21 Camp Fawn See Ford Lake, Minnesota

Samstag, 15. September – Sonntag, 16. September

Während ich dasitze und das Telefon anstarre, ohne was Sinnvolles zu denken, höre ich, wie die Hüttentür aufgeht. Lehne mich zurück, um nachzusehen.

Es ist einer von Palins Sicherheitsleuten. Seit etwa einer Stunde regnet es stark, und er hat eine Baseballkappe, aber keine Sonnenbrille auf, wodurch er wie ein anderer Mensch aussieht.

Ich habe irgendwie gedacht, Palin wäre mit den anderen zum Kasino gefahren, doch wenn niemand wissen soll, dass sie in Ford ist, erscheint es plausibel, dass sie darauf verzichtet hat.

»Was ist?«, frage ich.

Er grunzt nur etwas, das klingt, als würde es von einer obszönen Beckenbewegung begleitet. Ich bin mir nicht sicher, warum es nicht so ist, denn außer uns ist niemand im Raum, und wer würde mir schon glauben, dass der Typ eine obszöne Beckenbewegung vollführt hat? Doch er sieht sich nur um, wirft einen Blick hinter den Schreibtisch und ins Büro und sagt dann in sein Handgelenk: »Er ist im Empfangsgebäude. Alles in Ordnung. Fenster grün, Fenster rot. Ich komme jetzt raus.«

Soweit ich sehen kann, sind beide Fenster geschlossen und bieten einen ungehinderten Blick.

»Was bedeutet ›Fenster grün, Fenster rot‹?, frage ich.

Der Mann geht.

Ich warte noch ein, zwei Minuten, doch als nichts passiert, stehe ich auf und sehe mir die Bücher auf dem Ausleihregal an. Ich würde gern wieder in meine Hütte gehen, aber Violet und ich haben seit heute Nachmittag nicht mehr darüber gesprochen, und ich weiß nicht genau, ob es noch meine Hütte ist.

Ich nehme irgendein Taschenbuch zum Sofa mit und lege mich hin, um zu lesen. Als ich auf der zweiten oder dritten Seite bin, geht plötzlich die Tür auf, und Sarah Palin kommt mit ihrer jungen Verwandten herein.

»Dr. Lazarus! Wir haben gehört, dass Sie hier sein sollen.«

»Von wem denn bloß? Aber ich heiße Azimuth.«

Sie lächelt. Genau wie vorher ist es seltsam, in ihrer Nähe zu sein. Wie vermutlich mit jedem anderen, den man so oft mechanisch reproduziert gesehen hat.

»Dürfen wir Sie um einen wirklich großen Gefallen bitten?«, fragt sie.

Sie stehen immer noch an der Tür. Ich setze mich auf. »Klar.«

»Sandisk muss ihre Chemiehausaufgaben machen. Mein Dad hat zwar Naturwissenschaften unterrichtet, aber von diesen Genen hab ich wohl nicht viel abgekriegt. Und da dachten wir, Sie als Arzt und alles … könnten Sandisk vielleicht bei den Hausaufgaben helfen.«

Ich bin überrascht. Dass ihr Vater Naturwissenschaften unterrichtet hat und dass sie an Genetik glaubt.

Vielleicht habe ich die Frau falsch eingeschätzt.

»Ich kann’s gern versuchen«, erwidere ich. »Woran arbeitet ihr gerade?«

Das Mädchen starrt unglücklich auf den Boden. »Es ist bloß Chemie I. Da brauche ich eigentlich keine Hilfe.«

»Noch nicht«, sagt Palin.

Da ich Sandisks Unbehagen spüre, schlage ich ihr vor: »Setz dich doch aufs Sofa und mach dich an die Arbeit, und wenn du Hilfe brauchst, kannst du ja Bescheid sagen.«

»Okay«, sagt Sandisk.

Palin lässt sich auf dem Sessel nieder, der seitlich von uns steht. Das stört mich. Da Sandisk gut mit ihrer Mappe und ihrem großen, mit farbigen Etiketten gespickten Lehrbuch klarzukommen scheint, tue ich nach einer Weile so, als würde ich wieder lesen, und blättere, damit es realistisch wirkt, ab und zu weiter.

»Wissen Sie, ich bin eine wirklich große Unterstützerin von Israel«, sagt Palin, und ich zucke zusammen.

»Ach?«

»Allerdings. Eine große Unterstützerin.«

»Hm.«[56]

»Weil Sie dieses Tattoo haben«, sagt sie.

»Stimmt«, sage ich. »Warum waren Sie und der Reverend so an meinen Tattoos interessiert?«

»Sie sind … es scheint ziemlich bedeutungsvoll zu sein, wenn jemand so ein Symbol dauerhaft trägt.«

Sie zeigt ein doppeldeutiges Lächeln, das ich bei ihr schon mal gesehen habe, aber es in natura zu erleben, ist, als würde man sich Fox News mit einer neuen immersiven Technologie ansehen. Es ist arrogant und ironisch, doch auf eine Art, die eher misstrauisch wirkt. Als meinte sie ihre Worte nicht ernst, wenn sie mir nicht gefallen. Irgendwie halbherzig.

»Was für ein Symbol?«, frage ich. »Was ist daran so interessant?«

Sie errötet. »Na ja … Sie wissen schon.«

»Nein. Im Ernst. Was hat es damit auf sich?«

»Ich habe gehofft, ich könnte Sie vielleicht danach fragen.«

»Nur zu.«

An ihrem Haaransatz sehe ich Schweißperlen. »Ergeben meine Worte überhaupt einen Sinn?«, fragt sie. »Wissen Sie überhaupt, wovon ich rede?«

»Nein, leider nicht.«

Sandisk sitzt an ihren Hausaufgaben und schüttelt resigniert den Kopf. Ob sie sich über mich oder über ihre Tante ärgert, weiß ich nicht.

»Reverend John hat gedacht, Sie wüssten es nicht«, sagt Palin beklommen. »Ich wollte Sie bloß fragen. Für den Fall, dass Sie es wissen. Manchmal bin ich einfach zu ungeduldig. Tut mir leid.«

Sie steht auf.

»Moment«, sage ich. »Ist schon okay. Sagen Sie mir, worüber Sie gesprochen haben.«

»Wahrscheinlich sollte ich nicht darüber reden.«

»Warum? Wer ist Reverend John?«

»Er ist mein Pfarrer.«

»Was will er hier?«

»Darüber sollte ich auf keinen Fall reden. Sandisk, Schätzchen? Bist du fertig?«

»Wir sind doch gerade erst hergekommen«, sagt Sandisk.

»Den Rest kannst du in der Hütte erledigen. Du kannst deinen Freunden mit dem Satellitentelefon eine SMS schicken.«

Sandisk hält einen Augenblick völlig frustriert inne und schlägt dann ihr Buch und ihre Mappe zu.

»Sie wollen mir nicht sagen, was los ist?«

Palin zögert. Wartet, bis Sandisk damit beschäftigt ist, ihre Sachen zusammenzupacken, und beugt sich dann rasch zu mir herab. Einen Augenblick habe ich das Gefühl, dass sie mich küssen will.

»Jesaja 27, 1«, raunt sie mir zu. Sie legt die Fingerspitze auf meine Lippen und richtet sich wieder auf.

»Was ist damit?«, frage ich. In der Annahme, dass es nicht bloß wieder der Name von irgendwem ist.

»Das sollten Sie nachschlagen.«

»Können Sie mir nicht einfach sagen, was da steht?«

»Sandisk? Was sagt Reverend John immer, wenn er jemanden sagen soll, was in der Bibel steht?«

»Er sagt: ›Schlagen Sie es selbst nach‹«, antwortet Sandisk.

»Er sagt, jedes Mal, wenn man jemanden dazu bringt, in der Bibel zu lesen, ist das für einen selbst und für den anderen ein Segen.«

»Das klingt eher so, als könnte er dadurch vermeiden, sich die Heilige Schrift einzuprägen.«

»Er hat vorausgesagt, dass Sie ein Zweifler sind. Das nimmt er Ihnen nicht übel.«

Sandisk steht auf und wankt unter dem Gewicht ihrer Tasche. Palin geht mit ihr zur Tür.

»Also wirklich, ich bitte Sie«, sage ich.

»Ich nehme Ihnen das auch nicht übel. Sag Dr. Lazarus gute Nacht.«

»Gute Nacht«, sagt Sandisk.

Die beiden gehen, und einer von Palins Sicherheitsleuten tritt vor, um hinter ihnen die Tür zu versperren. Vielleicht derselbe wie vorhin, vielleicht aber auch nicht.

»Verdammt«, sage ich.

 

Verdammt, also gut. Ich sehe mir den Vers im Internet an:

 

»Zu der Zeit wird der Herr heimsuchen mit seinem harten, großen und starken Schwert beide, den Leviathan, der eine flüchtige Schlange, und den Leviathan, der eine gewundene Schlange ist, und wird den Drachen im Meer erwürgen.«

 

Na super. Hier ging’s ja noch nicht verrückt genug zu.

 

Als alle aus dem Kasino zurückkommen, gehe ich, angelockt von dem Licht und dem Lärm, nach draußen. Es hat aufgehört zu regnen. Auf meiner Uhr ist es kurz nach drei.

Mit dem Buch bin ich fertig. Es hat mir gefallen: Es war schon alt und stammte aus der Zeit, als alle Bestseller wie Der Denver-Clan waren. Man konnte sie lesen und gleichzeitig nachdenken.

Unten am Wasser faucht Palin in ihr Satellitentelefon, und drei ihrer Leute riegeln sie von uns ab.

Violet kommt zu mir. »Hast du was von Rec Bill gehört?«

»Ja. Er will, dass wir bleiben.«

»Was?«

»Ja.« Ich warte auf ein Anzeichen, dass sie das als gute Nachricht betrachtet, aber vielleicht ist sie einfach zu müde. »Was ist los? Warum wart ihr so lange weg?«

Sie schüttelt den Kopf. »Das glaubst du mir nie.«