31 Lake Garner/White Lake

Samstag, 22. September – Sonntag, 23. September

Zwei Cops – ein Mann und eine Frau – sitzen auf Liegestühlen am Strand von Lake Garner, beide im Unterhemd. Irgendwann bläst sie ihm einen, während er an einem Baum lehnt. Violet und mich, die am anderen Ende des Sees warten, bringt das nicht in Verlegenheit.

Mit Henrys Hilfe hat die Fahrt keine zwei Tage gedauert. Unsere Anweisung an ihn: Direktweg bitte, egal wie schwierig die Portagen sind. Wir nehmen GPS mit und ein 25-Kilo-Kanu.

Gott sei Dank ist das vorbei. Ich habe gerade zwei Tage mit Gesprächen hinter mir, wie ich sie, seit ich erwachsen bin, immer vermeiden wollte.

Zum Beispiel:

»Hast du jemals jemanden umgebracht, bloß um jemand anderen einzuschüchtern?«

»Nicht, dass ich wüsste.«

»Oder unabsichtlich?«

»Nein. Das heißt, einmal hat jemand, den ich zu einem Job mitgenommen habe, jemanden getötet, den ich nicht umbringen wollte.«

»Einen Unschuldigen?«

»Minderjährig.«

»Ein Kind?«

»Ungefähr so alt wie Dylan Arntz.«

»Aber nicht unschuldig?«

»Wie gesagt, minderjährig.«

»Was hast du mit dem gemacht, der ihn umgebracht hat?«

»Zu guter Letzt? Ihn umgebracht.«

»Deswegen?«

»Es kam dazu.«

»Freut es dich bei manchen, dass du sie umgebracht hast?«

»Dass sie durch mich gestorben sind? Nein. Ich wünschte, ich hätte nie jemanden ermordet.«

»Aber bei manchen, die du umgebracht hast, bist du froh, dass sie tot sind.«

»Ja.«

»Hast du mal jemanden umgebracht, über den du gar nichts wusstest?«

»Ja. Wenn auch nach Möglichkeit nicht. Einige Leute habe ich einfach umgebracht, weil David Locano es wollte.«

»Wie viele?«

»Lass mich überlegen.«

»Würdest du David Locano umbringen, wenn du könntest?«

»So lässt du mich überlegen? Ja.«

»Wegen Magdalena oder wegen deiner Großeltern?«

»Wegen beidem.«

»Zu gleichen Teilen?«

»Ist gut jetzt!«[67]

Bis auf Palins Zelt, das ihre Bodyguards mitgenommen haben, ist Reggies Lager so gut wie unverändert, nur dass jetzt ringsherum Absperrband flattert. Als die Cops sich wieder dem Sonnenbad widmen, sprechen Violet und ich über die Möglichkeit, dass sie hier übernachten und dass wir dann im Dunkeln an ihnen vorbeipaddeln müssten, um am anderen Ende über die Landspitze zu kommen. Doch um Punkt fünf landet der Wasserflieger der Parkverwaltung und holt sie über die Rampe, die Palins Leibwache am Strand zurückgelassen hat, ab.

Violet und ich paddeln den Lake Garner entlang, umgehen das Absperrband und überqueren die Landzunge. Halten uns am White Lake so lange wie möglich an den Strand und gehen dann wieder aufs Wasser.

Wir reden möglichst nicht beim Paddeln. Dass jeder Schlag, den ich vermassele, von den Wänden der Schlucht widerhallt, ist schlimm genug. Und ich habe Violet vorgewarnt, dass ich wahrscheinlich wieder ausflippe wie damals, als wir uns am Omen Lake die Felsbilder angesehen haben. Ich weiß gar nicht, wieso ich noch nicht ausgeflippt bin.

Vielleicht, weil ich mich konzentrieren muss. Nach der zweiten Zickzackkurve sind wir in einem Gelände, das wir noch nicht kennen, und die Felsen sind voller Einschnitte, die groß genug wären, um ein Boot zu verbergen. Wieso mich das von dem Gedanken an ein Tier ablenkt, das groß genug sein könnte, um ein Boot zu fressen, weiß ich auch wieder nicht. Aber am helllichten Tag auf dem White Lake zu sein ist irgendwie besser, als ich dachte.

Was nichts daran ändert, dass ich, als wir den letzten und breitesten Abschnitt des White Lake erreichen, wo statt der Felsen auf drei Seiten Wald ist, in Schweiß gebadet bin, der keineswegs von angestrengtem Paddeln kommt.

Und dass wir, als wir eine Lücke im Uferdickicht ausmachen, wo sich unser Kanu verstecken lässt, das Boot schleunigst aus dem Wasser ziehen und uns in die Büsche schlagen.

 

Die Sonne geht genauso schnell unter wie drei Tage zuvor.

Der Mond ist allerdings größer und ein paar Stunden auch heller. Dann schieben sich die Wolken drüber, und es wird stockdunkel. So dunkel, dass die Zweige, die man vor der Nase hat, kaum schwärzer sind als das Drumherum und dass man den See, der direkt vor einem liegt, hört, aber nicht sieht.

Eine interessante Situation. Unsere Sinne sind von der Erwartung und dem Weg hierher geschärft. Und wir sind unsichtbar, was, wie schon die Alten wussten, Unheil birgt.

Was könnte man so im Dunkeln anfangen?

Sich aneinanderschmiegen, um es warm zu haben.

Sich einander zuwenden, die Stirn auf der Schulter des Gegenübers, um die Langeweile und die Kälte zu vertreiben.

Einander die Hände zwischen die Beine legen, weil das noch wärmer ist.

Einander zu Boden werfen und vögeln wie Orpheus und Eurydike, Tarzan und Sheena, Watson und Holmes auf einmal, weil das so warm ist, dass es gar nichts ausmacht, wenn man hinterher ein Weilchen die Kleider zusammensuchen muss, während die Bauchmuskeln noch zittern und der Mund noch die nassen, heißen Schamhaare spürt, von denen er voll war.

Ich liste das nur mal so auf: Das könnte man im Dunkeln tun.

 

Kurz nach Mitternacht hören wir etwas durch die Bäume brechen, dann Motorlärm, dann das Aufklatschen eines Amphibienschlauchboots direkt gegenüber unserem Standort. Ich setze meine neue Nachtsichtbrille von CFS auf und bringe das Boot in ihr schmales Visier. Seine Reifen ragen noch aus dem Wasser, als es an uns vorbeikommt.

Der Scheißfahrer hat wieder seine Kapuze auf. Er scheint aber nicht zu wissen, dass ihn jemand beobachtet, denn er zündet eine plastikverpackte Stange Dynamit an und wirft sie übers Heck, ohne sich groß umzusehen.

»Dynamit«, sage ich.

»Ich seh’s.« Violet hat auch eine Nachtsichtbrille.

Trotzdem fährt uns die Detonation in die Knochen.

Dass man mit Dynamit fischen kann, wenn’s einem Spaß macht, liegt daran, dass Fische im Gegensatz zum Wasser komprimierbar sind. Eine Explosion im Wasser, zumal in flachem Wasser, ist für einen Fisch, als ob er einem Newton’schen Pendel aus lauter Abrissbirnen zu nahe kommt. Alles andere überträgt nur die Kraft und ruht in sich. Der Fisch nimmt sie auf und zerreißt. Genauso ergeht’s einem U-Boot, neben dem eine Tiefenladung abgelegt wird.

Bei dem ganzen Krach erscheint es etwas albern, dass wir so lange geübt haben, das Kanu lautlos aufs Wasser zu bringen, aber wir halten uns ans Konzept, und als wir ins Kielwasser des Amphibienboots gleiten, sinne ich einen Augenblick darüber nach, wie viel besser unser Tandempaddeln in den letzten Tagen geworden ist.

Dann sinne ich über ein paar praktische Fragen nach, die ich mir vielleicht schon eher hätte stellen sollen. Zum Beispiel, ob der Typ ein Sonargerät hat oder nicht, und wenn ja, ob er damit ein Kanu hinter sich ausmachen kann.

Das Boot legt eine so scharfe Wende hin, dass ich mir beide Fragen mit Ja beantworte. Zumal der Typ jetzt zu dem Harpunengeschütz vorn im Boot rennt.

Violet und ich legen das Kanu quer, damit es stehen bleibt. Das Infrarotlicht an unseren Brillen haben wir überklebt, damit er es nicht sieht, aber er kommt anscheinend auch so klar. Jedenfalls sehen wir im gleißenden Licht seiner Brille alles, was wir sehen müssen. Nämlich, dass er auf uns zielt. Und schießt.

»Halt!«, rufe ich.

Ich frage mich, ob Kevlar Harpunen aushält.

Zu mehr reicht die Zeit nicht.