10 Ely, Minnesota

Immer noch Freitag, 14. September

»Wenn man ein Kanu von einem See zu einem anderen trägt, nennt man das Portagieren«, sagt Sheriff Albin. »Der Pfad, den man dabei benutzt, heißt Portage.«

»Hmm«, sage ich.

Ich habe ihm nicht richtig zugehört. Seine Geschichte klang völlig unsinnig – besonders dass die Dakota die Gesichter von Menschen gegessen haben sollen – und erinnerte mich an dieses Parfüm namens Canoe, das die Mafiatypen immer benutzten. Vielleicht tun sie’s immer noch.

Ich habe mich auch gefragt, warum Sheriff Albin uns so viel Zeit widmete. Dass er Informationen über ein potentielles, von Reggie Trager begangenes Verbrechen zu erhalten versucht, ist das eine. Etwas ganz anderes ist es, Landkarten hervorzuholen und uns alte Indianergeschichten zu erzählen.

»Portagen sind allerdings eine heikle Sache«, fährt Albin fort. »Sie wuchern zu, die Uferlinie verändert sich, man darf zu ihrer Kennzeichnung weder Schilder aufstellen noch Kerben in Bäume schneiden. Auch wenn sie auf der Karte richtig eingezeichnet sind, können sie vom Wasser aus schlecht zu sehen sein. Und bloß weil es eine Portage ist, auf der man ein zwanzig Kilo schweres Kevlarboot transportieren kann, heißt das noch lange nicht, dass man auch ein hundert Kilo schweres Aluminiumkanu für vier Personen mit der ganzen Ausrüstung dort entlangschleppen kann. Der Pfad könnte eine steile Felswand raufführen. Er könnte einfach zu lang sein.

Wenn man also von See zu See zu See will, könnte es durchaus sein, dass man sich zwischen einem Dutzend verschiedenen Pfaden entscheiden muss, je nachdem, was portagiert werden soll und von wem. Den richtigen Weg von A nach B zu finden, ist so schwer, wie ein Kombinationsschloss aufzubekommen.«

Mein Gott. Das reicht schon.

»Was meinen Sie, was Benjy Schneke und Autumn Semmel zugestoßen ist?«, fragt Violet, und ich bekomme noch mehr Lust als sonst, sie zu vögeln.

Albins Miene verdüstert sich. »Preist Reggie Trager seine Tour etwa damit an?«

»Nein, das haben wir in Ford gehört und dann in der Bücherei nachgelesen.«

»Sind Sie da sicher?«

»Ja.«

Das beruhigt ihn etwas.

»Und was ist Ihrer Ansicht nach passiert?«, frage ich. Mir ist lieber, dass Albin Verdacht schöpft und sich näher mit mir beschäftigt, als dass er mich wieder zu Tode langweilt.

»Ich war nicht mit der Sache betraut.«

»Sie sind nicht für Ford zuständig?«

»Meistens schon. Ford gehört nicht zum Lake County, nimmt aber unsere Dienste in Anspruch – wir stellen Rechnungen aus, sie bezahlen nicht, wir fahren dort trotzdem Streife. Erspart uns auf lange Sicht Ärger. Aber draußen in den Boundary Waters ist normalerweise die Parkverwaltung zuständig, und sämtliche Morde außer denen in den Twin Cities werden von der Kriminalpolizei Minnesota in Bemidji bearbeitet.«

»Dann haben Sie den Anruf gar nicht entgegengenommen.«

Soweit ich sehe, gibt es keinen Grund, warum er darauf antworten sollte.

»Doch, ich war am Telefon.«

»Und Sie haben auch mit den beiden anderen Jugendlichen gesprochen, die dort waren?«

»Mehrmals. Übrigens sind beide Familien inzwischen weggezogen. Sie brauchen also nicht nach ihnen zu suchen.«

»In Ordnung. Haben Sie die Leichen gesehen?«

Violet sieht mich durchdringend an. Albin wird immer noch nicht wütend.

»Ja, hab ich.«

Allmählich begreife ich, was hier vor sich geht.

Albin muss wirklich glauben, dass Violet und ich mit neunzigprozentiger Wahrscheinlichkeit Hochstapler, Dummschwätzer oder beides sind. Aber es kommt nicht jeden Tag vor, dass zwei Leute, die behaupten, eine Paläontologin und ein Arzt zu sein, in sein Büro kommen und Interesse an einem Fall bekunden, der etwas mit einem menschenfressenden Seeungeheuer zu tun haben soll. Und der zwei Jahre später immer noch nicht gelöst ist.

»Was ist Ihrer Ansicht nach passiert?«, frage ich zum gefühlt fünften Mal.

»Im Bericht der Kriminalpolizei steht, es war ein Motorbootunfall.«

»Ich dachte, Motorboote wären in den Boundary Waters verboten.«

»Das stimmt, aber das heißt ja nicht, dass sich die Leute daran halten. Viele der am Rand des Parks gelegenen Seen sind halb drin und halb draußen, und auf der Hälfte, die außerhalb liegt, sind Motorboote erlaubt, also ist da alles ziemlich durchlässig. Vor ein paar Wochen, als es noch wärmer war, sind die Leute auf dem Ford Lake Wasserski gefahren. Was auf dem Drittel des Sees, das der Zivilisation am nächsten liegt, nicht verboten ist.«

Ich versuche mir vorzustellen, wie jemand aus Ford Wasserski fährt. Anfang der neunziger Jahre habe ich das selbst mal getan, zusammen mit David Locano und seinem Sohn. Wir drei – keiner von uns ein wertvoller Mensch – mit unserem eigenen Powerboot und einer Fläche ursprünglichen, vorher noch trinkbaren Wassers, und alles bloß wegen einer blöden Raserei, die jedes Mal drei Minuten dauerte. Wenn man sich dabei nicht wie ein Pharao fühlt, wann dann?

»Aber wie soll jemand mit einem Motorboot bis zum White Lake kommen, nach allem, was Sie uns über Portagen erzählt haben?«, fragt Violet.

»Es gibt in den Boundary Waters Portagen für Motorboote. Das ist seit Jahrzehnten nicht mehr legal, aber da draußen gibt’s noch jede Menge davon. Meistens ausgebaggert. Manchmal mit Schienen. Die Leute von der Parkverwaltung reißen die Schienen raus, wenn sie sie entdecken, aber das ist ein großes Gebiet, hauptsächlich aus der Luft überwacht.«

»Wurde am White Lake ein Motorboot gefunden?«, fragt sie.

»Nein. Die beiden Jugendlichen, die in der Nähe waren, als Autumn und Benjy ums Leben kamen, haben gesagt, sie wären zu viert in zwei Kanus rausgefahren, und mit einem davon sind die Überlebenden nach Ford zurückgekehrt. Aber das ließ sich nicht beweisen. Ich hab zwar ein Kanu von CFS vorgefunden, aber wenn die vier ein gestohlenes oder geliehenes Motorboot benutzt haben, hatten sie vielleicht ein Kanu im Schlepptau, um dort ein bisschen rumzupaddeln.«

»Die CFS Lodge?«, frage ich.

»Outfitters & Lodge, ja«, sagt Albin.

»Im Besitz von Reggie Trager?«

»Ja, aber damals gehörte das Ganze noch Autumns Vater. Reggie hat es nach seinem Tod geerbt.«

»Moment mal«, sage ich. »CFS hat Chris Semmel junior gehört?«

Albin blinzelt, als würde er überlegen, ob er mir das sagen soll.

»Stimmt«, sagt er.

»Und nach dem Tod von Autumn und Chris junior, in einem Abstand von nur fünf Tagen, hat Reggie Trager alles geerbt?«

»Genau. Die Frau von Chris junior hätte beides behalten können, aber sie stammt nicht von hier und wollte aus naheliegenden Gründen nicht bleiben. Als Chris senior es damals Chris junior hinterließ, verfügte er, wenn sich von den Semmels niemand darum kümmern wollte oder konnte, sollte Reggie Trager die Gelegenheit dazu erhalten.«

Ein weiterer Grund, warum Trager die Geschichte in seiner Einladung nicht erwähnt hat. »Wurde Trager beschuldigt, Chris junior und Pfarrer Podominick ermordet zu haben?«, frage ich.

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Dafür gab es keine Beweise, und drei Zeugen haben ausgesagt, Reggie könnte es nicht gewesen sein, weil er bei ihnen war, als die Schüsse fielen. Außerdem ist das Ganze nicht so einfach, wie es klingt. Auch sein Motiv war nicht besonders überzeugend. Reggie führt etwa fünfundachtzig Prozent der Gewinne von CFS an Chris juniors Witwe ab.«

»Aus Herzensgüte oder weil er muss?«

»Das war die Bedingung im Testament. Damit hat Reggie keinen Grund mehr, jemanden umzubringen, um CFS zu übernehmen. Geld macht Reggie wahrscheinlich etwa so viel wie vorher, nur muss er den ganzen Laden jetzt allein schmeißen.«

»Vielleicht wollten sie ihn feuern.«

»Davon hat mir niemand etwas gesagt. Nicht mal Chris juniors Witwe, die Reggie Trager nicht besonders gut leiden kann.«

»Was hat sie denn gegen ihn?«

»Sie hält ihn für schuldig.«

»Aus welchem Grund?«

»Aus keinem, der Geschworene interessieren würde.«

»Sie anscheinend auch nicht.«

»Offenbar klage ich lieber niemanden eines Verbrechens an, dessen er nicht überführt werden kann. Aber wenn Sie mich fragen, ob ich glaube, dass Reggie die Morde begangen hat, dann lautet die Antwort nein. Ich würde nicht behaupten, dass ich ihn gut kenne, und mir ist auch klar, dass die meisten Menschen zu fast allem fähig sind, wenn man sie dazu treibt, aber bei Reggie kann ich mir das nicht vorstellen.«

»Und wer war es Ihrer Ansicht nach?«

Er schüttelt den Kopf. »Keine Ahnung. Chris junior und Pfarrer Podominick führten ein auskömmliches Leben, in einer Stadt, in der es den meisten viel schlechter ging, aber keiner von beiden scheint richtige Feinde gehabt zu haben. Offenbar hätte nicht mal jemand von ihrem Tod profitiert.«

»Glauben Sie, dass der Mörder von Chris junior und Pfarrer Podominick auch Autumn und Benjy umgebracht hat?«

Albin schaukelt ein paarmal mit dem Stuhl vor und zurück und sieht mich an.

»Nein, das glaube ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Nicht gerade eine ähnliche Vorgehensweise. Einen Mord mit einem Jagdgewehr kann ich wenigstens verstehen. Und der Mörder von Chris junior und Pfarrer Podominick war so clever, dass er keine Spuren hinterließ. Das, was Autumn und Benjy zugestoßen ist, schien mir was völlig anderes zu sein.«

»Hat am White Lake jemand nach einer Portage für Motorboote gesucht?«, fragte Violet.

»Ja, und ich habe keine entdeckt. Auch am Lake Garner habe ich keine entdeckt, aber der ist viel größer und schwerer zu erkunden. Vielleicht gab’s da eine, die mir entgangen ist.«

Das war keine schlechte Frage, doch ich glaube nicht, dass Violet in dieselbe Richtung wie Albin denkt. »Können wir die Autopsieberichte von Autumn und Benjy sehen?«, frage ich.

»Nein. Das dürfte gegen das Gesetz verstoßen.«

Ich weiß nicht, ob das stimmt.[35] Ich versuche es mit »Gibt es noch irgendwas, das Sie uns sagen müssen, um uns vor Gefahren zu schützen?«

Ich weiß nicht, was für Eide, Menschen zu schützen, ein Sheriff hier oder sonstwo leisten muss, aber es dürften einige sein. Und vielleicht erlauben oder erfordern sie sogar, dass Albin mit Informationen rausrückt, die er sonst aus rechtlichen oder moralischen Gründen nicht geben darf.

Wenigstens glaube ich, dass er darauf hinauswill.

»Das Beste wäre, Sie reisen ab«, sagt er. »Wenn ich die Sache betrachte, sehe ich im Grunde kein Licht, sondern nur Schatten. Aber wenn Sie das Ganze durchziehen wollen, dann trauen Sie Reggie Trager nicht, bloß weil ich ihn für unschuldig halte. Ich bin kein Geschworenengericht. Bleiben Sie in der CFS Lodge – in Ford ist es zu gefährlich. Und halten Sie mich über alles, was passiert, auf dem Laufenden. Das meine ich nicht als Wahlmöglichkeit. Ich geben Ihnen meine Handynummer und meine E-Mail-Adresse. Sollte ich irgendwann zu dem Schluss kommen, dass Sie Informationen zurückgehalten haben, die bei einer strafrechtlichen Ermittlung auch nur nützlich sein könnten, werde ich dafür sorgen, dass Sie das beide bereuen. Haben wir uns verstanden?«

Wir nicken. »Ja, Sir«, sagt Violet.

»Noch was. Wenn Sie am White Lake sind, gehen Sie nicht ins Wasser.«