20 Camp Fawn See Ford, Minnesota
Immer noch Samstag, 15. September
Wahrscheinlich wollen Sie wissen, wie bumsbar die leibhaftige Sarah Palin als Mutter, Großmutter oder Republikanerin ist.
Sie sieht gut aus. Kleiner, als man denkt, und außerdem hat sie ein leichtes Doppelkinn. Zu viel Make-up, aber das war ja bekannt. Es ist seltsam, ihren Kopf mal von hinten zu sehen.
Als sie aus dem Hubschrauber steigt, bin ich aber bloß frustriert. Ich wusste ja, dass meine Zeit mit Violet Hurst nur kurz bemessen ist, aber ich dachte nicht, so kurz. Auf gar keinen Fall wird Rec Bill zwei Millionen Dollar auf die Meinung von jemandem setzen, der so berühmt für seine Unwissenheit ist wie Sarah Palin. Und der – um das einmal festzuhalten – genauso wenig mit der Regierung zu tun hat wie Tom Marvell.
Was die Frau selbst betrifft, bin ich überhaupt nicht neugierig – etwas, das man ihr ständig vorwirft, doch ich habe eine Entschuldigung: Ich habe sie schon seit Jahren satt. Gott mag in der Gemeinschaft der Gerechten anwesend und Zeus in den Schwänen und im Regen zu finden sein, aber Palin ist einfach überall.[54]
Auch wenn sich das ein bisschen ändert, als sie mir in dem Empfangsspalier, das sich vor dem Abendessen bildet, um sie und ihr Gefolge den Gästen und Angestellten vorzustellen, fest die Hand schüttelt, mir mit leerem Blick in die Augen schaut, sich Del zuwendet, aber dann das Tattoo auf meiner Schulter sieht, stehen bleibt und es anstarrt.[55]
Das Tattoo besteht aus einem geflügelten Stab, um den sich zwei Schlangen ranken. Als ich es mir machen ließ, dachte ich, es wäre das Symbol für Äskulap, den Gott der Heilkunst, aber das wäre ein ungeflügelter Stab mit einer Schlange gewesen. Wie sich herausgestellt hat, sind Flügel und zwei Schlangen das Symbol für Hermes, den Gott, der die Menschen in die Unterwelt geleitet.
Palin streckt die Hand aus, berührt es mit dem Finger und sagt: »John. Komm und sieh dir das an.«
Mich fragt sie: »Warum haben Sie das?«
»Es sollte das Symbol für Äskulap, den Gott der Heilkunst, werden.«
»Aber es ist das Symbol für Hermes.«
Na toll. Selbst jemand, der mir nicht die Namen aller drei Länder in Nordamerika sagen könnte, weiß das.
Ich frage mich, ob Violet gemerkt hat, dass das Symbol falsch ist. Wenn das der Fall sein sollte, sie es mir aber nicht gesagt hat, weil sie mich nicht kränken wollte, dann sollte ich sie zur Rede stellen. Das könnte wiedergutmachen, dass ich ihr nichts von dem tiefgefrorenen French Toast erzählt habe. Das wäre immerhin etwas.
»Was ist denn, Sarah?«, fragt der große, gutaussehende Mann, der herüberkommt.
»Sieh dir das mal an.«
Das tut er auch, mit den zusammengekniffenen Augen eines Kaliforniers. Legt mir die Hände auf die Schultern, in dem Versuch, mich umzudrehen, damit er meinen anderen Arm sehen kann.
»Ich bin Lionel Azimuth«, sage ich.
Er lächelt mit gequälter Herablassung. »Entschuldigung. Reverend John 3, 16 Hawke.«
»Wie bitte?«
»Das ist mein Name.« Er macht einen Schritt zur Seite, um das Tattoo an meiner anderen Schulter sehen zu können, ohne mich umzudrehen.
Der Davidstern.
»Ah«, sagt er.
Palin will auch etwas sehen. Da der Reverend ihr nicht Platz macht, muss sie sich unbeholfen an ihn drücken. »Ach du lieber Himmel«, sagt sie.
»Wir sind nah dran, Sarah. Ganz nah dran.«
Er zieht sie zurück, und sie schreiten weiter die Reihe ab. Violet starrt, genau wie die anderen, herüber. Ich zucke mit den Schultern und versuche, sie zu fixieren, doch sie wendet den Blick ab.
Beim Abendessen sitzt Palin seltsam gebeugt über ihrem Essen, vor Konzentration die Stirn runzelnd, während sie sich anhört, was ihr Reverend John 3, 16 Hawke ins Ohr flüstert. Auf ihrer anderen Seite sitzt das vierzehnjährige Mädchen – eine entfernte Verwandte von ihr, die, wie sich herausstellt, Sanskrit oder so ähnlich heißt. Im Augenblick ist das Mädchen knallrot und stumm, vielleicht weil sie gegenüber von Tyson Grody sitzt.
Über dem Raum liegt eine seltsame Stille. Alle nennen Palin »die Frau Gouverneurin«, aber im Flüsterton, als wollten sie sie nicht ablenken. Die Ficks, die spontan vorbeigekommen sind, obwohl sie sich bloß überzeugen wollten, dass es sich nicht lohnt, wegen des Schiedsrichters mitzufahren, mussten feststellen, dass sie sich getäuscht haben, und sitzen jetzt strahlend in Palins für alles entschädigende Gesellschaft.
Ich sage so wenig wie möglich, und mit Tom Marvell, der an meinem Tisch sitzt, rede ich gar nicht. Marvell wirkt eigentlich ganz nett: Vorhin hat er Stuart Teng auf dem Rasen einen Zaubertrick vorgeführt, bei dem eine Visitenkarte in Flammen aufgeht, und hat ihn noch ungefähr fünfzehnmal wiederholt, während Stuart Tränen lachte und Palins junge Verwandte, der das Ganze peinlich war, sich den Anschein zu geben versuchte, als gehöre sie nicht zu Marvells Zielpublikum. Und ich würde gern wissen, in welcher Verbindung er zu Palin steht – wo haben sie sich kennengelernt, bei einem Westbrook Pegler-Kongress? Doch jemand, der in Vegas lebt und so intelligent ist, wie dieser Mann sein muss, sollte besser nicht auf mich aufmerksam werden.
Violet sitzt drüben am Erwachsenentisch, neben Grody. Ich bin nicht eifersüchtig. Das wäre so, als würde sich ein Dobermann mit einem Chihuahua einlassen. Aber es ist ärgerlich, dass er mit ihr reden kann.
Als sie mit Teng nach dem Abendessen überlegt, ob sie wieder ins Kasino fahren sollen, und sich alle von dem Gedanken anstecken lassen, ziehe ich kurz in Erwägung mitzufahren, um etwas Zeit mit ihr zu verbringen. Entscheide mich aber hierzubleiben. Ich brauche keinen dieser Leute besser kennenzulernen. Auch Violet nicht.
Stattdessen gehe ich wieder ins Büro der Empfangshütte, wo ich mich beim Durchsehen meiner E-Mails bemühe, das Foto der Familie Semmel nicht anzusehen. Rec Bill hat schon auf die Nachricht geantwortet, in der ich ihm vor dem Abendessen mitgeteilt habe, dass Palin der Schiedsrichter ist. Da ich weiß, dass er mich darin auffordert zurückzukommen, habe ich es nicht eilig, sie zu öffnen.
Erst lese ich die Mail von Robby, dem australischen Typen, der mich auf dem Schiff vertritt. Sie lautet: »nur am kotzen«. Er hat nicht mal Großbuchstaben benutzt.
Ich bitte ihn um nähere Einzelheiten und wünsche ihm eine schnelle Genesung, falls er derjenige ist, der kotzen muss. Dann öffne ich die Nachricht von Rec Bill.
»Ich bin mit Palin als Schiedsrichter einverstanden. Machen Sie weiter wie geplant.«
Das kann doch nicht wahr sein.
Ich freue mich über die zusätzliche Zeit mit Violet, besonders wenn sie wieder mit mir spricht, aber ich bin erstaunt. Egal, wie reich man ist, zwei Millionen Dollar zu verschleudern, ist abstoßend. Im Vergoldeten Zeitalter wurde mit dem Zaster wenigstens irgendwas vergoldet.
Doch in zwei anderen Punkten war Rec Bill erfolgreich. Die Desert Eagle Investigations in Phoenix, Arizona, scheint es tatsächlich zu geben, und dort arbeitet auch ein Typ namens Michael Bennett – eigentlich gehört ihm die Detektei sogar –, auf den die Beschreibung des Mannes passt, der hier war. Und Christine Semmel, Autumns Mutter, wohnt anscheinend in San Diego und hat einen Telefonanschluss.
Obwohl ich mich immer noch frage, warum Rec Bill so viel Wert darauf legt, dass das White Lake Monster existiert, rufe ich sie an.
»Ja?«, sagt sie, ihre Stimme nicht mehr als ein Flüstern.
»Mrs Semmel?«
»Ja?«
»Mein Name ist Lionel Azimuth. Ich bin Arzt und unterstütze sozusagen die Ermittlungen zu einem etwaigen Verbrechen hier in Minnesota.«
Nichts.
»Das Ganze ist eine lange Geschichte, aber ich kann Ihnen gern die näheren Einzelheiten erzählen.«
»Reggie, bist du das?«, fragt sie.
»Nein.«
»Sie rufen aus der Lodge an.«
»Ja. Ich übernachte hier. Aber wie gesagt …«
»Hat er noch jemanden umgebracht?«
Also gut.
»Noch jemanden?«
»Er hat meinen Mann und meine Tochter umgebracht«, erwidert sie nach einer kurzen Pause.
Ich warte vergeblich darauf, dass sie noch was sagt.
»Wieso glauben Sie das?«
»Ich weiß es.«
»Darf ich fragen, woher?«
Wieder eine Pause. »Reggie wollte vortäuschen, dass es im White Lake ein Ungeheuer gibt. Er hat meine Tochter umgebracht, damit es wirklich so aussieht. Und dann hat er meinen Mann umgebracht, um die Lodge zu übernehmen.«
»Der Schwindel war Reggies Idee?«
»Natürlich. Chris hätte sich so was nie ausgedacht. So war er nicht. So … verschlagen. Pfarrer Podominick auch nicht. Reggie hat die beiden heimlich dazu angestiftet, damit niemand misstrauisch wird, wenn er das Ganze übernimmt. Hat sie so durcheinandergebracht, dass Chris glaubte, er und Reggie würden das Ungeheuer einfangen und verkaufen.«
Christine Semmel beginnt leise zu weinen. Tolle Leistung, Dr. Azimuth.
»Mrs Semmel, wenn Sie wollen, können wir das Gespräch auch beenden.«
»Nein, ist schon gut.«
Das klingt aufrichtig. »Und können Sie mir sagen, wie die beiden das Ungeheuer einfangen und verkaufen wollten?«
»Kurz nach Chris’ Tod wurden diese ganzen Haken und Netze und alles, was er bestellt hatte, in die Lodge geliefert.«
»Davon hat mir Reggie erzählt.«
»Und dann habe ich eine Liste mit Telefonnummern in Chris’ Handschrift gefunden. Ich habe überall angerufen. Die Leute, die mit mir gesprochen haben, sagten, sie würden mit seltenen Tieren handeln. Sie behaupteten, sie hätten noch nie was von Chris gehört, aber das habe ich ihnen nicht geglaubt.«
»Haben Sie die Liste noch?«
»Die habe ich der Polizei gegeben.«
»Haben Sie eine Kopie angefertigt?«
»Nein.«
Verständlich. Die meisten Menschen denken auch dann nicht besonders logisch, wenn ihre Familie nicht ausgelöscht wurde. Doch das heißt, die Polizei hat das entweder schon überprüft oder es nicht für nötig befunden, und in beiden Fällen kann man nichts machen.
»Gibt’s noch andere …« Beweise wollte ich sagen, doch vermutlich klingt das, als würde ich ihr nicht glauben. »Gibt es noch etwas, das Sie mir sagen wollen?«
Eine Pause tritt ein, in der nur das Sirren der Leitung zu hören ist. Gerade als ich die Frage noch mal wiederholen will, sagt sie: »Reggie, ich weiß, dass du’s bist.«
Sie sagt es ohne Zorn, ich höre bloß Erschöpfung und Trauer heraus. Das ist unerträglich.
»Ich bin nicht Reggie. Ehrlich nicht. Wenn Sie wollen, kann ich später noch mal mit einer Frau anrufen.«
»Das ist mir egal. Wenn du Reggie bist, fahr zur Hölle«, sagt sie und legt auf.