12 CFS Lodge, Ford, Minnesota
Immer noch Freitag, 14. September
In der Empfangshütte sind bloß vier Asiaten, und die beiden, die stehen – Trainingsanzug, Sonnenbrille, bei meinem Anblick in Alarmbereitschaft versetzt – sind offenbar Bodyguards.
Die anderen beiden, auf sich gegenüberstehenden Sofas, sind schwerer einzuschätzen. Einer ist punkig-schick, klobig-coole Brille und eleganter Anzug über einem teuer wirkenden Westernshirt. Anfang vierzig, das Haar braun gefärbt, in einen Reiseführer vertieft. Der andere ist etwa genauso alt, aber dick und ausladend, mit den feuchten Lippen, den groben Zügen und der schlechten Rasur eines geistig Behinderten, oder wie man diese Leute heutzutage nennt. Jeans und ein T-Shirt mit der Aufschrift »JETZT IST COLA EINZIG«. Er spielt auf einem Handy ein Videospiel.
Der Elegante steht auf, als er uns sieht, und die Bodyguards rahmen ihn ein.
Reggie macht uns miteinander bekannt. Er heißt Wayne Teng. Sein Bruder trägt den Namen Stuart. Und die Bodyguards heißen angeblich beide Lee.
»Tut mir leid«, sagt Teng. »Mein Bruder und unsere Mitarbeiter können kein Englisch.«
»Aber Sie«, erwidert Violet.
»Nur ein paar Brocken.«
»Klingt aber gar nicht so.«
»Danke. Sind Sie Ärzte?«
»Er schon. Ich bin Paläontologin.«
»Wie in Jurassic Park?«
»Mehr oder weniger.«
Teng übersetzt für seinen Bruder und die Bodyguards. Ich erkenne die Worte Jurassic Park. Sogar der Bruder blickt auf.
Ich folge Reggie zum Empfang. »Sind das alle? Ist das die ganze Gruppe?« Vorausgesetzt, dass Teng seine Bodyguards mitnimmt, wären wir zu sechst.
Reggie holt ein paar Formulare hervor. »Weiß nicht genau. Wir haben fünf weitere Zusagen.«
»Sind das nicht zu viele?«
»Die einzige Beschränkung ist das, was für Sie akzeptabel ist. Aber darüber mache ich mir Gedanken, wenn’s so weit ist. Ich bin mir sicher, dass jemand noch zur Vernunft kommt.«
»Warum? Ist das Ungeheuer nur Schwindel?«
Er zwinkert mir zu. »Na, hoffentlich nicht.« Legt zwei Schlüssel auf den Schreibtisch. »Hütte Nummer zehn.«
»Für uns beide?«
»Wie meinen Sie das?«
»Wir sollten in unterschiedlichen Hütten wohnen.«
»Tatsächlich? Mist. Lassen Sie mich überlegen.« Er kaut an seinem Fingernagel. »Das Problem ist, dass der Schiedsrichter eine Menge Leute mitbringt.«
»Wer ist der Schiedsrichter?«
»Das darf ich erst verraten, wenn er oder sie persönlich eingetroffen ist.«
»Und wann ist das?«
»In ein paar Stunden. Mal sehen: Del ist schon bei Miguel untergebracht …« Als er aufblickt, zuckt die unversehrte Gesichtshälfte. »In Ihrem Zimmer kann man die Betten auseinanderrücken, falls das was nützt.«
»Ist schon in Ordnung«, sagt Violet, die plötzlich hinter mir auftaucht. »Eine Nacht lang dürfte Dr. Azimuth das überstehen.«
Die Hütte Nummer zehn ist ganz hübsch, doch es riecht moderig, und die Luft ist von sexueller Spannung erfüllt, also beschließen Violet und ich, zu den Felsmalereien am Omen Lake zu fahren.
Davey, der junge Mann mit dem Klemmbrett, besorgt uns ein Kanu. Grünes Kevlar, das aussieht wie eine mit Schellack beschichtete Leinwandhaut. Das Boot ist total leicht: In der Mitte befindet sich statt eines Bretts ein jochartiger Toilettensitz, durch den man den Kopf stecken soll, um das umgedrehte Kanu auf den Schultern tragen zu können. Aber wenn man das nicht will – weil man dann nichts mehr sieht oder weil jeder, der Lust dazu hätte, einem das Genick brechen könnte –, kann man das Kanu auch mit den Händen über dem Kopf tragen.
Violet erklärt mir, wie man paddelt, und dann machen wir unsere erste Portage das halbe Westufer des Ford Lake entlang.
Der Omen Lake: nicht besonders ominös. Er hat die Form einer Hantel und ist an der schmalsten Stelle auf beiden Seiten von einer orangeroten Felswand gesäumt, an der sich die Piktogramme befinden. Das Wasser ist so klar, dass man die Felsen am Grund sehen kann, und das Laub der Bäume leuchtet bereits in Farben, die verglichen mit Grün weniger Infrarotlicht absorbieren.[37] Wir sind dort die einzigen Menschen.
Violet steuert uns direkt an den Fuß der Felswand. Dann steht sie auf und stützt sich mit einer Hand daran ab.
»Du musst das Paddel links aufsetzen, damit wir im Gleichgewicht bleiben«, sagt sie.
»Was hast du vor?«
Sie schwingt sich an die Felswand, bevor ich mein Paddel eintauchen kann. Das Kanu treibt weg von der Wand. Als ich es wieder unter Kontrolle bringe, ist sie schon drei Meter über dem Wasser.
»Du kannst ja klettern«, sage ich.
»Alle Paläontologen können klettern. Und das sind schöne Felsen: Die sind vermutlich vier Milliarden Jahre alt.«
Ich lehne mich zurück, um ihr zuzusehen. Das ist nicht der schlechteste Anblick.
Und als der See plötzlich doch ominös wird, habe ich das Gefühl, eine Falle sei zugeschnappt. Erst Sonne und Violets Arsch von hinten und unten, und plötzlich Wasser, das nach salziger Fäulnis riecht und pure Bosheit verströmt. Was gerade noch wie ein leises Plätschern oder wie ein Trommeln an die Unterseite des Kanus klang, scheint auf einmal das vorsichtige Sondieren hungriger Unterwassertiere zu sein.
Ich suche nach einer Veränderung: einer Wolke vor der Sonne oder einer kalten Wasserströmung, die ich durch die Membran des Kanus spüren kann. Doch da ist nichts. Nur unsichtbare Dunkelheit und die Tatsache, dass ich am ganzen Körper schwitze und völlig weg bin.
Meinen Patienten mit posttraumatischer Belastungsstörung – von denen ich in der hoffnungslosen Arbeitswelt auf einem Kreuzfahrtschiff ziemlich viele habe – sage ich immer, dass man augenblicklich der Meinung ist, Panikattacken seien eher körperlicher als psychologischer Natur. Die Erinnerung an ein schreckliches Erlebnis steht direkt mit dem vegetativen Nervensystem in Verbindung, das für so was ein eigenes Gedächtnis hat. Das vegetative Nervensystem löst dann die physiologischen Veränderungen aus – noch bevor man weiß, dass man Angst hat. Die Panik folgt auf die schweißnassen Hände und die Atemnot, nicht andersrum.
Durch dieses Wissen sollen sich die Leute wohler fühlen oder wenigstens nicht schuldig an ihrem Wahnsinn. Das könnte sogar stimmen. Aber auf dem Omen Lake, mit verschwimmendem Blick und schweißnassem Körper, voller Angst vor einem Süßwassersee, der schon unzählige Male besucht und fotografiert wurde, nützt mir das nicht viel. Das Einzige, was ich außer meiner Angst empfinde, ist unbändige Wut.
Elf Jahre?
Dieses ganze Theater bloß wegen ein paar üblen Dingen, die ich vor elf Jahren in einem Haifischbecken erlebt habe?
Am nächsten Tag starb Magdalena. Und mit ihr starb auch ein großer Teil von mir. Aber Sie werden’s nicht glauben: Die ständige Ausflipperei bringt sie auch nicht zurück.
Ist die Teilnahme an einer zwölftägigen Kanutour, die am nächsten Morgen beginnen soll, vielleicht keine besonders gute Idee? Bei genauerer Betrachtung nicht.
Und wie steht’s mit der Arbeit auf einem Kreuzfahrtschiff?
Trotzdem: Herrgott noch mal! Komm endlich drüber weg.
»Lionel!«
Das gespenstische Gefühl löst sich in Luft auf, als wollte es nicht mit mir gesehen werden. Violet kommt wieder runtergeklettert. Das Kanu ist drei Meter weit abgetrieben. Ich paddele es zur Felswand zurück.
Als sie wieder eingestiegen ist, dreht sie sich zu mir um und sieht mich an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, klar.«
»Sieht aber nicht so aus. Was ist los?«
»Nichts. Mir geht’s gut. Wie waren die Felsmalereien?«
»Ungefähr das, was wir erwartet haben.«
Wir haben nicht viel erwartet. Bücher, in denen die Malereien auf Englisch beschrieben werden, gibt es schon seit mindestens 1768, und sowohl die Radiokarbonmethode als auch die Ojibwe sagen, die Bilder seien noch älter. Das schließt einen Schwindel nicht völlig aus – vielleicht haben die Ojibwe sie ja erst 1767 gemalt, aber zweihundert Jahre alten Fischtran dazu benutzt –, spricht jedoch dagegen, dass Reggie Trager daran beteiligt war.
Violet starrt mich immer noch an. »Bist du sicher, dass du mir nichts erzählen willst?«
»Nein«, sage ich und stoße mich mit dem Paddel von der Felswand ab, um loszufahren.
Und das stimmt zumindest.
In der Lodge erwarten uns ein paar nette Ablenkungen. Erstens holt uns Del – der Typ, der mit oder für Reggie arbeitet – am Steg ab, um uns mitzuteilen, dass wir zum Rest der Gruppe in die Empfangshütte kommen sollen, weil Reggie uns etwas sagen will. Und als wir die Empfangshütte betreten, sind außer Wayne Tengs Gruppe und allen Angestellten der Lodge auch fünf neue Gäste da. Einer von ihnen, Tyson Grody, ist eine Berühmtheit.
Grody dürfte ungefähr vierundzwanzig sein. Er singt und tanzt und war früher Mitglied einer Boyband. Popsongs, die man auf dem Weg zu einer Ausländerbar im Taxi hört und deren Sänger wie ein Schwarzer in mittlerem Alter klingt. Frauen auf Kreuzfahrtschiffen hören ihn immer beim Vögeln.
In persona ist Grody ziemlich klein, lächelt ständig und hat Glubschaugen und Zuckungen, aber wenigstens hat er zwei echte Schwarze dabei. Die beiden sind riesig. Als sie die Bodyguards der Teng-Brüder sehen, liefern sie sich trotz der Sonnenbrillen ein Blickduell, das darauf hoffen lässt, es könnte später noch zu Kampfszenen wie in Super Streetfighter IV kommen.
Die beiden anderen neuen Gäste sind ein grimmig dreinblickendes Paar Ende fünfzig. Ihre Rolex-Uhren, ihr Haar und ihre Haut haben dieselbe Farbe wie ihre Safarikleidung. Außerdem haben sie dieselbe vorgeschobene Unterlippe.
»Leute, ich hab schlechte Nachrichten«, verkündet Reggie.
Als alle still sind, sagt er: »Der Schiedsrichter ist noch nicht da und kommt erst morgen Nachmittag. Also geht’s morgen früh noch nicht los. Wir könnten aufbrechen, wenn der Schiedsrichter kommt, aber das hätte nicht viel Sinn, denn wir kämen trotzdem einen Tag später an. Wir hätten unterwegs bloß eine zusätzliche Übernachtung. Deshalb verschiebe ich das Ganze um einen Tag, und wir brechen erst Sonntag früh auf.
Wenn das ein Problem ist, und einige der Gäste nicht bleiben können, habe ich dafür Verständnis. Für alle, die bleiben wollen, bedeutet es, dass wir die Expedition um einen Tag verkürzen und zur geplanten Zeit zurückkommen können. Oder wir lassen alles beim Alten und kehren einen Tag später zurück. Das müssen Sie entscheiden. Die zusätzliche Übernachtung in der Lodge ist natürlich kostenlos, das gilt auch für alles, was Sie während Ihres Aufenthalts hier unternehmen. Angeln, Kanufahren – wozu auch immer Sie Lust haben. Aber unabhängig davon, ob Sie mitkommen, möchte ich Sie zu einem gemeinsamen Abendessen mit mir, Del, Miguel und ein paar von den Guides einladen.« Er blickt auf die Uhr an der Wand. »Das direkt nach dieser Besprechung stattfinden soll.«
In der Empfangshütte herrscht Hochbetrieb. Del hat uns am Parkplatz abgeholt und direkt hergebracht.
»Können Sie uns wenigstens verraten, wer der Schiedsrichter ist?«, fragt Violet.
Reggie schüttelt den Kopf. »Wissen Sie, ich habe darum gebeten und bekam zur Antwort, dass es trotz der Verzögerung geheim bleiben muss. Aus rechtlicher und persönlicher Sicht muss ich das respektieren. Ich bitte Sie nochmals um Entschuldigung.«
Er wirkt müde und vielleicht enttäuscht, aber nicht besonders besorgt. Langsam frage ich mich, ob es je einen konkreten Schiedsrichter gab. Jemanden, den Reggie für verlässlich hielt, der ihn jetzt aber hängen gelassen hat. Oder ob es die ganze Zeit nur ein Lotteriespiel war, mit Angeboten an alle Leute, die vielleicht so dumm oder habgierig sind, die von Reggie genannte Summe zu akzeptieren. Bloß für eine korrupte Tat im Schutz des Waldes.
Wenn es ein Lotteriespiel ist, dann kann ich verstehen, dass Reggie es noch eine weitere Nacht durchziehen will.
»Wir sind immer noch an der Tour interessiert«, sagt Wayne Teng.
Tyson Grody meint: »Auch für uns ist es okay zu warten.«
»Wir denken drüber nach«, knurrt der grimmige Safarityp.
Reggie blickt Violet und mich an. »Wir müssen das mit unserem Boss absprechen«, erklärt Violet.
»Danke«, sagt Reggie. »Ich danke Ihnen.« Er wirkt aufrichtig gerührt, doch vielleicht tränt auch nur sein starr aufgesperrtes Auge.