17 Einschnitt
Mila
Zuerst dachte ich, der Schatten in der Feuerwand wäre ein Trugbild, denn die Hitze und der Rauch hatten mir Tränen in die Augen getrieben, während meine Instinkte angesichts der dicht neben mir züngelnden Flammen verrücktspielten. Aber es war kein Wunschbild, Sam war da, er war wirklich gekommen, obwohl der Ring an meiner Hand mir das Gefühl gegeben hatte, wie wären voneinander abgeschnitten. Für immer.
Trotzdem wagte ich es kaum, mich zu rühren. Hauptsächlich aus Furcht, Nikolais federleicht auf meiner Schulter liegende Hand könnte plötzlich fest zugreifen, aber auch aus Hoffnungslosigkeit, denn diesen Kampf konnten weder Sam noch ich gewinnen. Nikolai war bereits der Sieger, er hatte Lena als Pfand, die er, kaum dass sie durch die Feuerwand getreten war, durch seine Pforte geschleudert hatte. Ausgerechnet Lena, die vermutlich schon der Gedanke an die Sphäre den Verstand kostete. »Wenn ich diesen Kampf zu verlieren drohe«, hatte Nikolai mich angezischt, als ich vollkommen sinnlos versuchte, in die tanzende Aschewolke einzutauchen, um ihr zu helfen, »werde ich dank meiner Pforte vor allen anderen bei deiner Freundin sein und sie zahlen lassen. Denk daran, wenn Sam gleich kommt: Es geht nicht nur um dich bei diesem Kampf, sondern auch um sie. Ich werde gewinnen. Akzeptier das besser gleich.«
So wie Sam jetzt auf Nikolais und meinen Anblick reagierte, hatte er genau das vor: zu akzeptieren, dass er verloren hatte. Warum sonst blieb er auf den Knien, anstatt anzugreifen?
Nikolai schien diese Geste zu gefallen. »Ich bin froh, dass du deine Unterlegenheit akzeptierst, Samuel. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob du begreifst, was gerade passiert? Erkennst du wenigstens einen Stück des Weges, den ich seit meiner Wiedergeburt beschritten habe? Ja, so muss es sein. Ansonsten würdest du dich wohl kaum freiwillig unterwerfen.«
Sam war die Abscheu vom Gesicht abzulesen. »Ehrlich gesagt, habe ich nicht die geringste Ahnung, was dir durch den Kopf geht. Aber solange du Mila in deiner Gewalt hast, ist das auch unwichtig. Sag mir einfach, was du für ihre Freilassung forderst, Ask, Schatten, Nikolai oder wie auch immer du dich nennen magst.«
»Nikolai gefällt mir ausgesprochen gut, schließlich war das der Name, der mir bei meiner Wiedergeburt zugefallen ist.« Obwohl alles zu seiner Zufriedenheit verlief, wurde Nikolais Hand in meinem Nacken schwerer. »Es spielt zwar keine Rolle, aber es enttäuscht mich, dass du mein Tun nicht begreifst. Ein Mann wird schließlich an seinen Herausforderern gemessen und ich habe mir deutlich mehr von dir erhofft.«
»Wenn du Mila freigibst, können wir gern unsere Kräfte miteinander messen. Obwohl das sicherlich kein fairer Kampf wird, nachdem du mir einen Großteil meiner Kraft geraubt hast.«
»Ich würde es nicht ›geraubt‹ nennen, ich habe nur meine unter Anstrengungen und Qualen gemachten Erfahrungen gegen dich ausgespielt. Diesen Vorteil kannst du mir nicht vorwerfen, schließlich hast du nicht einmal einen bleibenden Schaden davongetragen. Kaum eine andere Schattenschwinge hätte sich von einem solchen Kraftakt erholt. Du bist wirklich erstaunlich. Genau aus diesem Grund will ich dich, Samuel.«
»Du kannst dir nehmen, was du willst. Aber als Gegenleistung verlange ich, dass du Mila frei lässt.«
»Wer auf den Knien liegt, hat nichts zu verlangen«, herrschte Nikolai ihn an, ganz der aufgebrachte Tyrann. Mir entging jedoch auch sein amüsierter Unterton nicht: Er genoss Sams Demütigung in vollen Zügen. Sein Zorn war nur taktisches Kalkül, für ihn verlief alles genau nach Plan. »Euer beider Schicksal ruht in meiner Hand. Du hast nichts, womit du mich unter Druck setzen könntest. Und ich will euch beide. Ihr gehört beide mir, schon seit dem Tag eurer Geburt. Spätestens die Ringe an euren Fingern, die ich geschaffen habe, beweisen es.«
Endlich gelang es mir zu sprechen, obwohl der Rauch in meiner Kehle wütete. »Die Ringe beweisen nur, dass Sam und ich uns lieben!« Ich war mittlerweile so aufgebracht, dass nicht einmal mehr der Druck in meinem Nacken mich niederhielt. »Du bist vollkommen verblendet von deiner Machtgier, du siehst nicht, was du anrichtest. Sam wird sich auf keinen Fall unterordnen.«
Nikolai zog mich ein Stück hoch und flüsterte mir ins Ohr, was wegen des prasselnden Lärms des Feuers eigentlich überflüssig war. »Entweder du hältst jetzt den Mund oder ich werde dafür sorgen, dass du erst wieder zu dir kommst, wenn diese Auseinandersetzung vorbei ist. Also, entscheide dich.«
Bei der Vorstellung, bewusstlos und somit jeder Chance beraubt zu sein, das Blatt noch zu wenden, lenkte ich ein.
»Schweigen?« Nikolai lachte. »Braves Mädchen. Wir beide sind ja von Anfang an gut miteinander zurechtgekommen.«
Ja, klar, dachte ich bitter. Du hast mich von Anfang an für deine Zwecke missbraucht, schon als du mich bei der Versammlung bei der Ruine als Mittel benutzt hast, um mit einem großen Knall deine Rückkehr anzukündigen und sämtliche Schattenschwingen mit einem Streich niederzustrecken. Das ist es, was du unter »miteinander zurechtkommen« verstehst: die absolute Unterordnung unter deinen Willen. Doch ich hielt wohlweislich meinen Mund.
Als Nikolai seine Aufmerksamkeit wieder auf Sam richtete, stand der plötzlich mit gezücktem Katana da, machte jedoch keinerlei Anstalten, anzugreifen. Nikolai reagierte auf das Katana wie ein Vampir auf Weihwasser. Er riss mich an seinen Oberkörper und setzte einige Schritte zurück.
»Seit wann besitzt du eine solche Waffe, verflucht?« Es war das erste Mal, dass Nikolai die Fassung verlor. Gleich darauf hatte er sich wieder unter Kontrolle. »Ein bewaffneter Bittsteller ist nicht besonders überzeugend.«
»Du hast gefragt, was ich dir für Milas Freilassung zu bieten habe. Nun, es ist das Gleiche, was sie für mich zu geben bereit war, als sie vor dem Eiland ins Wasser gegangen ist: das eigene Leben gegen das des anderen.«
Zu meinem Entsetzen legte Sam die Schneide des Katanas an seinen Hals, dorthin, wo die Schlagader heftig pulsierte. Voller Panik dachte ich daran, wie scharf die Klinge war. »Nein, das darfst du nicht!«, schrie ich, obwohl Nikolais Hände mich fast erdrückten.
Sam schaute mich an, dann schüttelte er den Kopf. »Ich werde dich ihm nicht überlassen. Also, Nikolai, was sagst du zu meinem Angebot? Wer ist für deine Pläne wichtiger: Mila oder ich? Du musst dich entscheiden, denn du kannst nur einen von uns bekommen.«
Ich spürte, wie Nikolais Herz zu rasen begann. »Ich will euch beide, ich brauche euch beide, denn ohne dich zwischen uns ist Milas Gabe für mich nutzlos.«
Ohne den Blick von uns zu nehmen, setzte Sam die Klinge an. Blut drang aus der Wunde, lief über seinen Hals. Mit jedem Herzschlag mehr. Meine Beine versagten, aber Nikolai hielt mich fest. Mein Bewusstsein schwand und ich ließ es zu, denn in diesem Zustand würde ich vielleicht Zugang zu Sams Ring finden, selbst wenn der nur meine Gefühle vermittelte. »Wenn du das tust, werde ich dir folgen. Ich bleibe nicht ohne dich«, wisperte ich. »Du weißt, dass ich meine Versprechen halte.«
Sam entglitten die Gesichtszüge, dann warf er das Katana vor unsere Füße. Meine Botschaft hatte ihn also erreicht.
»Heb das Schwert auf«, forderte Nikolai mich auf, wobei plötzlich etwas viel Spitzeres als seine Finger an meinen Hals drückte. Kalt und unnachgiebig, irgendeine Waffe, vermutete ich.
Mühsam unterdrückte ich ein Stöhnen, als der fremde Gegenstand sich in meine Kehle bohrte. Es kam einem Wunder gleich, dass meine Luftröhre keinen Schaden davontrug. »Warum hebst du sie nicht selber auf?«
»Weil ich diese Waffe nicht anfassen kann.« Das Geständnis bereitete Nikolai sichtlich Unbehagen. »Sie ruft nach meinem Blut. Hörst du das denn nicht?«
»Das überrascht mich nicht im Geringsten. Das Katana kennt eben seine Bestimmung«, höhnte Sam. »Es weiß, dass es früher oder später Bekanntschaft mit deinem Blut machen wird. Wenn ich mich nicht irre, ist das der Grund, warum das Schwert überhaupt erst erschaffen wurde. Nimm diese Klinge von Mila weg. Ich ertrage es nicht, dass sie von ihr berührt wird.«
»Weißt du, woraus diese Klinge besteht? Aus Obsidian. Sie ist ein Relikt aus der Sphäre, es ist genau die Waffe, mit der Shirin einst meinen alten Körper zerstört hat. Nun kommt sie erneut zu Ehren. War nicht leicht, sie zu finden, aber die Mühe hat sich gelohnt.«
Ein Beben durchfuhr mich, als die Erinnerung daran hochstieg, wie die Klinge benutzt worden war, um Juna ihrer Kraft zu berauben, und wie Shirin sie in den Leib ihres verhassten Liebsten hineingetrieben hatte. Dass sie nun an meinem Hals lag, verängstigte mich über alle Maßen. Es war nicht allein ihr symbolischer Gehalt, von dem nachtschwarzen Stein ging etwas spürbar Böses aus, als habe er jede Untat, für die er gebraucht worden war, als dunklen Schatz in sich aufbewahrt. Und als sehnte er sich nach einem weiteren …
Sam bemerkte die unheilvolle Ausstrahlung der Obsidianklinge offenbar auch, denn er spannte sämtliche Muskeln an. Zu meinem Unglück war sein Wunsch, mich vor der Spitze zu bewahren, stärker als seine Vernunft, denn nun trat er langsam auf uns zu. Sein Oberkörper war bedeckt von Rußspuren und Schweiß, während weiterhin Blut aus der Wunde an seinem Hals floss, was ihn jedoch nicht zu kümmern schien. Genau wie er die Scherben ignorierte, die aus der dicken Ascheschicht am Boden hervorstachen und sich in seine bloßen Fußsohlen bohrten. Als uns höchstens noch zwei Schritte voneinander trennten, packte Nikolai meine Hand, die das Katana hielt, und riss sie hoch.
»Willst du mich etwa mit meiner eigenen Waffe töten?« Sam klang so gleichgültig, dass ich beinahe den Verstand verlor. Er durfte sich nicht aufgeben, auch wenn die Situation aussichtslos schien.
»Nicht töten, nur auf Abstand halten. Allerdings ist dieses Schwert dafür wohl kaum geeignet. Wirf es durch die Flammenwand, Mila.«
Dieser Aufforderung leistete ich nur allzu gern Folge.
Sam zuckte nicht einmal, als sein Wahres Schwert durch die meterhoch auflodernden Flammen verschwand, ohne dass wir ein Scheppern auf der anderen Seite hörten.
Nikolai hingegen entspannte sich hinter meinem Rücken merklich. Jetzt verlief wieder alles nach Plan. »Es gibt ein Symbol, das denjenigen, der es trägt, zum Sklaven macht. Sehr viel wirkungsvoller als die Bernsteinreifen, mit denen ich einst Shirin zu meinem Eigentum gemacht habe, denn es ermöglicht, den Willen des Sklaven direkt zu kontrollieren. In deinem Fall habe ich den dringenden Verdacht, dass dieser radikale Schritt notwendig ist, obwohl es mir widerstrebt, dir einen solchen Schaden zuzufügen. Aber was soll’s? Die Kraft deiner Aura wird es nicht beeinflussen, und das ist es letztendlich, worauf es ankommt.«
»Das ist doch überflüssig.« Mühsam unterdrückte ich ein Husten, der Rauch setzte mir immer schlimmer zu. »Sam wird tun, was du von ihm verlangst, das hat er doch gesagt.«
»Ja, das wird er, solange ich dich in meiner unmittelbaren Gewalt habe. Aber du bist eine widerspenstige Person, die kein Risiko scheut, wenn es um ihren Liebsten geht. Das hast du mir ja bereits eindrucksvoll bewiesen. Dich zu zähmen, wird eine Zeit lang dauern, und ich habe noch anderes zu tun, als euch beide im Auge zu behalten.«
Der Druck der Obsidianklinge verschwand von meiner Kehle und im nächsten Moment fing Sam sie auch schon auf.
»Normalerweise würde ich Mila bitten, dir das Symbol einzuschneiden, darin liegt schließlich ihr großes Talent. In diesem Fall wäre ich dir allerdings dankbar, wenn du das selbst vornehmen könntest.«
Sam blinzelte, dann fasste er sich an die Schläfe, als jage ein schneidender Schmerz hindurch. Ich hatte eine Ahnung, warum: Nikolai hatte ihm das Symbol gezeigt, mit dem er seine eigene Versklavung einläuten sollte. Verzweifelt versuchte ich in Sams Gedanken vorzudringen, zu sehen, was er gesehen hatte, in der Hoffnung, ihm eine Veränderung einzugeben, durch die die Macht des Symbols gebrochen würde. Doch bevor ich dazu kam, zerrte Nikolai an meinen Haaren und mein Kopf flog nach hinten.
»Du hältst dich gefälligst vornehm zurück, Mädchen. Keine Kommentare mehr und auch keine Versuche, unseren Samuel über den Ring zu erreichen. Du weißt, dass ich dir sehr wehtun kann, auch ohne dich körperlich zu verletzen.«
»Ach, ja?«, ächzte ich, mutiger, als ich in Wirklichkeit war.
Zum Beweis verdichtete sich vor meinem inneren Auge ein Bild von Sam, auf dessen Brust ein grausam anmutendes Zeichen prangte. In seinen Augen flackerte nach wie vor das Blaugrün des Meeres, aber jeder Funke von Leben war aus ihnen gewichen. Der Sam, den ich kannte und mit jeder Faser meines Wesens liebte, war verschwunden. Vor mir stand eine seelenlose Kreatur, die auf einen erteilten Befehl hin die Hand nach mir ausstreckte. Widerwillen baute sich in mir auf und verdrängte den Gedanken, dass diese Schattenschwinge immer noch Sam war, nur eben ein Sam, der wegen des Zeichens unter Nikolais Willen stand. Nein, begriff ich voll Entsetzen, während Nikolais Finger sich auf mich legten, das wäre nicht mehr Sam, er wäre ganz und gar Nikolais Geschöpf. Es wäre, als würde Nikolai mich berühren.
»Begreifst du, was ich meine?«, flüsterte Nikolai in mein Ohr.
Oh, ja, ich verstand. Er brauchte meinen Sam gar nicht erst zu einem willenlosen Etwas zu machen, von dem nur seine äußere Hülle blieb. Es genügte, dieses Bild als Drohung zu benutzen, um mich damit im Zaum zu halten. Er würde mich damit erpressen, dass Sam mir unter seinem Befehl die allerschrecklichsten Dinge antun könnte, so lange, bis ich ihn hasste. Das würde ich nicht überleben, da war ich mir sicher.
»Und du, Samuel, solltest die Klinge nicht wie ein Messer in deiner Faust halten, sonst kommt mir noch der Verdacht, du könntest mich zu guter Letzt doch noch angreifen. Benutz seine Spitze endlich für das Symbol.«
Durch den Tränenschleier in meinen Augen sah ich zu, wie Sam den Kopf senkte und die Obsidianklinge auf der linken Seite seiner Brust ansetzte. Sah den hauchzarten Schnitt, der schwärzlich anlief, während eine ungeahnte Schmerzwelle durch den Ring zu mir hinüberfloss. Das Symbol verletzte ihn, aber nicht nur seinen Körper, sondern sein tiefstes Innerstes.
Unvermittelt sank Sam auf die Knie, vornübergebeugt und zitternd.
Nikolai vergaß den Griff in meinem Haar, als er sich Sam begierig entgegenstreckte. »Weiter«, befahl er. »Hör nicht auf, nicht jetzt.«
Als könnte er nur mit größter Not seine Hand kontrollieren, setzte Sam die Obsidianklinge erneut an, wobei er damit Probleme hatte, weil sein Brustkorb sich so heftig hob und senkte. Ein weiterer schwarzer Strich entstand. Sam rammte die Klinge in den Boden und schrie auf. Es war ein verzweifelter Laut, der mich fast um den Verstand brachte, während er in Nikolais Ohren reinste Musik zu sein schien.
»Und jetzt: vollende es.«
Ich versuchte mich loszureißen, doch ich hatte keine Chance. Hilflos sah ich zu, wie Sam sich aufrichtete und die Klinge erneut ansetzte. Sein Gesicht sah ich nicht, er hielt den Kopf gesenkt. Sein Haar schimmerte wie dunkles Gold und ich dachte voller Trauer, dass das Strahlen, das ihn stets umgeben hatte, gleich nicht mehr ihm gehören würde.
Hinter mir atmete Nikolai vor Erleichterung auf. Aber nur kurz, denn schon im nächsten Moment zeichnete sich ein Umriss in der Feuerwand ab.
Dann trat Kastor hervor.