheromone zwischen den Zähnen zerknirschen.

Ich bemühe mich, meine Sachen zusammenzusuchen, ohne Violet zu wecken, aber gerade als ich gehen will, dreht sie sich um.

»Wo willst du hin?«

»Noch mal zu McQuillen.«

»Wie spät ist es?«

»Kurz nach sechs.«

»Ist er da schon wach?«

»Ich habe gerade mit ihm telefoniert.«

Nach einer Weile wird es zu einem Spiel, zu lügen, indem man die Wahrheit sagt. Wie beim Lösen eines Kreuzworträtsels.

»Kann ich mitkommen?«

»Schlaf. Bis du aufwachst, bin ich wieder da. Ich tanke die Mystery Machine auf.«

Sie reibt sich die Augen. »Lass das. Ich hasse Scooby-Doo

Ich sollte gehen.

»Warum?«, frage ich.

»Weil sich das verflixte Ungeheuer immer als Schwindel erweist. Immer ist es irgendein Versager in Nachtleuchtfarbe, der einem Yuppie Geld stehlen will, von dessen Existenz der gar nichts weiß. Die Einzige, die am Ende profitiert, ist Daphne.«

»Ist das die Blonde?«

»Sie hat rotes Haar. Sie lässt sich ständig entführen, weil sie nur dann kommen kann, wenn sie in den Arsch gefickt wird, während sie gefesselt ist.«

Jetzt sollte ich wirklich gehen.

»Woher weißt du das?«

»Hast du die Sendung denn noch nie gesehen?«

»Doch.«

»Der Blonde ist Fred. Daphnes Freund.«

»Und …«

»Daphne ist bei Fred frigide. Sie hat ihm mal einen runtergeholt und musste sich übergeben. Jedes Mal, wenn Fred zusammen mit Velma eine Falle für das Ungeheuer baut, fickt er sie zwischen die Titten und hat danach ein schlechtes Gewissen.«

Zu beobachten, wie sich Violet bei diesen Worten streckt, ihre Haut von der Kälte ganz glanzlos, ist surreal.

»Ich dachte, Velma wäre lesbisch«, sage ich.

»Das hat sie bloß Shaggy erzählt, damit er sie nicht mehr anbaggert. Sie würde es lieber mit dem Hund treiben.«

»Interessant. Jedenfalls …«

»Moment. Ich komme mit.«

Ich will gerade sagen, dass sie dableiben soll, aber sie steht schon auf. Als sie zum Bad geht, macht es mich sprachlos, wie sie ihre Unterwäsche wieder über den Hintern zieht und gleichzeitig ihre Brüste zurechtrückt.

Ich stelle mich neben die Badezimmertür, um das Ganze noch mal zu probieren. »Ich hätte eigentlich gedacht, dass du auf Geschichten mit rationalen Erklärungen stehst.«

»Machst du Witze?«, sagt sie. »Niemand tut das. Das ist wie bei dem beschissenen Zauberer von Oz, wo sich der Zauberer als Schwindler erweist, obwohl das Ganze sowieso nur ein Traum ist. Wer träumt schon von einem Zauberer, der sich als Schwindler erweist? Kein Mensch.«

»Aber was ist die Alternative – Twilight und Harry Potter? Jugendliche, die mehr über die Physiologie von Vampiren und Jesus Christus als über den Menschen wissen?«

»Uii, da ist heute früh aber jemand unleidlich.«

Sie betätigt die Wasserspülung und öffnet kurz darauf zähneputzend die Tür. Sie hat sexy Schlafringe unter den Augen.

»Erstens solltest du nicht an Twilight rumnörgeln, du mürrischer Opa. Zweitens glaube ich nicht, dass du Scooby-Doo als Biologielehrbuch hinstellen willst. Es geht dabei um einen sprechenden Hund.«

 

Bei McQuillen pflücke ich das Magnetschild mit der Aufschrift Bin angeln von der Praxistür, bevor Violet es sieht, und klingele demonstrativ an beiden Türen. Dann klopfe ich. Dann bitte ich Violet, ums Haus zu gehen und zu sehen, ob sie durch eins der Fenster irgendwas erkennen kann. Lasse den Plastikdietrich und den Spanner aus dem Futter meiner Brieftasche gleiten und entriegele das Schloss beim zweiten oder dritten Versuch.

Ich hätte Violet wirklich nicht mitnehmen sollen. Da sie nun mal dabei ist, muss ich entweder reingehen und wieder draußen sein, bevor sie irgendetwas merkt, oder mir eine gute Erklärung einfallen lassen. Hängt wohl davon ab, was ich in der Praxis finde.

Im Wartezimmer ist es dunkel, aber ich weiß ja, wo die Schreibtischlampe steht. In dem Zimmer dahinter stehen nur unbeschriftete Kartons: zu lästig, die zu durchsuchen. Ich gehe in den Flur.

Den größten Teil der Praxis kenne ich schon, zum Beispiel das Untersuchungszimmer, in dem Dylan untergebracht war, und den leerstehenden Raum. Im Flurschrank gibt es bloß Hausmeisterutensilien und Sanitätsartikel. Ich öffne die abgeschlossene Tür daneben, aber als ich die mit Teppichboden ausgelegte Treppe raufsteige, stehe ich plötzlich in einer Wohnung. Auf halbem Weg zwischen dem Ess- und dem Wohnzimmer, in dem grässlichen Déjà-vu gefangen, dass ich hier bin, um jemanden umzubringen. Ich gehe wieder in die Praxis runter und probiere die Tür am Ende des Flurs aus. Der Raum mit den Akten.

Dort finde ich einen Sessel vor, auf dem sich ein paar medizinische Zeitschriften und eine fast leere Flasche Johnny Walker Red Label befinden. Daneben ein Lampentisch mit einem gerahmten Foto: McQuillen, vor vielleicht vierzig Jahren, neben dem Schreibtisch in seinem Büro. Auf dem Schreibtisch eine Frau mit übereinandergeschlagenen Beinen.

Die Frau ist auf allen Fotos in diesem Raum. Manchmal allein, manchmal zusammen mit McQuillen. Nach ihrem Brillengestell zu urteilen, scheint sie McQuillens Leben, und vermutlich das Leben an sich, um 1990 verlassen zu haben.

Das Ganze ist schaurig, und aus einem unerklärlichen Grund mache ich mir um den alten Mann Sorgen, doch ich habe keine Zeit, darüber nachzudenken. Ich sehe im Medizinschrank nach, schnappe mir ein paar Sachen, die ich vergessen habe vom Schiff mitzunehmen, und widme mich dann den Akten. Zum Glück ist von allen Patienten McQuillens, die Brisson heißen, Charlies Akte am leichtesten zu finden. Sie ist am dicksten.

Charles Brisson ist vierundsechzig Jahre alt. Viel zu jung, um so auszusehen wie in dem Video. Noch so jung, dass McQuillens erster Eintrag aus der Zeit stammt, als Brisson vierzehn war.

Grund für den ersten Besuch: ständiger Durst und Hunger, gepaart mit Gewichtsverlust. McQuillen diagnostiziert Jugenddiabetes und verschreibt ihm ein Medikament, das ich nicht kenne, doch wahrscheinlich war es zinkverzögertes Schweineinsulin. Beim Durchblättern der Akte stelle ich fest, dass ihn McQuillen während der normalen Kämpfe und Krisen, die bei der Behandlung zuckerkranker Jugendlicher auftreten, ziemlich stabil gehalten hat.

Doch nach einer Weile kooperiert Brisson nicht mehr. Will unbedingt beweisen, dass noch mehr Scheiße über ihn hereinbrechen kann. Besonders unter seiner tätigen Mithilfe.

Das Ganze hat was von einem nicht besonders komischen Daumenkino. Mit Anfang zwanzig Autounfall unter Alkohol. Mit Ende zwanzig vom Trinken erhöhte Leberenzyme. Die ganze Zeit schlechte Zuckerkontrolle. Schon mit Mitte vierzig Beinamputation wegen Diabetesgangrän. Fünf Jahre später beginnendes Korsakow-Syndrom.

Scheiße, daran hätte ich vorher denken sollen. Beim Korsakow-Syndrom erfinden Menschen, deren Erinnerungen durch Thiaminmangel zerstört wurden – in Industrieländern gewöhnlich auf alkoholismusbedingte Unterernährung zurückzuführen –, unbewusst in Echtzeit neue Erinnerungen. Schon wenn man gegenüber jemandem mit Korsakow-Syndrom andeutet, dass etwas passiert sein könnte, ist es gut möglich, dass er sich plötzlich daran erinnert und die näheren Einzelheiten erzählt. Das hätte ich als Erstes in Betracht ziehen müssen.

Ich lege die Krankenakte zurück. Nehme mir die von Autumn Semmel und Benjy Schneke vor.

Die von Autumn umfasst zwei Seiten, auf denen es um eine Verstauchung des Knöchels vor vier Jahren geht. Anscheinend war McQuillen nicht ihr Hausarzt, was angesichts der Tatsache, dass sie in Ely wohnte, einen Sinn ergibt.

Benjys Akte beginnt mit seiner Geburtsurkunde vor achtzehn Jahren und endet mit einem Eintrag vor zwei Jahren, der bloß »TMBU« lautet.[50] Die Geburtsurkunde und auch der abschließende Eintrag sind in McQuillens unverwechselbarer, zittriger Handschrift unterzeichnet.

An die Rückseite von Benjys Akte ist ein brauner Umschlag geheftet, der McQuillen von der Kriminalpolizei in Bemidji zugeschickt wurde. Noch verschlossen.

Ich überlege, wie ich ihn öffnen kann, ohne dass es irgendwann auffällt, reiße ihn letztlich aber einfach auf.

 

Als ich wieder ins vordere Zimmer komme, steht Violet in der Tür und beugt sich vor, um ins Haus zu blicken, ohne über die Schwelle treten zu müssen. »Ist er da?«, fragt sie.

»Nein.«

»Und du bist trotzdem reingegangen?«

Ich ziehe die Tür hinter mir zu und gehe die Treppe runter. Ich will nicht mehr hier sein. Dass McQuillen zurückkommen könnte, weil er irgendwas vergessen hat, ist dabei meine geringste Sorge.

»Die Tür war nicht abgeschlossen«, sage ich. »Ich hab mir Sorgen um ihn gemacht.«

Wahr und doch falsch: Das ist nicht bloß ein Spiel. Das ist eine Geisteshaltung.

»Ist das nicht trotzdem Einbruch?«

»Nicht, wenn man nichts aufbricht.«

»Und bist du sicher, dass er nicht da ist?«

»Ich habe mich umgeschaut. Vielleicht hab ich die Uhrzeit falsch verstanden.«

Als ich den Wagen aufschließe, sieht sie den Umschlag in meiner Hand. »Und du hast was gestohlen

»Nur das hier. Das wird er gar nicht merken. Er hat den Umschlag nicht mal geöffnet.«

»Was ist das?«

»Das sag ich dir unterwegs.«

»Du kannst es mir nicht jetzt sagen? Du machst mir Angst.«

Ich mustere sie. Frage mich, ob sie mir die ganzen Lügen wirklich abgekauft hat oder bloß so höflich war, mich nicht zur Rede zu stellen.

»Das sind die Autopsiefotos von Autumn Semmel und Benjy Schneke.«

»Was?«

»Ja.«

Sie erbleicht. »Wie sehen sie aus?«

»Hätte McQuillen sie sich wirklich angesehen, wäre er sich jedenfalls nicht mehr so sicher, dass die beiden durch eine Bootsschraube ums Leben gekommen sind.«