Anlage B: Lake Garner, Minnesota
Vor neunzehn Jahren[9]
Es ist neun Uhr morgens – ziemlich spät zum Angeln, aber das ist Charlie Brisson scheißegal. Er ist nicht zum Angeln zu diesem bescheuerten See mitten im scheiß Wald gekommen. Er ist hier, um sich zu besaufen und zu vergessen, dass seine Frau mit seinem verdammten Schichtleiter vögelt.
Das Saufen klappt immerhin. Beim Aufwachen lag Brisson nur halb im Zelt, er fror, und sein Gesicht war total von Mücken zerstochen. Doch er stellte sich bloß vor, wie Lisa von Robin in den Arsch gefickt wird.
Das stellt er sich immer noch vor. Hier gibt’s keine großen Ablenkungsmöglichkeiten. Vielleicht hätte Brisson daran denken sollen, bevor er hier rauskam. Vielleicht sollte er nicht so ein verdammter Idiot sein.
Er kann sich einfach nicht damit abfinden. Es ist, als hätte eine neue Lisa den Platz derer eingenommen, die Brisson geliebt hat. Die gute Lisa hätte ihm so was nie angetan.
Brisson weiß, das ist Schwachsinn, und die gute Lisa hat nie existiert. Scheißegal – sie fehlt ihm so.
Er bricht in heftiges Schluchzen aus.
Brisson beugt sich vor, damit ihn die Sonne nicht länger blendet, die Beine direkt vor sich auf den Boden des Kanus gestemmt. Er sinkt immer weiter nach vorn, bis er plötzlich das Gefühl hat, als würde sich alles drehen, und er sich mit einem Ruck aufrichtet und fast das Boot umkippt.
Danach bemüht er sich, auf die Angelschnur zu achten. Als ob das helfen würde. Die Schnur liegt bloß auf dem Wasser. Der ganze See lacht über ihn. Er ist so leer wie Brissons beschissenes Leben.
Brisson fängt wieder an zu schluchzen.
Scheißbarsche. Verdammte Scheißzander. Als Brisson herausfand, dass Lisa mit Robin vögelt, hat Lisa geschworen, sie hätten es nie im Büro des Bergwerks getrieben, während Brisson unter Tage war.
Natürlich haben sie’s in dieser Zeit dort getrieben. Warum auch nicht? Nirgends war es so ungefährlich. Brisson befand sich achtundzwanzig Stockwerke unter der Erde und konnte nur wieder nach oben kommen, wenn er in dem verdammten Büro den Aufzug anforderte.
Tut mir leid, dass ich euch verdammt noch mal unterbreche.
Brisson weint ohne Unterlass. Vergräbt sein juckendes, verzerrtes Gesicht in den Händen.
Nach einer Weile macht ihn das stutzig, denn es bedeutet, dass er die Angel nicht mehr in der Hand hält.
Er blickt sich um. Die Haut verbrannt vom reflektierten Sonnenlicht, und plötzlich ein weiterer Schwindelanfall.
Die Angel liegt nicht im Boot. Sie treibt auch nicht auf dem Wasser, zumindest nicht in der Nähe. Brisson kann sich nicht mehr erinnern, ob sie überhaupt auf dem Wasser treiben kann. Oder ob er am Zeltplatz eine Ersatzangel hat.
Einen Augenblick überkommt ihn panische Angst, weil er glaubt, er könnte auch das Paddel verloren haben, aber dann sieht er es neben seinen Füßen, Gott sei Dank. Zerrt es los, um ans Ufer zu paddeln, wo er – scheiß drauf! – sich wieder betrinken kann.
Doch am Zeltplatz ist Brisson völlig verwirrt.
Auf keinen Fall hat er schon das ganze Bier getrunken. Brisson trinkt Bier nur zum Nachspülen. Außer wenn seine Frau sich als miese, verlogene Hure erweist, trinkt er nicht besonders viel. Und außerdem hat er noch jede Menge Jim Beam.
Zu seiner Überraschung liegen ein paar leere Dosen herum – er behauptet ja nicht, sich an letzte Nacht zu erinnern, sondern nur, die Ereignisse anhand der vorliegenden Beweise rekonstruieren zu können –, aber bei weitem nicht so viele, dass man daraus schließen könnte, er habe das ganze Bier weggetrunken. Und es wurde auf keinen Fall von Bären geklaut. Brisson hat zwar selbst schon mal gesehen, wie ein Bär, die Flasche in beiden Tatzen, ein Bier getrunken hat, aber er weiß, dass Bären Dosen nicht ausstehen können.
Brisson durchwühlt sein Zelt und seine restlichen Sachen und geht dann zum Kanu zurück, um dort nachzusehen. Als könnten darin ein paar Sixpacks rumliegen, die er beim Angeln irgendwie übersehen hat.
Im Boot liegt kein Bier, doch der Blick, den er von dort hat, ruft ihm ins Gedächtnis, was er mit den übrigen Dosen angestellt hat.
Er hat sie im White Lake deponiert.
Der White Lake ist kein eigenständiger See. Er ist ein Zipfel des Lake Garner, davon getrennt durch eine schmale Landzunge, die nicht mal von einem Ufer zum anderen reicht.
Aber es ist auch nicht derselbe See. Auf dem Lake Garner hat Brisson zum Beispiel noch nie Nebel gesehen, doch über dem White Lake scheint meistens welcher zu wabern.[10] Und während Brisson noch nie gehört hat, dass im Lake Garner ein Kind oder auch nur ein Hund ertrunken wäre, ist der White Lake eine echte Todesfalle. Im White Lake ist George Lascadis’ sechsjähriger Sohn ums Leben gekommen, der arme Kerl. Damit ist Lascadis gemeint. Aber auch der arme Junge. Menschenskind.
Der Lake Garner ist schön, und der White Lake ein Höllenschlund.
Außer wenn man Bier lagern will.
Brisson schlittert auf der White Lake-Seite die Landzunge hinab. Sie besteht hauptsächlich aus Wurzeln, als hätten die grässlichen Birken die ganze Erde gefressen. Die Wurzeln sind glitschig, kalt und spitz, und sie riechen verfault.
Aber Brisson muss zum Wasser. Allem Anschein nach hat er ein Bungeeseil an einem der Baumstämme festgebunden und am anderen Ende des Seils das Bier befestigt. Aus irgendeinem Grund ist das Seil straff gespannt – irgendwas muss sich unter Wasser verheddert haben. Er sollte vorsichtig sein, damit ihm das Sixpack, oder was auch immer es ist, nicht wie ein Gummiband um die Ohren fliegt, wenn es sich losreißt.
Als er mit den Füßen das Wasser erreicht, muss er feststellen, dass es scheißkalt ist. Brisson hat jetzt nur noch seine enge weiße Unterhose an, und obwohl sie dreckig und klatschnass ist, hat er keine Lust, sie auszuziehen. Die Vorstellung, splitternackt auf diesem Wall aus dornigen Wurzeln zu stehen, macht ihm Angst.
Er setzt sich, taucht die Beine bis zu den Knien ins Wasser und zieht sie dann wieder raus. Das Wasser ist so kalt, dass er jedes einzelne Rinnsal spürt, das auf seinen Schoß zuläuft.
Scheiße. Er steht wieder auf. Dreht sich um und packt das Bungeeseil wie beim Abseilen. Was macht es schon, wenn ihm das Bier an den Hinterkopf knallt? Vielleicht stirbt er daran. Wäre nicht das Schlimmste, was ihm diese Woche passiert ist.
Brisson lässt sich langsam ins Wasser hinunter. Die Wurzeln oberhalb der Wasserlinie waren glitschig, aber die unter Wasser sind bemoost und glitschig. Wenn man sich draufstellt, ist es, als würde man auf Nudelhölzern balancieren, besonders jetzt, wo seine Füße ganz taub sind. Schon nach ein paar Schritten rutscht Brisson aus und knallt mit dem Gesicht voran auf den dornigen Wall.
Vor Schmerz zuckt er zurück. Nimmt eine seitliche Embryonalstellung ein, wobei er sich anscheinend weitere Verletzungen zuzieht, aber wenigstens sind seine Beine aus dem eiskalten Wasser raus.
Seine Zähne klappern. Er mustert seine Brust und seinen Bauch, denn er befürchtet, dass er überall blutet. Doch er kann bloß Schlamm und ein paar dunkelrote, feuchte Flecke entdecken. Er versucht, den Schlamm wegzuwischen, um sich das Ganze anzusehen, aber er vermischt bloß alles zu einem Brei aus Blut und Erde. Plötzlich überkommt ihn das schreckliche Gefühl, seine Eier könnten durchbohrt worden sein, und er schaut nach.
Beide unversehrt. Als würde das eine Rolle spielen.
Doch er ist am Leben, und plötzlich hat er eine Idee. Wie auf einer Leiter steigt er die Wurzeln rauf. Versucht das Bungeeseil loszubinden, und als ihm das nicht gelingt, kehrt er zum Zeltplatz zurück und sucht sein Gerber-Messer. Dann schneidet er das Seil los und geht damit ein Stück den Hang runter, um ihm Spielraum zu geben.
Es klappt. Drei Sixpacks, das Seil durch die Plastikringe gefädelt, von denen sie zusammengehalten werden, tauchen aus dem Wasser auf. Als Brisson sie rauszieht, reißen sich drei oder vier Dosen los und fallen wieder in den See oder rutschen zwischen die Wurzeln, aber er kann sich bloß dazu aufraffen, ein paarmal »Scheiße« zu sagen. Sobald er die geretteten Dosen in Händen hält, reißt er eine auf und nimmt einen Schluck. Denkt, dass er diesmal den Jim Beam zum Nachspülen trinken kann.
Dann setzt er sich oben auf die Landzunge und lehnt sich an einen Baum, das linke Bein auf der White Lake-Seite, das rechte – wesentlich wärmer, weil es in der Sonne liegt – auf der Lake Garner-Seite. Wünscht sich, er hätte daran gedacht, den Jim Beam zu holen, bevor er sich setzte. Oder hätte ihn mitgebracht, als er das Messer holte.
Wo ist das Messer? Keine Ahnung, es ist ihm auch völlig egal. Er will ein Nickerchen machen.
Er …
Als Brisson aufwacht, verspürt er den starken Drang, mit dem linken Bein zu zucken. Die Luft, die er atmet, stinkt nach warmem verfaultem Fisch und schnürt ihm die Kehle zu. Er blickt an sich runter.
Sein linkes Bein steckt bis zur Mitte des Schenkels im Maul einer riesigen schwarzen Schlange, die sich aus dem White Lake streckt.
Der schwankende Kopf der Schlange hat die Form eines Tortenstücks. Die Augen liegen seitlich wie bei Vögeln, die Pupillen sind senkrechte Schlitze.
Die Zähne des riesigen Tiers sehen allerdings nicht wie Schlangenzähne aus. Es handelt sich um dreieckige Sägezähne, deren Spitzen sich in sein Fleisch drücken.
In diesem Augenblick verliert Brisson so ziemlich seinen ganzen Verstand. Er fuchtelt und strampelt, die Schlange faucht und beißt zu, und er hört seine Knochen knacken. Sein Körper versucht, sich auf die andere Seite der Landzunge, in den Lake Garner und weg vom White Lake zu wälzen.
Die Schlange lässt ihn nicht los. Sie erhebt sich halb aus dem Wasser, um kräftiger zubeißen zu können.
Es ist gar keine Schlange. Es hat Schultern.
Was auch immer es ist, es schwenkt den Kopf langsam hin und her und durchtrennt mit den Zähnen die Überreste von Brissons Bein. Schon halb ohnmächtig, stürzt Brisson rückwärts zum Lake Garner hinunter.
Das ist im Wesentlichen alles, woran er sich noch erinnern kann, bis er im Krankenhaus aufwacht.
Aber Scheiße: Das weiß er noch haargenau. Daran kann er sich deutlich erinnern.
Und wenn Sie ihm nicht glauben, dann kann er Ihnen etwas zeigen.