14 CFS Lodge, Ford Lake, Minnesota,

Freitag, 14. September – Samstag, 15. September

Die E-Mail von Robby, dem australischen Typen, der mich als Schiffsarzt vertritt, endet mit den Worten: »Fick dich, Kumpel«, was ich als gutes Zeichen deute. Zumindest ist er noch an Bord.

Ärzte auf Kreuzfahrtschiffen sind irgendwann so ausgebrannt, dass sie entweder Märtyrer werden oder sich in Caligula verwandeln. Ich habe mich für Robby entschieden, weil ich dachte, er würde so lange wie möglich in der Spur bleiben, bevor er sich zum Märtyrer entwickelt. Die Friedenskorps-Typen behandeln die Patienten einfach besser als die Love Boat-Typen.

Ich habe mich bemüht, ihm genaue Anweisungen zu hinterlassen, zum Beispiel, wie man gegenüber dem Kapitän argumentiert, wenn man einen Herzinfarkt-Patienten mit dem Hubschrauber abtransportieren lassen will, obwohl er keine entsprechende Versicherung hat, wie man Vorräte stiehlt und wo man sie angesichts der Tatsache versteckt, dass die Crewmitglieder den Behandlungsraum der Mannschaftsklinik zum Vögeln benutzen.[40] Ich habe ihm gesagt, er soll bei Hochzeitsreisenden auf gewalttätige Männer achten, weil das Sicherheitspersonal die Anweisung hat, sich in solchen Fällen nicht einzumischen.[41] Und ich habe ihn davor gewarnt, den Ersten Schiffsarzt Dr. Munoz zu stören, wenn er gerade im Ballsaal mit den alten Damen tanzt, denn das kann Dr. Munoz nicht ausstehen, und außerdem ist er inkompetent. Doch Robby hat trotzdem ständig Fragen, über Dinge, die ich ihm aus Vergesslichkeit nicht gesagt oder absichtlich verschwiegen habe, um ihn nicht abzuschrecken.

Im Büro der Empfangshütte, wo mir Reggie erlaubt hat, ins Internet zu gehen, beantworte ich seine neuesten Fragen und wünsche ihm möglichst aufrichtig alles Gute, angesichts der Tatsache, dass ich ihn bloß geködert habe, damit ich dem Job entrinnen konnte. Und um was zu tun – Urlaub zu machen?

Oh, stimmt: um so viel Geld zu verdienen, dass ich mich irgendwie aus einer Mafia-Vendetta freikaufen kann. Und um einen Plan zu entwickeln, wie ich das anstellen soll.

Ich habe mir wirklich darüber Gedanken gemacht. Hauptsächlich darüber, David Locano im Gefängnis ermorden zu lassen. Aber selbst wenn Locano zu seinem Schutz nicht in Isolationshaft sitzt, müsste ich einen Auftragskiller finden, der ihn umbringt. Und soweit ich weiß, gibt’s den nicht.

Im wirklichen Leben ist es sogar fast unmöglich, einen Auftragskiller, der nicht im Gefängnis sitzt, persönlich anzuheuern. Oder auch nur zu kontaktieren. Egal, wie Sie übers FBI denken und wie berechtigt das ist, einen freischaffenden Killer finden die FBI-Leute genauso leicht wie einen Trottel, der seine Frau umnieten lassen will. Alle echten Auftragskiller, von denen ich je gehört habe, ob im Gefängnis oder auf freiem Fuß, haben sich bemüht, für möglichst wenige Leute zu arbeiten, im Allgemeinen innerhalb derselben Abteilung derselben Mafia. Gewöhnlich eine Mafia, die mich tot sehen will.[42]

In Wahrheit habe ich keinen Plan. Ich habe auch keinen Plan, einen Plan zu entwickeln. Und schon wenn ich daran denke, bin ich träge und frustriert.

Stattdessen sehe ich mich nach etwas um, das ich tun kann.

Vermutlich sollte ich in dem Büro nach Beweisen für Reggies Schuld am Tod der zwei Jugendlichen und der beiden Männer, die erschossen wurden, suchen. Zum Beispiel einem Tagebuch oder einer Tasche, in der ein Fleischwolf und ein Jagdgewehr liegen.

Auf dem Schreibtisch steht ein gerahmtes Foto, aber Reggie ist nicht mal drauf. Es zeigt drei Leute am Pier des CFS-Jachthafens: ein Paar Ende dreißig und eine Jugendliche, die eindeutig die Tochter der beiden ist. Vater und Tochter rosig und rötlichblond, die Mutter mit dunklem Haar und statt Sommersprossen sonnengebräunt. Alle drei voller Leben und lächelnd.

Das Mädchen habe ich schon mal gesehen. Es ist das Mädchen aus dem Video, das nicht auf die Frage antworten will, ob sie das Ungeheuer schon mal gesehen hat, schließlich aber doch eine Antwort gibt. Das legt die Vermutung nahe, dass ihr Vater der nicht im Bild zu sehende Fragesteller und auch der Erzähler des Videos ist. Das wiederum würde erklären, warum das Video nicht fertiggestellt wurde.

Denn diese Leute sind offensichtlich die Semmels. Die Tochter ist Autumn, der Vater Chris junior und die Mutter wie auch immer seine Frau hieß. Oder heißt, denn im Gegensatz zu Autumn und Chris junior ist sie wahrscheinlich noch am Leben.

Aus einer Laune heraus versuche ich sie im Internet aufzuspüren. Ich bekomme ihren Namen heraus – Christine[43] –, aber darüber hinaus kann ich nichts finden. In meiner E-Mail an Rec Bill wegen des nicht erschienenen Schiedsrichters bitte ich ihn, falls er sich entscheidet, die Sache durchzuziehen, mir auch Christine Semmels Kontaktdaten zu besorgen. Nicht dass ich wirklich rechtfertigen könnte, ihr ein Gespräch aufzuzwingen.

Danach schicke ich einen kurzen Bericht an Professor Marmoset. Ich bezweifle, dass er ihn liest. Wenn man Professor Marmosets Aufmerksamkeit erregt, ist das, als würde man vom Blitz erschlagen, während man von einem Bär angefallen wird, nur überraschender. Aber das scheint zum guten Ton zu gehören.

Dann verschwinde ich endlich aus dem Büro.

 

Als ich aufwache, steht Violet brüllend vor mir, weil ich bei ihr einen Armhebel angesetzt habe. Überrascht lasse ich sie los.

»Verdammte Scheiße!«, sagt sie.

»Tut mir leid.«

»Ich wollte dich bloß wecken. Du hast geschrien.«

»Wirklich?«

Ich versuche, einen klaren Kopf zu bekommen. Wir sind in unserer Hütte, kein Licht außer dem, das von draußen hereinfällt. Als Violet vor einer Weile zurückkam, habe ich mich schlafend gestellt, bis ich sie schnarchen hörte. Dann muss ich ebenfalls eingeschlafen sein, denn jetzt liege ich schweißnass in meinem Bett, und sie tritt einen Schritt zurück und hält sich den Arm. In ihrer Unterwäsche.

Schwarze Baumwolle. Bestehend aus einem Sport-BH und einem Slip, der so gerade wie ein Zensurbalken auf ihrer Hüfte sitzt.

»Alles in Ordnung?«, frage ich.

»Ja, geht schon. Du hattest einen Albtraum.«

»Scheint so.«

»Worum ging’s denn?«

»Weiß ich nicht mehr.«

In dem Traum waren wir beide nackt im Wasser eines kristallklaren Bergsees, nichts zwischen uns und den Felsen auf dem Grund. Bis ich den Kopf ins Wasser tauchte und sah, dass es ganz trüb war und von Meeresgetier wimmelte, darunter auch Aale mit Piranhaköpfen, die aus allen Richtungen auf uns zuschwammen.

Ich steige aus dem Bett. Violet zuckt zurück und wirkt dann so verlegen, als hätte sie meine Gefühle verletzt. Mein Gott.

»Was macht dein Arm?«, frage ich.

»Tut nicht mehr weh.«

»Wirklich?«

»Ja.«

Wir stehen eine Weile da und verschnaufen.

»Wie war’s im Kasino?«, frage ich, um sie nicht nur anzustarren.

»Amüsant. Du hättest mitkommen sollen. Wayne Teng und sein Bruder haben Roulette gespielt. Es war wie in Rain Man, nur dass die beiden verloren haben. Und Tyson Grody war echt süß. Er hat mit den Touristen und den Kellnerinnen posiert, obwohl er weder gespielt noch was getrunken hat. Er hat mich gefragt, ob ich noch dableiben und mich mit ihm und ein paar Kellnerinnen in einem der Hotelzimmer vergnügen will.«

»Wow«, sage ich. »Das ist wirklich süß.«

»Sei nicht eifersüchtig. Andererseits, warum nicht?«

»Hast du seine Musik schon mal gehört?«

»Sie gefällt mir«, sagt Violet. »Ich hab viele seiner Songs auf meinem iPod. Was ist?«

»Nichts. Hast du gefragt, warum er hier ist?«

»Ja. Er ist Tierschützer. Er will sicherstellen, dass William das White Lake Monster nicht ausgebeutet wird.«

Das ergibt Sinn. Der Junge wuchs wahrscheinlich in einem Käfig am Fußende des Betts seiner Eltern auf, und wurde nur für seine Michael-Jackson-Tanzstunden und Boygroupcastings rausgelassen. Dass er sich mit einem bedrohten seltenen Tier identifiziert, egal welche Freiheiten er jetzt hat, ist nicht so überraschend. Dann wischt sich Violet das Haar aus dem Nacken, enthüllt ihren großen Kopfwendermuskel, und ich vergesse Grody.

»Hast du was gesagt?«, fragt sie.

»Nein.«

»Ist das eine Erektion?«

»Nein, das ist bloß ein Stuffy.«

»Und was ist das?«

»Ein Penis, der so in der Unterhose steckt, dass es wie eine Erektion aussieht.«

»Echt? Darf ich ihn mal anfassen?«

»Nein.«

»Wieso nicht?«

»Weil er sich gerade in eine Erektion verwandelt.«

Violets Lippen öffnen sich hörbar. Sie lässt die Arme sinken, und ihre hautenge Unterwäsche ist zu sehen. Sie sieht aus wie eine Superheldin.

Sie schiebt die Hüften vor. Ich brauche bloß noch die Hand auf ihr Schambein zu legen. Das tue ich auch, greife nach ihrem Venushügel und hebe sie hoch. Lege die andere Hand auf ihren Rücken und ziehe sie an mich. Unsere Lippen und Zähne drücken sich aufeinander, die Wangenknochen stoßen zusammen.

Plötzlich knackt draußen vor dem Fenster ein Zweig.

Während ich Violet zu Boden werfe, fällt über uns Licht ins Zimmer.