1.jpg

33 Ein fallender Stern

Die Schwerkraft riss an mir und Shirin, die sich mit der Verzweiflung einer Ertrinkenden an mir festklammerte. Ich sah Ranukens verzerrtes Gesicht, während er Rufus zu bändigen versuchte, der offenbar zu seiner Schwester wollte. »Sucht nach Mila, aber geht kein Risiko ein«, rief ich ihm zu, dann war er bereits aus meiner Sichtweite.

Schatten tauchten im Nebel der Wolkenfelder auf, begleitet vom Rauschen mächtiger Schwingenpaare und Schlachtrufen. Asami und seine Gefolgschaft.

Ich konnte nicht länger auf deinen Ruf warten, wenn mir der Ring nichts über dich verraten will. Asamis Stimme offenbarte, wie aufgewühlt er war. Warum hast du mich aus deinen Gedanken und Gefühlen ausgeschlossen? Es ist nichts zu mir durchgedrungen! Trägst du den Ring nicht mehr?

Der Ring … erst jetzt wurde mir bewusst, dass er in der Spiegelfestung nicht mehr als ein Schmuckstück gewesen war. Nur war diese Erkenntnis im Augenblick genauso nebensächlich wie Asami und seine Sorge um unsere Bindung. Die Spiegelwand durchschneidet jeglichen Kontakt, erklärte ich. Hör zu, Solveig und ihre Schar sind völlig von Sinnen, sie werden euch ohne Zögern angreifen.

Sollen sie nur! Aber wo bist du, Samuel? Komm an meine Seite.

Es gelang mir kaum, einen klaren Gedanken zu fassen, so schnell ging alles. Miyamoto, ich komme, sobald ich kann. Versprochen. Es war unfair, seinen Namen zu benutzen, aber ansonsten würde er mir folgen, anstatt seine Leute anzuführen.

Wie du wünschst.

Während ich durch das Wolkenband stürzte, hielt Asami mit seinen Anhängern auf Nikolais Festung zu, wo sie auf eine Schar überaus williger Gegner treffen würden. Was die Alten an Erfahrung voraus hatten, würden die Jungen allemal durch ihre Leidenschaft wettmachen. Es würde ein harter Kampf werden, wobei es gleichgültig war, welche Partei siegte, denn Nikolai würde so oder so der Sieger sein, wenn ich ihn nicht rechtzeitig aufhielt.

»Shirin, lass endlich von mir ab. Ich muss zurück, bevor hinter der gläsernen Wand der Krieg ausbricht. Mila ist dort!«

»Nikolai wird nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt. Du hast es gehört: Sie ist seine Gefährtin, er hat sich ganz für sie entschieden und sie sich für ihn. Dadurch ändert sich alles.«

Es war das erste Mal, dass Shirin ihren früheren Liebhaber bei seinem neuen Namen nannte. Anscheinend hatte sie akzeptiert, dass diese Schattenschwinge zwar einiges aus ihrer gemeinsamen Vergangenheit über seinen Tod hinweg gerettet, aber auch Neues angenommen hatte. Viel entscheidender war jedoch Nikolais Bereitschaft, die Bindung zu einem Menschen einzugehen, die ihn von dem Schatten, den Shirin gekannt hatte, unterschied. Nikolai und Mila waren miteinander verbunden, auch wenn es auf eine Art geschehen war, die ich nicht begriff. Ich war ein Unbekannter für Mila gewesen, genau wie Shirin, für die sie sich nicht einen Deut interessiert hatte. Nicht für eine Sekunde war in ihren Augen Wiedererkennen zu lesen gewesen. Und auch ich musste mir eingestehen, dass mir Milas Gestalt zwar vertraut erschienen war, ihr Verhalten hingegen vollkommen fremd.

Das Rauschen der Wellen ertönte nun trotz des Zugwinds. Nur noch einen Moment, dann würden wir den Meeresspiegel erreichen. Ich würde meine Pforte nicht benutzen, sondern in die Dunkelheit des Wassers eintauchen, mich sinken lassen, um in der Tiefe den Schmerz zu begraben, den Milas Entfremdung mir bereitete. Was nützte meine Liebe zu ihr, wenn sie einen Fremden in mir sah und in unserem größten Feind ihren Gefährten? Wozu lieben, wenn das Mädchen, an das ich mich gebunden hatte, verloren war? Ich würde den Ring auf dem Meeresgrund begraben, auch wenn er sich nicht freiwillig von meiner Hand löste. Ich würde einfach dort bleiben, ich …

Shirin löste ihre Hände von meinem Rücken und ich öffnete im letzten Augenblick meine Schwingen, um uns oberhalb der Wellen abzufangen.

Der Wunsch, mich aufzugeben, war genauso plötzlich vergessen, wie er aufgetaucht war, als hätte die Meeresbrise ihn fortgeweht. »Ich muss zu Mila, egal, ob sie weiß, wer ich bin und was ich für sie empfinde. Shirin, ich muss sie zurückbringen, zu ihren Eltern, in die Welt, in die sie gehört. Das Gleiche gilt für Rufus. Also lass endlich von mir ab!«

Shirin presste ihr Gesicht an meine Brust, bis es wehtat. »Das werde ich, aber gewähre mir bitte einen Augenblick. Ich will dir etwas geben, das dir hilft, Nikolai zu überwinden. Er muss getötet werden, unbedingt. Sein Tod, das ist es, worauf es ankommt, für Mila, für dich und für alle anderen Schattenschwingen.« Mit diesen Worten öffnete sie ihre eigenen Schwingen, die nicht mehr als ein Gebilde aus grauschwarzem Spinngewebe waren, und gab mich frei. »Ich bin mir nicht sicher, ob es mir gelingt oder ob ich vorher zerbreche, aber darauf kommt es nicht an«, sprach sie leise, wie zu sich selbst.

Shirins eben noch vor Anspannung zerfurchte Stirn glättete sich und der harte Zug um ihre Lippen wich. Etwas hatte sich in ihr gelöst und schenkte ihr Frieden. Seltsamerweise versetzte mich genau das in Unruhe. Ich musste an meinen Wunsch denken, mich auf den Meeresgrund ziehen zu lassen, damit der Kampf, in den Nikolai mich gezwungen und der mich schon so viel gekostet hatte, endlich vorbei war. Es war die Sehnsucht nach Erlösung, nach einem Ende, sogar um den Preis, verloren zu haben.

Nun war ich derjenige, der Shirin an sich reißen wollte, aus der plötzlichen Ahnung heraus, sie schon bald zu verlieren. Doch Shirin entzog sich mir trotz ihrer Kraftlosigkeit erstaunlich geschmeidig.

»Hör mir zu«, forderte sie mit der ihr eigenen Autorität, mit der sie seit Jahrhunderten ihre Schützlinge im Zaum gehalten hatte. »Vielleicht verstehst du es nicht, aber du musst mir glauben, dass ich dir dankbar dafür bin, dass du die Sphäre aus ihrem Schlaf geweckt hast, obwohl dadurch alte Wunden aufgerissen und neue geschlagen wurden. Es gab keinen Frieden, sondern nur einen Waffenstillstand. Das hier ist die einzige Chance auf Freiheit, die wir haben. Du wirst Nikolai töten, egal was passiert, versprichst du mir das?«

Ich nickte stumm, denn diesen Entschluss hatte ich ohnehin gefasst.

»Sag, dass du es versprichst, unabhängig von dem, was noch kommen mag. Sein Tod muss an erster Stelle stehen.«

Ungeduld stieg in mir auf. »Ich verspreche dir, dass ich Nikolai töten werde. Ich wäre längst dabei, wenn du mich nur lassen würdest.«

Shirin lächelte mit einer Wärme, die ich nie zuvor an ihr erlebt hatte. »Ja, das wirst du, denn du wirst stärker sein als er. Ich werde dich stärker machen. Es ist mein letztes Geschenk an dich.« Dann fasste sie an ihren linken Rippenbogen, und bevor ich recht begriff, was sie tat, öffnete sie die Wunde, in der Nikolais umhüllte Klinge steckte.

Schlagartig begriff ich: Sie wollte die Klinge ziehen.

»Nein!«, schrie ich und streckte mich ihr entgegen, doch Shirin schloss ihre Schwingen und stürzte ins Wasser, bevor ich sie zu packen bekam. So rasch ich konnte, folgte ich ihr, durchschnitt ein eiskaltes Wellental, tauchte ein in die Schwärze und sah … nichts. Shirins Aura war kurz davor, zu erlöschen, ich konnte sie in dem dunklen Treiben nicht ausmachen.

Tu es nicht! Ich will diese Klinge nicht, verdammt!

Meine Nachricht verklang unbeantwortet.

Ich ließ meine Aura aufblenden, doch das Wasser war zu aufgewühlt, es gelang mir nicht, zu ihr durchzudringen. Erst ein silbriges Leuchten zeigte mir schließlich, wo sie war. Mit einigen Schwimmzügen gelangte ich zu ihr, erkannte im Schein meiner Aura, die auf das Silberlicht traf, den Ausdruck von Wärme auf ihrem Gesicht, dem weder das eisige Wasser noch die Schmerzen, die sie empfinden musste, etwas anzuhaben vermochte.

Was hast du getan? Ich berührte ihre Schulter und glaubte, Sand anstelle von verkühlter Haut unter meinen Fingerkuppen zu spüren.

Das einzig Richtige, erwiderte Shirin und überreichte mir einen silbrigen, spitz zulaufenden Stab. Endlich.

Ihre eben noch tiefdunkle Haut verlor an Farbe, wurde porös, als wäre sie mit Sand überzogen. Dort, wo ich eben noch ihre Schulter umfasst gehalten hatte, löste der Widerstand sich auf. Ihre Gestalt zerfiel, wurde von der Meeresströmung davongetragen, wurde verstreut … und doch stand sie noch vor mir, als hätte das Wasser freige-legt, was sie in ihrem Kern wirklich war: eine so hell leuchtende Gestalt, dass ich ihren Anblick kaum ertragen konnte.

Eine Lichtwandlerin.

Shirin hatte ihren Körper abgestreift und würde fortan als reines Lichtwesen die Sphäre durchstreifen.

Zum letzten Mal warf sie mir einen Blick zu und lächelte, dann wandte sie sich ab und durchteilte die Fluten mit der gleichen Leichtigkeit, als würde sie durch die Luft schreiten. Mich ließ sie allein zurück mit der Waffe, die sie letztendlich getötet und ihr zugleich zu einem neuen Leben verholfen hatte.

Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
cover.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-1.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-2.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-3.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-4.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-5.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-6.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-7.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-8.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-9.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-10.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-11.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-12.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-13.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-14.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-15.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-16.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-17.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-18.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-19.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-20.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-21.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-22.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-23.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-24.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-25.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-26.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-27.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-28.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-29.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-30.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-31.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-32.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-33.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-34.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-35.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-36.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-37.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-38.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-39.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-40.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-41.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-42.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-43.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-44.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-45.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-46.html
Heitmann_Schattenschwingen_Band_3_ePUB-47.html