24 Lake Garner/White Lake Boundary Waters-Kanugebiet, Minnesota

Immer noch Mittwoch, 19. September

»Klopf, klopf«, sagt jemand.

Ich lehne an einem Baum, obwohl ich mich nicht mehr erinnern kann, mich dagegen gestützt zu haben. Ohne Neoprenanzug, angekleidet, angeblich auf der Suche nach Bell, habe ich in Wirklichkeit die Gelegenheit ergriffen, von den anderen wegzukommen. Besonders von Violet, die wütend ist, weil ich ihr nicht gesagt habe, dass ich im See schwimmen will, und weil sie glaubt, ich würde ihr verheimlichen, was ich dort gesehen habe.

Ich habe es ihr zu erklären versucht: nur weil ich was gesehen habe, heißt das nicht, dass es auch da war.

»Wie geht’s Ihnen? Ich habe Sie gesucht.«

Natürlich ist es Sarah Palin. Glasiger, fiebriger Blick und ein Lächeln, das mal da und mal weg ist. Einer ihrer Sicherheitsleute stellt sich mit dem Rücken zu uns unten am Ufer des Lake Garner auf.

»Mir geht’s gut, danke«, sage ich.

»Ich hab gehört, Sie haben es gesehen.«

»Ich hab nichts gesehen.«

»Wie sah es aus? War es angsteinflößend?«

»Wie gesagt …«

»Hat es geredet?«

Ich starre sie an. Jegliche Hoffnung, dass Palin mir das Gefühl geben würde, zumindest vergleichsweise zurechnungsfähig zu sein, schwindet rasch. »Nein. Es hat eindeutig nicht geredet. Warum sollte es?«

»Aber Sie haben es gesehen.«

Ich bin kurz davor loszulachen. »Was auch immer da unten passiert ist, jedenfalls habe ich nichts gesehen. Ich bin vor etwas geflüchtet. Eher vor nichts geflüchtet.«

»Hey, seien Sie mal nicht so streng zu sich! Es ist böse. Es soll Ihnen kein gutes Gefühl geben.«

»Mrs Palin, wenn Sie mir was sagen wollen, dann tun Sie’s doch einfach.«

»Nennen Sie mich Sarah. Oder Frau Gouverneurin. Ich bin keine dieser Feministinnen.«

»Dann Sarah. Wovon reden Sie?«

»Begreifen Sie immer noch nicht?«

»Nein.«

Sie kaut auf der Lippe. »Dann weiß ich nicht, ob Reverend John einverstanden wäre, dass ich’s Ihnen sage.«

Der Typ, der eine FBI-Agentin nicht von einer Straßennutte unterscheiden kann?

Ich weiß, dass das, was ich sagen will, manipulierend ist, aber ich bin schlecht gelaunt. »Sarah, vielleicht gibt es ja einen Grund, warum Reverend John nicht mehr bei uns ist.«

Sie nickt langsam und denkt darüber nach. Schließlich fragt sie: »Haben Sie die Stelle gelesen?«

»Bei Jesaja? Hab ich.«

»Haben Sie das Ganze verstanden?«

»Ich weiß nicht genau. Geht es darum, dass es im White Lake eine Art Seeschlange gibt?«

Sie nickt.

»Und dass der Verfasser des Buches Jesaja irgendwie davon wusste?«

»Und der Verfasser der Offenbarung. Und der Genesis. Ich meine, Ihr Volk kennt sich doch mit der Genesis aus.«

Mein Volk kennt sich auch mit der Offenbarung aus, hauptsächlich aus den fünftausend Horrorfilmen, die wir darüber gedreht haben, aber egal. »Sie reden von Jonas und dem Wal?«, frage ich.

Sie wirkt verärgert. »Ich rede von der Genesis

Da kommt Jonas meines Wissens nicht vor.

»Sie wissen schon – Adam und Eva?«, sagt sie. »Das Tier?«

»Sie meinen, das White Lake Monster ist die Schlange aus dem Paradies?«

»Nein.« Sie blickt sich um. Senkt die Stimme zu einem Flüstern. »Ich meine, es ist das Tier

Normalerweise würde ich das hier nehmen, wie’s kommt. Das Ganze abnicken und den Rückzug antreten. Aber im Augenblick habe ich das seltsame Bedürfnis, dass alles einen Sinn ergibt.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es eine Schlange war«, erwidere ich.

»In der Bibel wird es bloß als Tier bezeichnet. Dann gibt es Eva die verbotene Frucht, und Gott verwandelt es in eine Schlange. Gott sagt: ›Du sollst ab jetzt im Staub kriechen.‹ Aber das muss nach der Vertreibung von Adam und Eva aus dem Paradies sein, denn warum gibt es sonst Staub? Mit der verbotenen Frucht ist es dasselbe: Alle glauben, es war ein Apfel, aber in der Bibel steht nirgends, dass es ein Apfel war. Und in der Bibel ist sonst von Äpfeln durchaus die Rede. Genau wie alle glauben, in der Bibel stünde etwas von den drei Weisen …«

»Ich hab’s kapiert«, sage ich. »Aber wenn das Tier keine Schlange war, was denn dann?«

»Genau das ist die Frage. Was war es?«

»Das frage ich Sie.«

»Ich weiß es nicht. Wir haben bloß Hinweise. Haben Sie schon mal von der Zahl des Tieres gehört?«

»Sechshundertsechsundsechzig?«

In körperlicher Hinsicht könnte ich vermutlich wegrennen.

»Also, es sieht nur aus wie sechshundertsechsundsechzig.«

Doch angeblich joggt sie.

»Und ist in Wirklichkeit neunhundertneunundneunzig?«

»Seien Sie nicht albern. Nein.« Palin blickt sich wieder um, dann streckt sie die Hand aus und bricht von einem grünen Zweig einen Stock ab, obwohl unsere jungen Guides uns drei Tage lang eingeschärft haben, dass wir so was nicht tun sollen. Zeichnet damit, ohne abzusetzen, drei von rechts nach links verlaufende, diagonal untereinander angeordnete Sechsen. Das Ganze sieht aus wie eine Spirale.

»Was ist das?«, fragt sie.

»Schamhaar?«

»Dr. Lazarus!«

»Keine Ahnung. Was denn?«

»Wie wär’s mit einem DNA-Strang?«

Ich sehe mir die Zeichnung an. »Na ja, normalerweise wird DNA durch zwei Stränge dargestellt, aber in diesem Maßstab würde es wahrscheinlich wie einer aussehen. Und eigentlich bildet sie keine Linie. Es gibt wohl auch einsträngige DNA …«

Sie klatscht in die Hände.

»Was ist?«

»Sie wissen es doch«, sagt sie. »Sie glauben vielleicht, dass Sie’s nicht wissen, aber Sie wissen es.« Sie ahmt mich nach: »›Normalerweise wird DNA durch zwei Stränge dargestellt. Vielleicht ist es einsträngige DNA.‹« Das ist nicht angenehm. »Aber was, wenn es bloß ein Strang von doppelsträngiger DNA ist?«

»Keine Ahnung«, sage ich. »Dann fehlt einer?«

»Genau. Der dazu passende. Wissen Sie, wofür das ›H‹ in ›Jesus H Christus‹ steht?«

Kein Hinweis, dass das eine seltsame Überleitung sein könnte.

»Ich weiß nicht genau«, sage ich. »Das ist ein eta, das lange ›E‹ im Griechischen. Der Name Jesus wird in der griechischen Bibel mit IHS abgekürzt, weil das seine drei ersten Buchstaben sind.«

Noch ehe ich ausgeredet habe, tut Palin das schon mit einem Schulterzucken ab. »Könnte sein, aber wissen Sie, was ›haploid‹ bedeutet?«

Leider ja. »Es bedeutet, dass etwas nur einen einfachen Chromosomensatz hat, wie ein Spermium oder ein Ei.«

Sie nickt.

»Sie wollen behaupten, Jesus hat nur einen einfachen Chromosomensatz?«

Sie fasst mich am Arm. »Ja. Weil er zur Hälfte Maria ist und zur Hälfte Gott. Und Gott hat keine Chromosomen. Deshalb ist Jesus das Bindeglied zwischen der Menschenwelt und dem Himmel. Und darum musste er für seine Zeit auf der Erde eine provisorische Seele haben, die wir den Heiligen Geist nennen. Aber jetzt kommt’s.«

Ich warte mit dem nicht unangenehmen Gefühl darauf, dass es alles sein könnte. Zum Beispiel eine Gummiente.

»Wo ist die andere Hälfte der DNA? Der Strang, der zu diesem hier passt?«

»Keine Ahnung.«

»Er ist das Gegenteil.«

»Okay.«

»Wer hat ihn?«

»Das weiß ich immer noch nicht.«

»Der andere.«

»Der andere?«

»Deshalb wird er der Anti-Christ genannt. Sie wissen, von wem ich rede.«

»Vom Teufel?«

»Von dem Tier.« Sie deutet auf die Spirale, die sie gezeichnet hat. »Sehen Sie? Warum, glauben Sie, sieht das so aus?«

»Sie meinen, wie eine Schlange?«

»Wir sind fast an dem Punkt angelangt, an dem sich Menschen durchs Klonen wiedererschaffen können. Das heißt, dass sie nur einen einzigen DNA-Strang brauchen statt einen von jedem Elternteil. Und sie glauben, das macht sie unsterblich. Aber es ist die falsche Unsterblichkeit, denn es bedeutet bloß, dass niemand ins Himmelreich kommt. Weil der Baum der Erkenntnis nicht der Baum des Lebens sein darf.«

»Klonen?«, frage ich.

»Doch wir werden das nicht zulassen. Sie und ich. Und wissen Sie was? Wir sind dazu ausersehen.«

Ich sehe sie an. Das »wir« gibt der Sache einen neuen Dreh.

»Wozu denn?«, frage ich.

»Es zu töten.«

»Ein Stück DNA zu töten?«

»Das Tier zu töten.«

Sie stellt sich auf die Zehen, nimmt mein Gesicht in beide Hände und küsst mich. Fest und unerotisch, wie eine Begrüßung zwischen Hooligans in einem europäischen Land, das man noch nie besucht hat.

»Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagt sie. Als sie einen Schritt zurücktritt, sieht sie etwas am Rand ihres Blickfelds und dreht sich um.

Es ist Violet Hurst, die uns anstarrt. Palins Bodyguard ziemlich verlegen hinter ihr.

Palin schlägt die Hände vors Gesicht und läuft mit den Worten »Es ist nicht so, wie es aussieht, ganz und gar nicht!« zum Lager zurück.

»Ist mir völlig egal, ganz und gar!«, ruft ihr Violet nach.

»Sie hat recht«, sage ich.

»Das geht mir sonstwo vorbei. Ganz im Ernst. Ich hab bloß nach dir gesucht, um zu fragen, ob du Bell entdeckt hast. Anscheinend nicht. Danke fürs Suchen.«