Epilog
Mila
Der Frühsommer war wunderschön in diesem Jahr. In Rezas Garten konkurrierten üppige Pfingstrosen mit verschiedenfarbigen Rhododendren, überall spross zartes Grün hervor und die Apfelblüte war ein einziger Rausch.
Ich hielt mein Gesicht der Sonne entgegen, sobald sie sich zeigte, schloss die Lider, hinter denen helle Punkte auf schwarzem Grund tanzten. Ich saß auf der Bank, versteckt hinter den Eiben, und hatte meine Beine ausgestreckt. Ich fühlte mich wohl, von Kopf bis Fuß.
Über ein halbes Jahr war vergangen, seit ich in meinem Elternhaus zu mir gekommen war, ohne zu wissen, wer meine Eltern eigentlich sind. Seitdem war es besser geworden, ein klein wenig zumindest. Einige Bilder, kurze Momente und Sätze aus der Vergangenheit tauchten auf und blieben, erzählten mir davon, wer meine Mutter eigentlich war, wie mein Vater tickte und mit welchen Tricks Rufus beizukommen war. Sam hatte mir angeboten, mir seine Erinnerung zu zeigen, aber ich hatte mich dagegen entschieden. Ich wollte diese Art von Schattenschwingen-Magie nicht zulassen, nicht nach dem, was ich mit Nikolai erlebt hatte, obwohl ich ahnte, dass Sams Berührung ganz und gar anders sein würde.
Ein sanftes Klopfen auf meinen Scheitel riss mich aus meiner Selbstversunkenheit. Ich drehte den Kopf und blinzelte Sam an, der hinter mir stand. Er schnappte sich das Ende meines langen Zopfes und kitzelte mich damit unter der Nase.
»Tagträumerin«, zog er mich auf.
»Und das ausgerechnet von meinem wahr gewordenen Lieblingstraum. Herr Bristol, wissen Sie, dass Sonnenlicht auf der Haut Ihnen besonders gut steht?«
Sam strich sich verlegen das Haar hinter die Ohren. »Ich bin mir nicht sicher, was ich von deiner Spezialtechnik halten soll, mich zu einem Kuss zu verleiten. Du könntest auch einfach sagen: Küss mich. Ich würde es tun.«
»Das tust du doch ohnehin. Und so komme ich wenigstens zu dem Vergnügen, dich erröten zu sehen.«
Endlich bekam ich, wonach ich mich sehnte, einen liebevollen innigen Kuss und noch ein wenig mehr. Jedes Mal, wenn sich unsere Lippen fanden, erkannte ich, wie viel mir dieser junge Mann bedeutete, obwohl ich bislang nur das helle Leuchten seiner Aura in meiner Erinnerung wiedergefunden hatte. All die anderen Dinge, die wir miteinander erlebt und geteilt hatten, waren mir noch verborgen. Ich kam allerdings nur selten dazu, unter dem Verlust zu leiden, denn Sam eroberte mich nicht nur jeden Tag aufs Neue, sondern war stets um mich herum, sodass ich die Vergangenheit nicht brauchte, um zu wissen, wie viel er mir bedeutete.
Eigentlich warteten unzählige Aufgaben auf Sam, seit die Sphäre sich Stück für Stück der Menschenwelt öffnete und ein vorsichtiges Annähern von beiden Seiten stattfand. Das war auch notwendig, denn die meisten Menschen zeigten sich schlichtweg überfordert von der Vorstellung, dass es mehr als ihre Welt gab und dass diese andere Seite weder Himmel noch Hölle hieß. Bislang hatten die Schattenschwingen nur einige wenige offizielle Vertreter in die Menschenwelt geschickt, solche wie Sam, die den Menschen besonders nah waren, oder solche wie Ranuken, die sich sichtlich wohl auf dieser Seite fühlten. Seit Sam mit meiner Hilfe seine Pforte an der Küste von St. Martin geöffnet hatte, war es zu einem Ansturm von Neugierigen gekommen, aber auch einige Mädchen und Jungen mit ungewöhnlichen Augenfarben waren erschienen, die beim Anblick der Meerespforte zum ersten Mal das Kribbeln ihrer Schwingen am Rücken verspürten.
Die seit dem Kampf bei der gläsernen Festung ungewöhnlich auf Harmonie gesinnten Schattenschwingen hatten sich gewünscht, dass Sam weiterhin eine führende Rolle bei der Zusammenführung übernehmen würde, aber er wehrte sich bislang erfolgreich dagegen. Über kurz oder lang würde er nachgeben, da war ich mir sicher. Ob er es wollte oder nicht, Sam fand sich letztendlich stets im Vordergrund wieder. Es war diese innere Stärke gewesen, die Nikolai erkannt hatte – egal wie viele Fehler er gemacht hatte, in dieser Hinsicht hatte er richtig gelegen. Sam war außergewöhnlich, und jeden Tag lernte ich ein wenig mehr darüber, ohne dessen müde zu werden. Ich wusste zwar nicht, ob mir die Ewigkeit gehörte – und in vielen Stunden wollte ich es auch nicht, wenn ich etwa mit meiner Familie zusammen war oder mit dem Gedanken spielte, eines Tages eigene Kinder zu haben –, aber ich hätte sie damit verbringen können, Samuel Bristol zu erforschen und ihm immer näherzukommen.
Sam gab meine Lippen frei und sah mich nachdenklich an. »Bist du dir sicher, dass du das willst?« Das Sonnenlicht tanzte auf der Schere, die er in seiner Hand hielt. »Oder kam dir diese Idee, weil Lena dir gestern erzählt hat, dass ich mich damals in deine kurzen Haare verliebt habe?«
Das hatte sie tatsächlich, obwohl sie ansonsten kaum über die Vergangenheit redete. Nach ihrer anfänglichen Bestürzung über meine verloren gegangene Erinnerung hatte Lena nämlich erkannt, dass es mir trotzdem recht gut ging und ich ihr keinen Vorwurf machte. Warum auch? Ich mochte sie, sehr sogar, und sie erwiderte mein Bedürfnis nach Freundschaft, obwohl ich sie gelegentlich zum Weinen brachte, wenn mir bestimmte Dinge, wie ein Liebesfilm etwa, gleichgültig waren, obwohl sie offenbar eine gemeinsame Erinnerung mit ihnen verband. Andererseits neigte sie ohnehin zu Gefühlsausbrüchen, was nicht weiter verwunderlich war, wenn man mit Rufus Levander zusammen war. Der Kerl konnte einen wahrhaftig in den Wahnsinn treiben.
Unterdessen öffnete Sam meinen Zopf und strich das Haar mit den Fingern glatt. »Mir ist es egal, ob du es kurz oder lang trägst, ich finde beides sehr schön.«
»Das ist lieb von dir, aber die Entscheidung habe ich ganz allein für mich gefällt. Ich bin keine langhaarige Schönheit. No, Sir.«
Neckisch lächelte Sam mich an. »Wirklich nicht? Dann habe ich mich wohl monatelang in dir getäuscht. Und mit wem habe ich es in Wirklichkeit zu tun?«
»Mit Mila – und mit niemand anderem.«
Sam zerrieb eine der glänzenden Strähnen zwischen seinen Fingerspitzen. »Es ist wunderschön, aber ein Kurzhaarschnitt passt tatsächlich besser zu deinem Wesen.«
Ich blickte zu ihm hinauf, damit er die Bestätigung in meinen Augen fand. Als ich den Kopf senkte, hörte ich einen Augenblick später, wie die Schere sich in mein Haar grub. Das Geräusch war eine einzige Befreiung.
Sam öffnete die Hand und ließ die dunklen Strähnen vom Wind davontreiben. »Für die Vögel, zum Nestbau«, erklärte er mir. »Sie können schließlich nicht immer nur durch den blauen Himmel fliegen.«
»Das stimmt«, sagte ich leise.
Ich gehörte wieder mir und ich gehörte zu Sam.