7 Dem Licht so fern
Es dauerte eine Weile, bis die Paddelgruppe bei der Surfschule endlich ihr aufgescheuchtes Geflüster einstellte und jeder seines Weges ging. Das Gesehene hatte sie eindeutig tief beeindruckt, und nur die Scham darüber, die Beherrschung verloren zu haben, sorgte dafür, dass sie nicht ewig beisammenstanden und das Erlebte immer aufs Neue in Worte packten. Andernfalls wäre ich ernsthaft versucht gewesen, in ihre Erinnerung einzugreifen und das Ganze in den langweiligsten Paddelausflug aller Zeiten umzuwandeln. Ich gab mich damit zufrieden, dass der Wolkenpalast in ihren Köpfen schon von selbst verblassen würde – genau wie in Wirklichkeit.
Unschlüssig blieb ich bei den verstauten Kajaks stehen, obwohl ich mich eigentlich sputen musste, wenn ich noch ein wenig Zeit mit Mila verbringen wollte. Doch was sollte ich ihr über den Vorfall erzählen? Vermutlich wäre es das Klügste, mich auszuschweigen. Andererseits begann das selbst auferlegte Schweigegelübde über alles, was irgendwie mit den Schattenschwingen zu tun hatte, langsam an mir zu zehren. Ich hatte den Verdacht, dass ich mich mit jedem weiteren Mal, bei dem ich etwas Ungesagtes zwischen uns stehen ließ, weiter von ihr entfernte. Letztendlich wusste ich nicht, wie viele Geheimnisse eine Liebe vertrug, ich ahnte nur, dass es da eine Grenze gab. Und die wollte ich nur ungern austesten, besonders weil es ganz danach aussah, als ob es künftig weitere Beweise für die Existenz der Schattenschwingen geben würde. Wie war das noch einmal mit den Geistern, die man rief und die man anschließend nicht wieder loswurde?
»Das war mit Abstand das Seltsamste, was ich je in meinem Leben gesehen habe.« Toni stellte sich zu mir und rieb sich das Haar mit einem Handtuch trocken. Dabei wirkte er verlegen, eine Regung, die ich bei ihm eigentlich nicht erwartet hatte. »Schon verrückt, dass wir alle miteinander vollkommen ausgetickt sind. Ich kann mir das nicht erklären …«
»Waren eben ein paar besonders hübsche Wolken«, versuchte ich die Situation zu entspannen.
»Das kannst du laut sagen. Ich bin übrigens echt dankbar, dass du die Nerven behalten hast, während ich mich völlig hirnlos der ausreißenden Herde angeschlossen habe. Und so was nach fünfzehn Jahren als Lehrer! Da sollte man doch eigentlich meinen, dass einem der Hütesinn in Fleisch und Blut übergegangen ist.« Toni sah aufs Meer hinaus, als fände er am Horizont eine Heilung für sein angeschlagenes Ego. »Weißt du was: Du brauchst nachher nicht noch einmal extra wegen deines Kurses herzukommen, den übernehme ich. Wink nicht ab, ich möchte das so. Die Ablenkung wird mir gut tun. Mach dir einen gemütlichen Abend mit deiner Mila, aber denk dran: Das Fenster über eurem Bett ist ziemlich gut einzusehen. Nur für den Fall, dass dieser miese Schnüffler Kraachten um den Wohnwagen herumschleicht.«
Nachdem ich der Versuchung widerstanden hatte, rasch einmal in Tonis Erinnerung nachzusehen, was genau er in besagtem Fester zu sehen bekommen hatte, verzog ich mich hinter die hölzernen Umziehkabinen, die vom Stil her an Tiroler Hütten angelehnt waren. Ein Hauch Alpenflair war bei Toni eben Pflicht. Dort standen auch einige Duschen im Freien, damit man sich auf die Schnelle das Salzwasser von Haut und Haaren waschen konnte. Genau das hatte ich jetzt auch vor, allerdings nicht weil mir das Salz etwas ausmachte, sondern um für einen Moment abzuschalten.
Nachdem ich mich versichert hatte, dass mir keine neugierigen Augen folgten, zog ich den Neoprenanzug bis zu den Hüften hinunter und stellte mich unter den kräftigen Wasserstrahl.
Meine eingezogenen Schwingen wurden zwar stets für Tätowierungen gehalten, trotzdem erregten sie eine Aufmerksamkeit, die mich irritierte. So war ich bereits mehrfach von Schülern, aber auch von Kollegen angesprochen worden, ob sie die schwarzgrauen Flügel, die meinen gesamten Rücken bedeckten, einmal berühren durften. Dabei schien niemandem auch nur ansatzweise bewusst zu sein, wie grenzwertig die Bitte war. Schließlich lief es darauf hinaus, dass sie mich anfassen wollten, als wären wir im Streichelzoo. Samuel, die exotische Kreatur – betatschen ja, füttern verboten. In der Regel waren sie viel zu fasziniert von den »unfassbar echt aussehenden« Farbstrichen unter meiner Haut, als dass sie auch nur geahnt hätten, dass die Berührung meiner Schwingen – ob sie nun eingezogen waren oder nicht – für mich so intim war, dass ich sie von niemand außer Mila zulassen würde. Obwohl es noch jemand anderen gab, der diese Grenze überschritten hatte. Allerdings hatte Asami es ohne meine Zustimmung getan …
Nachdem das Wasser das Salz längst abgespült hatte, blieb ich weiterhin unter dem eiskalten Strahl stehen. Den Kopf in den Nacken gelegt, stand ich da, genoss den Druck, mit dem er auf meine Stirn niederging, in meinen Ohren brauste und auf meine Schultern schlug. Meine Umgebung verschwand hinter einer Wand aus blauweißen Schlieren, während die Kälte des Wassers mich angenehm betäubte. Ich ließ es geschehen, ließ mich forttreiben, war ganz bei mir und hatte keinen Sinn mehr für das Außen … bis der Duschstrahl plötzlich sanfter wurde und schließlich erstarb.
Jemand hatte den Hahn abgestellt.
Ich fühlte, wie die letzten Tropfen ihren Weg über mein Gesicht suchten, bevor der Wind sie trocknete. So wollte ich stehen bleiben, mich nicht regen und nicht denken.
Aber das war unmöglich.
»Samuel«, rief mich eine eindringliche Stimme. »Wir müssen reden.«
Ich kannte nur einen, dem es gelang, einerseits wie die Ruhe in Person zu klingen und zugleich klarzustellen, dass er zum Berserker würde, falls man ihm nicht augenblicklich Folge leistete.
Bevor meine Totstell-Nummer kindisch wurde, öffnete ich die Augen und blickte haarscharf an Asami vorbei, gerade so, als wäre er unsichtbar. Aus den Augenwinkeln heraus bemerkte ich, dass er sich nicht die Mühe machte, sich wie ein Mensch zu kleiden. Wie auch sonst trug er lediglich eine Leinenhose, während sein langer Zopf über die Schulter hing. Im Obi, den er um seine Taille geschlungen trug, steckte ein Katana, dessen Griff auf mich zeigte.
Ich strich mir die letzten Tropfen aus den Augen und fuhr durch mein Haar, um die Schwere der Nässe abzustreifen. Jede einzelne Bewegung führte ich provozierend langsam aus, dabei wollte ich Asami keineswegs verärgern, ich wollte einfach so tun, als existierte er in meiner Welt nicht. Zumindest versuchte ich, mir das einzureden.
Nur, wenn es mir tatsächlich darum ging, ihn zu ignorieren, warum drehte ich mich dann nicht einfach um und ging meines Weges?
»Das ist lächerlich.« Jeder einzelne Ton drückte Asamis Verachtung aus. »Ich bin nicht hierhergekommen, um mich von einem Kindskopf wie dir mit Missachtung stra-fen zu lassen. Sieh mich gefälligst an, wenn ich mit dir rede.«
Asami stand nicht mehr als eine Armlänge entfernt, die Hand locker auf dem Griff des Katanas liegend. Seine Miene war so ungerührt wie eh und je, doch in seinen kohlschwarzen Augen glühte ein Feuer. Ob es sich aus meinem Trotz oder der Wiedersehensfreude nährte … das konnte man bei ihm nicht sagen.
»Ich glaube, du hast vergessen, dass du weder mein Wächter noch mein Lehrer bist. Du hast mir nichts zu sagen.«
»Wenn das so ist, dann wundert es mich ehrlich gesagt, dass du mir trotzdem gehorchst. Du sprichst mit mir und du siehst mich an. Genau wie ich es von dir gefordert habe.«
Mit einem Schulterzucken wendete ich mich ab. »Sieh meine Willensschwäche als kleines Zugeständnis an deine Bedürftigkeit, mich herumzukommandieren. Vielleicht tröstet es dich ja darüber hinweg, dass ich jetzt gehen muss. Mila wartet auf mich.«
»Das tut sie nicht. Der Wohnwagen steht leer.«
Ich fuhr herum, und ehe ich mich versah, hatte ich Asami einen Stoß vor die Brust versetzt, was er ohne Gegenwehr geschehen ließ. Dabei streifte mich seine Aura und ich hielt sie im letzten Moment davon ab, sich mit meiner zu verbinden. Diese Art von Begegnung musste ich unbedingt vermeiden, es war ohnehin schon schwierig genug, Asami auf Distanz zu halten.
»Woher weißt du, dass Mila nicht im Wohnwagen ist?«
»Weil ich dort nach dir gesucht habe, aber lediglich ihre Nachricht vorgefunden habe, dass sie zu einer Freundin gegangen ist, die ihres Trostes bedarf.«
Das klang keineswegs abwegig. Bestimmt ging es um Lena, der Rufus Kummer bereitete. Darin war er ja unschlagbar. Der Bernsteinring zumindest verriet mir, dass Mila zwar aufgeregt, aber keineswegs verstört war. Ja, bestimmt war sie bei Lena und damit beschäftigt, ihr eine Freundin zu sein.
Gerade als ich anfing, meine heftige Reaktion zu bereuen, setzte Asami nach: »Selbst wenn dieses Mädchen nicht fortgegangen wäre, könnte man meinen, dass du heute bereits genug Zeit mit ihr verbracht hast. Falls ich die Atmosphäre dieses schäbigen Kastens, in dem du haust, richtig gedeutet habe.« Er schnaufte abfällig durch die Nase. »Nachdem du dich ihrem Willen gebeugt hast, kannst du endlich tun, was du dir so unbedingt gewünscht hast. Und dazu auch noch, so oft du willst. Freut mich für dich.«
»Was ich mache, geht dich nicht das Geringste an. Also spionier mir nicht nach.«
»Das lag gewiss nicht in meiner Absicht, du schätzt deine Bedeutung für mich falsch ein.«
»So, tue ich das? Das glaube ich kaum, bei dir ändert sich schließlich nie etwas.«
Ich hatte mich so dicht vor Asami aufgebaut, dass sich mein zornerfülltes Gesicht auf den Obsidianscheiben seiner Augen spiegelte. Ein absurder Wunsch, ihn zu demütigen, stieg in mir auf.
»Dieses Menschenmädchen hat dir den Kopf verdreht, deshalb verstehst du alles falsch, was ich sage. Du bist nicht länger dein eigener Herr«, sagte er voller Herablassung.
Im nächsten Moment schlang ich meine Arme so fest um Asamis Rücken, dass er nicht nur gefangen war, sondern auch seine Schwingen nur mit Gewalt würde öffnen können. Damit tat ich das, was wir Schattenschwingen am wenigsten ertrugen: Ich engte ihn ein. Sofort begannen die Zeichnungen auf seinem Rücken zu vibrieren, ein Strom, der auch meinen Körper durchfuhr. Trotzdem gab ich nicht nach. Asami stöhnte auf, unternahm jedoch keinerlei Anstalten, sich zu befreien. Dabei wäre es ihm allein schon wegen meiner geschwächten Aura ein Leichtes gewesen, meinen Griff abzuschütteln. Stattdessen ertrug er ihn.
»Das habe ich mir gedacht: Wenn es hart auf hart kommt, gilt für dich immer noch die Regel, dass ein Samurai sich niemals gegen seinen Herrn auflehnt – selbst wenn dieser einem Menschenmädchen verfallen ist«, höhnte ich. »Du kannst dein Gesicht zu einer Maske versteinern und große Töne spucken, aber ich kenne dich. Für dich hat sich zwischen uns nichts verändert, unabhängig von meiner Entscheidung, der Sphäre den Rücken zuzukehren. Du wirst stur an deinem Weg festhalten. Wenn ich für dich und deine Pläne bedeutungslos geworden wäre, dann würdest du dir nichts von mir gefallen lassen. So wie von allen anderen auch.«
Scharfe Schatten zeichneten sich unter Asamis Wangenknochen ab, und noch mehr als sonst traten Muskeln und Knochen unter seiner weißen Haut hervor, als habe er in letzter Zeit an Gewicht verloren. Trotz aller Kraft und Geschicklichkeit wirkte er beinahe zerbrechlich. Ich fragte mich, wie es ihm seit unserem letzten Treffen ergangen war.
»Du solltest besser zuhören«, flüsterte er. »Ich habe nicht gesagt, dass du für mich unwichtig geworden bist, sondern dass du deine Bedeutung für mich falsch einschätzt. Das ist es, woran sich nichts geändert hat. Du weigerst dich zu begreifen, wie viel du mir bedeutest. Darin siehst du die einzige Chance, deine Mensch-Spielerei fortzusetzen.«
Eine Sekunde noch hielt ich Asami umfangen, dann gab ich ihn frei und stand betreten da. Meine Überlegenheitsgeste hatte sich in den Beweis verwandelt, dass Asami auf unerklärliche Weise an mich gebunden war. Nicht unerklärlich für eine Schattenschwinge … aber für mich schwierig zu erfassen.
Es dämmerte bereits. An die früher anbrechende Dunkelheit hatte ich mich noch nicht gewöhnt, nach meinem Geschmack hätte es für immer so lange hell sein können wie im Sommer. Asamis schwärzlich glimmende Aura verschmolz mit ihrer Umgebung, und doch erkannte ich ihren Umriss deutlich. Genau wie zuvor beim Anblick des Wolkenpalasts erschienen mir nur Asami und ich echt … und alles andere wie ein Traum. Ein ziemlich blasser Traum. In seiner Gegenwart erahnte ich die Schattenschwinge, die ich gewesen wäre, wenn ich mich nicht für einen anderen Weg entschieden hätte.
»Lass mich eins klarstellen: Egal ob Mila mich erwartet oder nicht, ich habe nicht vor, mehr Zeit als nötig in deiner Gegenwart zu verbringen. Zwischen uns beiden gibt es nichts zu besprechen, es gibt keinen Grund, warum wir uns länger als nötig miteinander abgeben sollten, Asami.«
Zu meiner Überraschung verzog er das Gesicht, als hätte ich ihm Schmerzen zugefügt. Etwas, das mein harter Griff nicht vermocht hatte. »Warum nennst du mich nicht bei meinem wahren Namen, nachdem ich ihn dir offenbart habe? Willst du mich demütigen oder ist es dir gleichgültig?«
Ertappt. Ich biss auf meine Unterlippe. Okay, das war unfair gewesen. Denn abgesehen davon, dass ich mit Asami nichts mehr zu tun haben wollte, weil er eine Schattenschwinge war, gab es keinen Grund, ihn zu verletzen, nur weil seine Gegenwart eine Schwäche in mir bloßlegte, die ich nur schwerlich ertrug. Ich hatte mein Schattenschwingen-Dasein für Mila aufgegeben, doch das änderte nichts daran, dass ich unter dem Verlust litt. Asami dafür büßen zu lassen, war ziemlich schwach. Zwar hatte ich es nicht absichtlich darauf angelegt, ihn mehr als nötig zurückzuweisen, und doch tat ich es unentwegt und auf eine brutale Art dazu.
»Glaub mir, ich wollte dich nicht demütigen. Es ist einfach nur so …« Überfordert verschränkte ich die Hände hinterm Nacken. »Dass du plötzlich vor mir stehst, ist schwierig für mich. Schließlich habe ich nicht damit gerechnet, dich jemals wiederzusehen. Ich habe es mir nicht einmal ansatzweise vorstellen können, nicht nach dem, wie wir auseinandergegangen sind.«
Asami schwieg, aber sein Blick lag auf mir, und ich wünschte mir inständig, er würde das Meer oder meinetwegen auch meine Füße betrachten, denn es war mir unmöglich, ihn zu erwidern. Mit einem Mal fröstelte ich in der Abendluft. »Nenn mich ruhig weiterhin Asami«, sagte er schließlich. »Ich habe dir meinen Namen nicht genannt, um dir Unbehagen zu verursachen. Wenn du diese Form von Nähe nicht wünschst, dann akzeptiere ich das. Genau wie ich akzeptiert habe, dass du dich für ein Leben an der Seite dieses Mädchens entschieden hast.« Und nicht an meiner – dieser Vorwurf schwang unausgesprochen mit.
Ich hielt die Spannung zwischen uns beiden kaum aus. Wir mussten schleunigst weg von diesem Thema. »Dieser Wolkenturm, der sich vorhin draußen auf dem Meer aufgebaut hat … deshalb bist du hier, nicht wahr? Ich habe ihn gesehen, zusammen mit einer Gruppe von Menschen, die bei dem Anblick vollkommen ausgeflippt ist.«
Asami bewegte seine Schultern, um die Anspannung abzuschütteln. Dann nahm er die für ihn so typische Wächterhaltung ein, während die Hand zu seinem Katana wanderte.
»Kannst du dich noch an Solveig erinnern, das Mädchen mit den eingeflochtenen Lederbändern im Haar, das mit seinen Ansichten über die Versäumnisse und Geheimhaltungen der Älteren bei den Versammlungen die jungen Schattenschwingen aufgewiegelt hat? Sie hat nicht nur ihre Pforte in Erfahrung gebracht, sondern sogleich den Plan gefasst, für ihre Pforte einen entsprechenden Rahmen zu schaffen: ein Wolkenportal. Eine Nummer kleiner geht es bei dieser trotzköpfigen Göre eben nicht.«
»Stopp. Was meinst du mit Wolkenportal?«
Asami runzelte die Stirn, für seine Maßstäbe eine fast übertriebene Reaktion. »Bevor beschlossen wurde, die Brücken zwischen der Sphäre und der Menschenwelt niederzureißen, waren solche festen Portale gang und gäbe. Es gehörte einiges an Geschick dazu und vor allem viel Kraft, um sie dergestalt zu errichten, dass sie von beiden Seiten aus durchschreitbar waren. Eine alte, zu Recht vergessene Kunst, denn sie erleichterte nicht nur uns den Wechsel zwischen den Welten, sondern auch den Menschen, die dann frei wechseln konnten. Solveig hat das nicht gekümmert, sie wollte nur umsetzen, was sie in Erfahrung gebracht hat. Außerdem haben die jüngeren Schattenschwingen, die sich um sie scharen, ihr freiwillig einen Großteil ihrer Kraft überlassen, damit sie das Wolkenportal errichtet. Als Symbol des Widerstands.«
Ich wusste nicht, wie ich zu diesen Neuigkeiten stehen sollte. Natürlich wollte ich eine solche Verbindung nicht, ich wollte überhaupt keine Schattenschwingen in St. Martin. Dass eine solch radikale Trennung unserer Welten allerdings nur mit Gewalt durchzusetzen war, konnte auch nicht richtig sein. »Und du hast dieses Symbol zerschlagen, sobald es überhaupt eine Form angenommen hat?«, fragte ich nach.
Asami nickte. »So, wie es meiner Aufgabe als Erster Wächter entspricht.«
»Ach, es gibt sie also wieder, die Wächterkaste. Dann hat die neue Freiheit ja nicht lange vorgehalten.«
»So einfach ist es nicht. Wir Wächter achten lediglich darauf, dass niemand über die Stränge schlägt, solange die Versammlung noch nicht darüber entschieden hat, wie es weitergeht.« Asami verschränkte die Arme und lächelte bitter. »Es ist wirklich erstaunlich, was für eine Bewegung du losgetreten hast, bevor du gegangen bist. Meine Wächter und ich haben seitdem alle Hände voll damit zu tun, diese Jungspunde unter Kontrolle zu halten. Die betrachten die Menschenwelt offenbar als eine wunderbare Spielwiese zur Entfaltung ihrer Künste. Sie wissen kaum, wer sie sind, aber das hält sich nicht davon ab, in Hybris zu verfallen. Wir können von Glück reden, dass die Suche nach dem großen Unbekannten weiterhin voll im Gang ist, sodass sie bislang zu beschäftigt sind, um auf wirklich dumme Ideen zu kommen. Das wird sich jedoch früher oder später ändern. Solveigs Wolkenportal ist dafür der beste Beweis.«
Ich musste schwer schlucken. Schattenschwingen, die St. Martin ganz offen als das aufsuchten, was sie waren: übersinnliche Geschöpfe, mit Gaben ausgestattet, von denen die Menschen nur träumten. Die Gefahren, die ihr plötzliches Auftreten mit sich brachten, waren kaum abzuschätzen, doch noch mehr setzte mir die Vorstellung zu, wie ausgeliefert die Menschen dem Ganzen waren. Denn sicherlich würden nicht alle Schattenschwingen so umsichtig mit ihnen umgehen wie Kastor, Ranuken und Shirin. Bei den Versammlungen hatte sich deutlich gezeigt, wie sehr einige von ihnen nach Macht lechzten. Und über Macht würden sie in der Menschenwelt in rauen Mengen verfügen.
»An all das hast du offenbar niemals gedacht, Samuel. Du kannst dich von der Sphäre abwenden und leugnen, wer du bist. Aber du kannst nicht verhindern, dass das von dir aufgestoßene Tor sich hinter dir schließt und geschlossen bleibt. Die Welt, die du aus Liebe zu deiner Heimat erklärt hast, wird sich schon sehr bald verändern.«
Ein gleißendes Brennen breitete sich in meiner Körpermitte aus, aber meine Wut war nichts im Vergleich zu der Hilflosigkeit, die ich empfand. »Was zum Henker wollen Solveig und die anderen hier? Ihre Familien sind längst tot, es ist nichts mehr so wie zu ihren Zeiten. Sie haben in der Menschenwelt nichts verloren, verdammt.«
»Das mag stimmen, aber es ändert nichts an der Anziehungskraft der Menschenwelt auf uns Schattenschwingen, wenn wir sie erst einmal betreten haben. Uns Wächter gab es schließlich nicht ohne Grund, es war unsere Aufgabe, die jungen Schattenschwingen vom Wechseln abzuhalten. Wer diese Erfahrung nämlich nicht gemacht hat, vermisst die Menschenwelt nicht, sondern behält sie als matten Abglanz der Sphäre in Erinnerung. Doch wer erst einmal damit begonnen hat zu wechseln, wird nicht freiwillig damit aufhören.«
Zwischen uns hing die unausgesprochene Erkenntnis, dass auch Asami, der die Menschenwelt zutiefst verachtete, stets aufs Neue zurückgekehrt war. Selbst wenn er jedes Mal einen triftigen Grund – wie Solveigs größenwahnsinniges Wolkenportal – für seinen Wechsel gehabt hatte, so war es nicht zu übersehen, dass er seit seinem von mir erzwungenen ersten Wechsel auffallend oft herübergekommen war. Sogar er, der Unerbittlichste unter den Schattenschwingen, konnte der Anziehungskraft der Menschen nicht widerstehen.
»Wie auch immer«, setzte Asami an. »Leider hast du ja seit dem Moment, in dem du erfahren hast, wer du bist, all deine Energie aufs Wechseln konzentriert. Ansonsten hättest du von Shirin etwas darüber erfahren können, wie unsere beiden Welten aussahen, bevor sie auseinanderbrachen. Aber unsere Geschichte hat dich ja noch nie interessiert, und allem Anschein nach hat sich daran auch nichts geändert – obwohl ihr Verlauf viel über das aussagt, was in Zukunft passieren könnte.«
Sollte ich bis eben noch auf den passenden Moment zum Absprung gelauert haben, gab ich diesen Gedanken nun endgültig auf. Die Welt würde sich verändern, denn die Schattenschwingen würden sich nicht länger auf den Verbleib in der Sphäre beschränken. Vor allem nicht, sobald sie herausgefunden hatten, wie sehr die Berührung der Menschen sie stärkte. Es war klar, dass einige der Schattenschwingen nicht lange bitten, sondern sich einfach nehmen würden, wonach ihnen der Sinn stand. Außerdem verschwendeten sie keinen Gedanken daran, wie die Menschen damit umgehen sollten, wenn urplötzlich Portale ihr gesamtes Weltbild erschütterten. Einmal davon abgesehen, dass sicherlich nicht alle froh darüber wären, es mit einer überlegenen Spezies zu tun zu bekommen, die kraft ihrer Aura ihre Umgebung gestaltete und die Macht besaß, in die Menschen hineinzuschauen und ihre Gedanken beliebig zu verändern. Und das waren nur die Dinge, über die ich Bescheid wusste. In der Vergangenheit hatten die Schattenschwingen zweifelsohne über noch viel mehr Fähigkeiten verfügt, die weit über das mir Bekannte hinausgingen. Mir blieb nichts anderes übrig: Ich musste herausfinden, was uns bevorstand.
Mit Mühe schluckte ich meinen Stolz herunter. »Wenn ich dich darum bitte, wirst du mir dann von dieser gemeinsamen Vergangenheit erzählen?« Wieder erntete ich Schweigen. Er lässt mich büßen, dachte ich, für jede Demütigung, die ich ihm wissentlich oder auch unwissentlich zugefügt habe. Ich habe meinen Anspruch auf seine Unterstützung verwirkt.
Zu meiner Überraschung nickte Asami jedoch nach einiger Zeit. »Das werde ich, aber woanders. Dieser Ort hier mag ganz nach deinem Geschmack sein, Meer und Sand und Wind. Ich sehne mich allerdings nach Ruhe, die Geschehnisse der letzten Zeit lasten schwer auf mir.« Er brauchte nicht zu sagen, dass er damit nicht nur auf die Veränderungen in der Sphäre anspielte, sondern auch auf die Dinge, die zwischen uns standen. »Außerdem bedarf es eines Hilfsmittels, um dir lebhaft vor Augen zu führen, wie unsere miteinander verbundenen Welten damals aussahen. Dazu müssen wir in die Sphäre wechseln.«
Wie auf Befehl versteifte ich mich. Meine Entscheidung, die Sphäre nie wieder zu betreten, kämpfte gegen die unverblümt aufkeimende Vorfreude bei dem Gedanken, dass mir nun gar nichts anderes übrigbleiben würde, als zu wechseln. Die Sphäre … der Ort, nach dem ich mich unentwegt sehnte, sobald Milas Zauber mich nicht umfing.
»Ich kann nicht dorthin«, brachte ich gequält hervor. »Nicht nur weil ich mir vorgenommen habe, die Sphäre nie wieder zu betreten, sondern weil ich auch die Berührung der anderen beim Eintritt nicht ertragen könnte.«
»Dann werden wir eben meine Pforte nehmen.«
»Deine Pforte?«
Asami zuckte lediglich mit den Schultern.
»Wie hast du deine Pforte denn gefunden?«, fragte ich, obwohl ich befürchtete, meine Frage wäre einen Tick zu persönlich.
Asami blickte mich nachdenklich an, dann sagte er: »Ich habe mich nach dem Licht gesehnt, das mir verloren gegangen ist. Dadurch habe ich meinen Weg gefunden. Man sehnt sich nach dem einen und bekommt das andere. In meinem Fall ist es die tiefste Schwärze.«