10 In der Abwesenheit des Lichts
Sam
Die Nacht war bereits über uns hereingebrochen und eine dichte Wolkendecke sperrte Mond- und Sternenlicht aus. Ich folgte Asami durch die Dünen … oder vielmehr seiner Aura, die sich wie ein negatives Leuchtfeuer abzeichnete, weil ihre Dunkelheit von einer größeren Dichte war als die schwärzeste Nacht. Seine Aura strömte mir entgegen und rief Sehnsucht wach. Nicht nur weil sie um ein Vielfaches stärker war als meine Aura und mir vorführte, was ich im Kampf gegen Nikolai verloren hatte, sondern weil ich den abstrusen Wunsch verspürte, dass ihr schwarzer Glanz mit meinem Lichtschein verschmolz. Es war der Wunsch nach Verbundenheit und der Möglichkeit, meinem wahren Wesenskern als Schattenschwinge zu entsprechen. Diese innere Zerrissenheit auszuhalten, war ohnehin schon schwierig genug, aber mit Asami direkt vor meiner Nase schien sie mir schier unerträglich.
Hilfe suchend umfasste ich den Bernsteinreif an meiner Hand und spürte nach, wie es Mila gerade erging. Eigentlich hatten wir uns ja vorgenommen, die Ringe nicht mehr zu benutzen, aber ich brauchte ihre Nähe, um mich daran zu erinnern, warum meine Selbstverleugnung unumgänglich war. Im warmen Bernstein spürte ich ihren Puls. Ja, da war sie … und es ging ihr einigermaßen gut. Ein wenig aufgeregt, wie es schien, aber ansonsten war alles in Ordnung.
»Samuel, wir sind da.«
Verblüfft blieb ich stehen und sah auf den Eingang eines alten Bunkers, der mehr oder weniger vom Sand bedeckt war. Von dieser Sorte gab es zwischen den Dünen einige, denn St. Martins Hafen hatte in den Weltkriegen der Marine als Anlaufpunkt gedient. Die meisten Bunker waren unzugänglich gemacht worden, und die Leute verspürten in der Regel auch keinerlei Verlangen, sie zu betreten. Sie waren Zeugnisse einer Vergangenheit, auf die niemand stolz war. Aber bei diesem hier hatte sich jemand die Mühe gemacht, den Eingang aufzubrechen.
Während ich noch darüber nachgrübelte, was wir an diesem trostlosen Ort verloren hatten, deutete Asami auf meine Finger, die mit dem Ring beschäftigt waren. »Du solltest jetzt von deinem Bernsteinring ablassen, es sei denn, du möchtest das Mädchen deinen bevorstehenden Wechsel hautnah miterleben lassen.«
»Nein, das will ich ganz gewiss nicht. Mila geht es gut und so soll es auch bleiben. Es ist mir lieber, ihr von meinem Sphärenbesuch zu erzählen, wenn ich ihr gegenübersitze, als dass sie es über den Ring mitbekommt. Das würde sie nur verunsichern.« Und sie darüber hinaus fuchsteufelswild machen, fügte ich in Gedanken hinzu. Nachdem sie auf der Schulmauer so unvermittelt in mich hineingeschaut hatte, traute ich ihr in dieser Hinsicht einiges zu.
Asami angelte sich das Ende seines Zopfes und ließ ihn durch seine hohle Hand gleiten. »Dann seid ihr beiden also noch nicht vollends miteinander verbunden.« Er sprach so leise, dass ich mir unsicher war, ob es sich um eine an mich gerichtete Frage handelte oder ob er nur laut nachdachte. »Ich könnte dir helfen, den Ring so weit zu bedecken, dass sie nichts von deinem Wechsel mitbekommt.«
»Wie willst du das anstellen?«
»Auf die gleiche Art, wie ich dich beim Eintritt in die Sphäre vor den anderen schützen werde, damit deine Anwesenheit ihnen entgeht: indem ich dich in meine Aura hülle.«
Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück. »Auf keinen Fall.«
»Ich glaube nicht, dass du eine Wahl hast. Es sei denn, du verzichtest auf den Besuch in der Sphäre. Dann verzichtest du allerdings auch darauf, eine Vorstellung davon zu bekommen, was durch die Öffnung der Sphäre auf deine Menschenfreunde zukommt.«
Ich spielte meine Möglichkeiten durch. »Einverstanden, wir machen es so, wie du es vorgeschlagen hast. Hoffentlich befriedigt es dich ordentlich, deinen Willen zu bekommen.«
»Mit meinem Willen hat das nichts zu tun. Ich biete dir Hilfe an.«
»Wem von uns beiden willst du eigentlich etwas vormachen, Asami?«
Der erwartete Protest blieb aus. Stattdessen schlüpfte Asami durch die schief in den Angeln hängende Tür ins Innere des Bunkers. Lautlos vor mich hin fluchend folgte ich ihm. Kein einziger Lichtstrahl fiel in diesen unterirdischen Raum mit seiner niedrigen Decke, wie ich voller Beklemmung feststellte. Ich drehte mich um, in der Hoffnung, dass sich wenigstens der Eingangsspalt abzeichnete, doch das tat er nicht. Es war stockfinster.
»Wo ist nun deine Pforte?«
Meine Stimme hallte dumpf von den Wänden wider. Obwohl es kalt war, brannte das Neopren auf meiner Haut. Vorhin hatte ich den Anzug vor lauter Eile wieder angezogen, und nun bereute ich, mir nicht die Zeit genommen zu haben, um meine Kleidung zu holen. Dabei hätte ich in meinem gegenwärtigen Zustand vermutlich nicht einmal ein dünnes T-Shirt ertragen, denn es waren meine Schwingen, die mir zusetzten. Sie wollten unbedingt geöffnet werden – gerade so, als spürten sie die Nähe von Asamis Pforte. Stur hielt ich den Anzug geschlossen. Wenn ich erst einmal damit anfing, dem Trieb meiner Schwingen nachzugeben, würde es gewiss nicht beim schlichten Öffnen bleiben. Das Fliegen war eine Sucht, die ich nur unter Kontrolle hielt, solange ich ihr vollkommen entsagte. Meine Schwingen waren keine Schwingen mehr, sondern Zeichnungen auf meinem Rücken.
Im Bunker stank es nach verschüttetem Bier, und der Geruch von verkohltem Holz lag in der Luft. Offenbar trieben sich hier gelegentlich Jugendliche oder Obdachlose herum. Unter Asamis nackten Sohlen knirschte es, als er hinter mich trat. Seine Hände legten sich um meine Oberarme, und plötzlich war ich froh um den Stoff, der mich einhüllte und seine Berührung abmilderte. So musste ich nicht seinen Atem auf der empfindsamen Stelle zwischen meinen Schulterblättern spüren, als er seine Stirn dort ablegte.
»Meine Pforte …«, flüsterte er. »Sie ist überall um uns herum. Sie ist die Abwesenheit des Lichts. Ich habe sie erst gefunden, als ich dich verloren hatte.«
Ich biss die Zähne zusammen und ließ zu, dass Asamis Aura sich um mich ausbreitete. Wie eine Patina legte sie sich auf mich, sanft und doch vereinnahmend, schnitt mich ab von der Welt und von allem, was in ihr war. Eigentlich hätte ich Angst empfinden müssen, stattdessen überkam mich Ruhe.
Als Asami seine Pforte durchschritt, war das ein Eintauchen in samtiges Schwarz, ein tiefer Fall ganz ohne Aufschlag.
Auf der anderen Seite, in der Sphäre, nahm dieses Schwarz plötzlich Struktur an, wurde vielschichtiger und sprach zu meinen Sinnen. Da wusste ich, dass ich zu Hause war. In der Sphäre, in der die Farben mehr als Farben waren und sogar ihre Abwesenheit für all das stand, was die Menschenwelt niemals würde bieten können. Ich war heimgekehrt, und obwohl ich es mir verbieten wollte, war ich glücklich.
∞∞
Meine Fingerspitzen tanzten über die sich nach außen wölbenden Wände des Raums, der sich auf der anderen Seite von Asamis Pforte aufgetan hatte. Obwohl »Raum« nicht der richtige Ausdruck war. Ich tippte auf eine Art Blase, deren Wände aus zusammengeschmolzenem Dünensand bestanden. Wie der verschüttete Bunker lag sie unter der Oberfläche. Mühsam verscheuchte ich den Gedanken an ein Grab.
»Bei dir kann niemals etwas einfach sein, Asami. Und ich dachte schon, Kastors Flammenpforte sei ausgefallen, aber für ihn muss nur auf beiden Seiten ein Feuer entzündet werden, während du eigene Räume erschaffst. Wie kommen wir hier raus?«
Asami stand immer noch hinter mir, fast als hätte er das Verrinnen der Zeit vergessen. Ein Beben durchlief seine Glieder und übertrug sich auf mich. Dann löste er die Berührung, nur seine Aura blieb auf mir liegen. Nach einem Räuspern sagte er: »Wir werden diesen Ort unter den Dünen verlassen, indem wir die Decke zerschlagen und uns durch die Sandschicht graben. Es bedurfte einiger Mühe, an dieser Stelle eine lichtlose Kammer zu erschaffen. Ich kann auch unten bei den Klippenhöhlen eine Pforte durchschreiten. Die ist einfacher zu erreichen, aber ich dachte mir, es wäre besser, wenn du dem Meer nicht zu nah kommst.«
»Dann hast du diesen Wechsel also von langer Hand geplant«, stellte ich fest.
»Natürlich. Es stand von Anfang an fest, dass du mein Angebot annehmen würdest. Alles andere wäre undenkbar gewesen. Ich habe sehr wohl begriffen, wie viel dir an deinen Menschen liegt. Du würdest alles für sie tun, auch wenn du damit gegen deine Überzeugungen handelst und dir selber Schaden zufügst.«
»›Meine‹ Menschen würden das Gleiche für mich tun, sogar mehr als das«, hielt ich dagegen. Es brannte mir auf der Zunge, ihm zu erzählen, dass Mila bereits einen Schritt weitergegangen und sich für mich zu opfern bereit gewesen war. Das Wissen, wie knapp sie dem Tod entgangen war, setzte mir unablässig zu. Eins stand jedenfalls fest: Wäre sie vor dem Eiland ertrunken, wäre auch ich nicht wieder aufgetaucht.
»Daran hege ich keinen Zweifel.« Schwermut lag in Asamis Stimme.
Geschützt durch seine Aura, ließ ich mein Licht aufglimmen und beobachtete, wie Asami sich einen Beutel umhängte, der in dieser Blase gelegen haben musste. Dann zog er die Bernsteinklinge aus der Scheide.
»Hast du dir ein neues Katana geschmiedet?«
»Das ist nicht mein Katana, sondern deins. Ich habe es für dich geschaffen, die Nakago trägt deinen Namen. Die Klinge muss noch geschliffen werden, dann erst wird sie eine Seele in sich tragen und zu einem Wahren Schwert werden. Wenn du es wünschst, werde ich dir nach unserem eigentlichen Vorhaben zeigen, wie man es bewerkstelligt.«
Asami bot mir das gebogene Langschwert an, dessen Griff mit dunkelblauer Seide umwickelt war. Die Tsuba zeigte stilisierte Wellen, über denen ein einzelner Stern stand – mein Symbol und zugleich die Art, wie Asami mich sah. Das Schwert war vollkommen und ganz meins. Ich hörte seinen Ruf, ähnlich dem Ring an meiner Hand. Nur mit Mühe widerstand ich dem Verlangen, es zu ergreifen und damit in meinen Besitz zu nehmen.
»Dieses Geschenk kann ich unmöglich annehmen.«
Als hätte ich ihm nicht gerade eine Absage erteilt, hielt Asami das Katana noch näher zu mir hin, bis der Griff beinahe meine Brust berührte.
»Es ist kein Geschenk. Dieses Katana hat auf dich gewartet. Wenn du es zurückweist, verletzt du damit nicht mich, sondern dich selbst. Es gehört zu dir und du brauchst es, nicht nur, um deine Kraft erneut aufbranden zu lassen und deine Aura zu stärken, sondern auch, um sie zu kontrollieren.«
Womit Asami meinen Entschluss nur bestärkte. »Ich kann dieses Schwert nicht annehmen. Auf keinen Fall.«
Asami knurrte entnervt. »Stur wie eh und je.« Dann trieb er die Klinge in die Decke über unseren Köpfen und schaffte damit einen Weg ins Freie. Sand rieselte auf uns hinab.
Das Freigraben war eine kräftezehrende Aufgabe. Der Rückweg geht auf jeden Fall über die Klippenhöhlen, beschloss ich, nachdem meine Nase und selbst der Rachen voller Sand waren. Als wir endlich zwischen den Dünen herauskamen, warf Asami mir noch einen verächtlichen Blick zu, während er mein – nein, nicht mein, sondern das Katana – zurück in seine Scheide führte. Er öffnete den Beutel und reichte mir einen Trinkschlauch. Dann schlang er seinen langen Zopf zweimal um den Hals, breitete seine schwarzen Schwingen aus und ließ sie einige Male ausschlagen. Der Luftzug auf meinen Wangen fühlte sich wunderbar an.
»Fassen wir zusammen: Du weigerst dich zu wechseln und weist jeden Kontakt zu uns Schattenschwingen zurück. Deshalb vermute ich, dass deine Schwingen geschlossen bleiben werden.«
Ich nickte, weil ich meiner Stimme nicht über den Weg traute. Trotz meiner rauen Kehle war mir nämlich nach Schreien zumute. Ich wollte fliegen, ich wollte es von ganzem Herzen, wollte in den Nachthimmel steigen und der Lust am Fliegen freien Lauf lassen. Aber ich durfte es nicht.
»Ganz wie du meinst. Wenn du in diesem Fall die Freundlichkeit hättest?« Asami streckte die Arme nach mir aus.
Da erst begriff ich, dass er mich auf seinen Flug mitnehmen wollte. Auf die gleiche Weise, wie ich es mit Mila tat.
»Vergiss es! Ich werde laufen.«
»Laufen? Du hast doch nicht die geringste Ahnung, wohin es geht. Zu Fuß wärst du tagelang unterwegs zu dem Ort, an dem noch ein Rest Erinnerung an die Zeiten vor dem Schatten haften geblieben ist.«
Mit zunehmender Panik blickte ich auf Asamis geöffnete Arme, dann auf den Nachthimmel mit seinem unvergleichlichen Sternenbild. Fluchend griff ich in meinen Nacken, öffnete den Neoprenanzug und hatte ihn noch nicht einmal richtig über meine Schultern gezogen, als meine Schwingen hervorbrachen.
Asami lächelte, dann stieß er sich vom Boden ab. »Na, bitte. Geht doch.«
Es brauchte nur wenige Flügelschläge und ich hatte ihn überholt. Schraubte mich immer weiter in den Himmel, bis der feste Grund vergessen war, auf dem ich tagelang herumgekrebst war. Um mich herum existierten nur noch Weite und Leichtigkeit. Ja, so musste es sein. Sogar das Ziehen in meiner Rückenmuskulatur war willkommen. Einen Flug lang war ich frei, war nicht mehr als ein rasch vorbeiziehender Lichtschweif am Firmament.