Anlage F, Zweiter Teil Sang Do-Fluss, Südvietnam
Immer noch Montag, 24. Juli 1967
Reggie brüllt vor Angst. Es scheint also kein Albtraum zu sein: Seine Stimme funktioniert noch. Doch als er an sich hinabblickt, sieht er eine hellgrüne, einen Meter lange Kobra mit einem Giftzahn an seiner Feldjacke hängen. Sie ist so schwer wie ein Arm.
Reggie ist erstarrt. Die Schlange windet sich und zuckt wie eine Peitsche, spreizt die Haube und zieht sie wieder ein, kriegt ihr Maul aber nicht von Reggies Brust los. Während Reggie sie entsetzt anstarrt, steigt aus dem freien Zahn eine trübe weiße Flüssigkeit auf.
Einunddreißig von dreiunddreißig. Wie Reggie gehört hat, sind so viele in dieser Gegend beheimatete Schlangenarten giftig.
Aus dem Augenwinkel sieht er zwei Hände auf sich zukommen, doch er kann den Blick nicht von der Schlange wenden. Auch nicht, als die Hände sie am Hals packen und ihr mit einem Kampfmesser den Kopf abhacken.
Der Körper der Schlange windet sich zappelnd am Boden und verspritzt Blut, während er gegen Reggies nackte Schienbeine schlägt. Reggie versucht, dem zuckenden Tierleib aus dem Weg zu gehen, kann sich aber immer noch nicht vom Fleck rühren.
Der Lieutenant steht bloß mit dem Messer und dem Kobrakopf da und betrachtet die Giftzähne. Weiße Bläschen aus dem einen, rosafarbene aus dem anderen Zahn.
»Oh-ooh«, sagt der Lieutenant.
Reggie erwacht auf dem Dach des Ruderhauses. Strahlend blauer Himmel.
Etwas Schweres liegt auf seiner Brust. Es hebt sich. Es ist der Kopf des CPO, der Mund blutverschmiert. Reggie schreit auf.
»Halten Sie still«, sagt der CPO. »Ich sauge das Gift aus.«
Der CPO macht weiter. Oder auch nicht. Reggie spürt nichts. Die Vorderseite seines Körpers ist ein einziger pulsierender Schmerz.
Der CPO hebt den Kopf und spuckt etwas aus. Ein paar Spritzer landen auf Reggies Hals. Dann, als wäre es ihm erst nachträglich eingefallen, beugt sich der CPO über den Rand des Ruderhauses und übergibt sich. All das macht Reggie nichts aus, solange er sich nicht bewegen muss.
»Moment«, sagt der CPO und wischt sich den Mund ab. »Ich hole das Antivenin.«
Er verschwindet aus Reggies Blickfeld, wird aber sofort durch den Lieutenant ersetzt, der sich vorbeugt, Reggies Brust anstarrt und dann mit den Worten aufsteht: »Das kann er nur überleben, wenn der Zahn nicht die Brustwand durchdrungen hat.«
»Wie wär’s mit ein bisschen Morphium?«, fragt der CPO, der schon wieder neben Reggie kniet. Reggie spürt, wie eine Wärme durch seinen Körper fließt, die den Schmerz zwar nicht beenden kann, ihn jedoch aussperrt, als wäre Reggie gesund, und der Schmerz stünde wie ein Tablett auf seiner Brust.
»Atmen!«, brüllt der CPO. Hat Reggie denn zwischendurch aufgehört? Er atmet.
Als der Schmerz so weit abgeklungen ist, dass Reggie sich konzentrieren kann, hört er, wie sich der Lieutenant und der CPO ganz in der Nähe streiten.
»Wir lassen ihn in dem Dorf«, sagt der Lieutenant.
»Gibt es da jemanden, der sich um ihn kümmern kann?«, fragt der CPO.
»Lassen Sie mich nicht im Dorf«, versucht Reggie zu sagen, doch es strömt keine Luft zwischen seinen Lippen hervor.
»Wollen Sie etwa den Befehl verweigern?«, fragt der Lieutenant den CPO.
»Nein, Sir«, sagt der CPO mit einem wütenden Sarkasmus, wie ihn Reggie noch nie von ihm gehört hat. »Ich möchte bloß wissen, was für einen Sinn es hat, ihn die ganze Strecke zum Dorf zu bringen. Warum werfen wir ihn nicht einfach in den Fluss?«
Der Lieutenant blickt Reggie an. Sieht, dass Reggie ihnen zuhört. Kauert nieder, um mit ihm zu reden.
»Junge, wir können Sie nicht auf die Mission mitnehmen. In keinem der Ruderhäuser ist Platz für Sie, und bei einem Feuergefecht können Sie nicht an Deck liegen. Ich kann auch niemanden bei Ihnen zurücklassen. Sie wissen ja, dass ein E-4 nicht den Abbruch einer Mission rechtfertigt.«
Reggie fragt sich, ob es nötig ist, darauf zu antworten.
»Es ist für Sie – und auch für uns – ungefährlicher, wenn Sie im Dorf bleiben. Und wir müssen Sie schnell dort hinbringen, damit wir uns noch rechtzeitig in den Hinterhalt legen können. Ende der Diskussion, okay?« Der Lieutenant blickt den CPO an. »Ende der Diskussion.«
Der CPO und der Steuermann seines Bootes heben Reggie in seiner Stofftrage übers Wasser, zählen bis drei und lassen ihn dann in das Aluminiumkanu hinab, das in der Nähe des Dorftempels liegt. Natürlich: Gott verhüte, dass Reggie irgendwann vor seinem Tod noch mal aus dem Wasser kommt. Der CPO zieht das Kanu dicht an den Steg und legt eine Feldflasche und eine eiserne Ration neben Reggies Körper. Breitet ein Moskitonetz über ihn.
Bevor er Reggies Gesicht abdeckt, blickt sich der CPO um. Sagt: »Scht. Machen Sie den Mund auf. Strecken Sie die Zunge raus.«
»Was …?
»Los, schnell.«
Reggie gehorcht. Der CPO berührt mit seiner rauen, salzigen Fingerspitze Reggies Zunge. Als er die Hand zurückzieht, bleibt etwas auf Reggies Zunge liegen. Er streift es mit den Schneidezähnen von der Zunge und rollt es zusammen: Papier, so was wie die Punkte beim Ausleeren eines Lochers.
Reggie schwört, wenn er so lange lebt, dass er noch mal einen Locher benutzen kann, wird er versuchen, ihn mehr zu würdigen. Jegliche Schreibwaren zu würdigen.
»Schlucken Sie’s runter«, sagt der CPO und gießt nach Plastik schmeckendes Wasser aus der Feldflasche in Reggies noch immer geöffneten Mund. Reggie verschluckt sich, bekommt das Stück Papier aber zusammen mit dem Wasser hinunter. Zumindest spürt er es nirgends mehr. Der CPO legt die Feldflasche wieder neben ihn und zieht das Netz über seinen Kopf.
»Was ist das?«, fragt Reggie.
»LSD«, sagt der CPO. »Das hat mir meine Frau unter einer Briefmarke geschickt. Ich hatte Angst, es auszuprobieren, aber vielleicht hilft es gegen Ihre Schmerzen.«
Dann zieht der CPO das Netz noch mal runter und greift in Reggies Hemd, um die Schnur rauszuholen. »Tut mir leid«, sagt er. »Hab vergessen, mir die Schlüssel zu nehmen.«
Als Reggie aufwacht, schlägt er das Netz zurück, denn seine Augen und seine Kehle brennen von dem DDT, mit dem es imprägniert wurde. Er versucht den Kopf zu heben, aber sein Hals ist dick, wie aus Lehm, und ein Schmerz schießt durch seine Brust. Doch sein Kopf ist jetzt klarer.
Viel klarer. Vor dem Himmel kann er den Bambus sehen, und obwohl es schon Abend ist, sieht Reggie jeden einzelnen Stab – auch die, die sich hinter der vordersten Reihe befinden. Er weiß, dass sie da sind, denn das ist eine logische Schlussfolgerung. Und was ist der Unterschied zwischen dieser Schlussfolgerung und sie mit eigenen Augen zu sehen?
Es ist wie beim Wasser. Im Augenblick kann Reggie kein Wasser sehen. Aber er weiß ganz genau, dass welches da ist. Und wie viel sieht man vom Wasser überhaupt? Nur die Oberfläche – den unbedeutendsten Teil, den es bereitwillig mit anderen teilt.
Das Wasser lässt das Kanu augenblicklich an seiner Oberfläche liegen. Es zieht das Kanu nicht in die Tiefe, spuckt es aber auch nicht aus. Es ist einfach etwas Eigenes. Das sich seine Fläche mit anderen teilt, aber rein bleibt. Es ist dasselbe, was Reggie gerade mit den Stechmücken tut: Er überlässt ihnen friedfertig ihr Millionstel von sich selbst. Aber was ist das für ein Gesang?
Reggie konzentriert sich. Er bildet sich den Gesang nicht ein. Er kann ihn hören, meint er, er beruht nicht auf einer Schlussfolgerung. Es sind Männer. Nicht viele, aber ganz in der Nähe. Und sie singen.
Plötzlich dringt ein gotterbärmliches Quieken an sein Ohr, als würde einem Geschöpf das Leben entrissen. Er hört ein Platschen, und dann verstummt das Quieken und wird von einem unheimlichen Schnüffeln abgelöst. Dann folgt ein noch lauteres Platschen, und auch das Schnüffeln hört auf.
Und die ganze Zeit ertönt der Gesang.
Reggie kommt sich plötzlich vor wie ein Missionar, der darauf wartet, dass ihn die Eingeborenen in ihrer Suppe kochen oder ihn an einen Pfahl binden und mit Speeren nach ihm werfen.
Auf einmal ist das Quieken wieder zu hören. Jetzt muss sich Reggie die Sache ansehen.
Mit den Füßen schiebt er sich im Kanu weiter nach oben. Als er sich aufrichten will, wird er von den Schmerzen in der Brust beinahe ohnmächtig, doch irgendwie weiß er, dass das, was sich hier abspielt, möglicherweise der Tod ist. Was macht es da schon, wenn ihn der Schmerz durchströmt wie die Flüsse des Deltas, auf dem er treibt? Das ist kein psychedelisches Gedicht, du Schwachkopf. Das ist der Tod.
Durch seine Anstrengungen beginnt sich das Boot zu drehen. Er kann den Rand des Steintempels sehen. Dann den Eingang. Mehrere Männer hocken im Lotussitz auf der Plattform vor dem Gebäude, in T-Shirts und Lendenschurzen. Sie singen. Der Mann am Ende der Reihe hat einen Sack. Er zieht ein Ferkel daraus hervor. Es quiekt.
Die Männer reichen das strampelnde Ferkel die Reihe entlang. Reggies Kanu dreht sich, als wollte es ihm folgen. Als das Ferkel bei dem Mann am Ende der Reihe ankommt, nimmt er es, berührt es mit der Stirn und wirft es dann mit beiden Händen aufs Wasser hinaus.
Das Ferkel schreit, während es durch die Luft fliegt. Es landet mit den Hufen voran im Wasser, taucht sofort wieder auf und paddelt jämmerlich schnaufend, um zu einem der Seerosenblätter zu gelangen – als könnte so ein Blatt das Gewicht des Tieres tragen.
Plötzlich steigt etwas Riesiges hinter dem Ferkel im Wasser auf und verschlingt es.
Das Ungetüm ist mindestens so lang wie die Reihe der Männer. Es muss riesig sein, denn im selben Augenblick, als das Maul mit den entsetzlichen Zähnen aus dem Wasser auftaucht und das Ferkel verschlingt, bildet sich eine starke Welle, die halb so lang wie die Plattform ist und Reggies Kanu zum Schaukeln bringt.
Der Tempel verschwindet aus Reggies Blickfeld. Er sieht nur noch Bambus und den sich verdunkelnden Himmel.
Innerlich schreit er.
Doch, wie er merkt, nicht nur innerlich.