38 Heimkommen
Mila
Ich sah die Klinge nicht, die auf mich niederging, aber sie traf mich und durchtrennte meine Kehle mit einem glühenden Brennen. Trotzdem schnappte ich nach Luft und füllte meine Lungen mit Sauerstoff. Schabte mit meinen Fingernägeln über den nackten Stein, bis sie einrissen, und brachte sogar ein Wimmern über die Lippen. Ich starb durch einen Schwertstreich, aber mein Körper schien davon noch nichts mitzubekommen. Mein Herz dröhnte in meiner Brust, obwohl ich mir sicher war, dass seine letzten Schläge gerade verklangen. Spürte, wie der Pfeil in meinem Inneren von seinem Ziel abkam und im Dunklen verloren ging. Endgültig. Und mit seinem Ende zerbrach die Welt wie ein gläsernes Gefäß, das einen Sprung erfahren hat. Ich wartete auf den Moment, an dem ich endlich erlosch, wo doch mit einem Streich alles in mir gestorben war. Dunkelheit breitete sich um mich herum aus, übermächtig, doch sie fühlte sich keineswegs wie das Ende an, sondern lebendig und fordernd. Die Welt war schwarz, absolut undurchdringlich … und vertraut.
Lass dich von mir schützen, forderte eine Stimme, die keinen Widerspruch zuließ.
Also gab ich nach und flüchtete mich in das Schwarz, das sogleich begann, mir Geschichten zuzuflüstern über einen Jungen namens Miyamoto, dessen pechschwarze Augen seine Familie ängstigten, die ihn für einen Fremden hielten, während es doch die Welt war, die verrückt und aus den Fugen geraten war. Für die Menschen, die seine Vertrauten sein sollten, war er kaum mehr als ein Geist, ein Geschöpf, das sie nicht begriffen und das sich selbst ein Rätsel war. Die Schwärze zeigte mir, wie Miyamoto sein Leben in einer Schlucht beenden wollte, doch anstatt auf Grund zu schlagen, öffnete er seine Schwingen und fand sich in der Sphäre wieder, seiner wahren Heimat, von den Narben eines Kriegs entstellt und doch einzigartig und wunderbar. Er wurde neu geboren und schwor sich, auf sein altes Leben mit der gleichen Abscheu zu blicken, die er in den Augen seiner Familie zur Genüge kennengelernt hatte. Endlich fand er seinen Platz und nach langer, langer Zeit auch sein passendes Gegenstück. Das Schwarz zeigte ihn mir, die einzige Person, die für Miyamoto von Bedeutung war. Samuel.
Licht drang ins Dunkel und wärmte mich.
Ich war nicht tot … noch nicht.
∞∞
Ich erwachte an einem mir fremden Ort: ein rechteckiger Raum, vollgestopft mit Mobiliar und Krimskrams. Das Fenster zeigte Baumkronen mit verfärbtem Laub und einen Sturmhimmel. Alles wirkte schal und ohne die Leichtigkeit, mit der Schattenschwingen ihre Umgebung gestalteten. Es war, wie wenn man zu lange in die Sonne blickt, und danach erscheint einem alles unwirklich und farblos.
Zu meiner Verwunderung lag ich in einem Bett, mit einer dösenden Katze am Fußende. Als ich mich aufsetzte, hob sie den Kopf und betrachtete mich interessiert. Mehr nicht. Im Sessel neben dem Bett saß eine Frau mit roten Haarfransen in der Stirn, die mich erwartungsvoll ansah. Ihre Wangenknochen zeichneten sich scharf ab, als hätte sie unlängst stark an Gewicht verloren. Bestimmt war eine Krankheit oder ein schlimmes Erlebnis dafür verantwortlich, dachte ich. Was auch immer es gewesen sein mochte, es gehörte offensichtlich der Vergangenheit an, denn die Frau strahlte trotz der tiefen Erschöpfung, von der ihr Äußeres kündete.
»Na, du Schlafmütze, wie sieht es aus?«, fragte sie mich und ein Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel.
Anstelle einer Antwort rieb ich mir erst einmal ausgiebig die Augen. Vielleicht gelang es mir ja dadurch, ein wenig klarer zu sehen oder sogar den Filter loszuwerden, der meine Umgebung mit einem Grauschleier belegte. Es half jedoch nichts, ich fühlte mich fehl am Platz.
»Kommt dir irgendetwas um dich herum vertraut vor? Nein? Mach dir keine Sorgen, Sam sagt, dass es eine Weile dauern wird, bis deine Erinnerung zurückkehrt.«
»Ich habe meine Erinnerung nicht verloren. Wie soll man denn etwas verlieren, wenn man aufgehört hat zu existieren?«, behauptete ich trotzig.
»Schatz, wenn man nicht existiert, dann zerknüllt man auch nicht die Bettdecke zwischen seinen Fäusten und gibt im Schlaf seltsame, murrende Geräusche von sich.«
»Warum bin ich hier?«
Die Schultern der Frau sanken hinab, als hätte ich ihr mit meiner Frage Schmerz zugefügt. Wenn dem so war, änderte es jedoch nichts an der Milde, mit der sie mich betrachtete. »Das hier ist dein Zuhause«, erklärte sie mir ruhig.
»Mein Zuhause wurde zerstört, es ist zerbrochen, es ist ein einziger Scherbenhaufen, das weiß ich ganz genau.«
Obwohl ich mit festem Ton sprach, kam es mir seltsam vor, von der Festung aus Spiegelglas als von meinem Zuhause zu reden. Ein Zuhause sollte eigentlich etwas anderes sein, zumindest drängte sich mir diese Vorstellung auf. Nachdenklich strich ich das zerknitterte Bettzeug glatt, von dem ein Geruch nach Baumwolle und einem bestimmten Waschmittel aufstieg. Dieser Geruch, der konnte für Zuhause stehen. Oder der offen stehende Kleiderschrank, vor dem ein Korb mit gefalteten Sachen stand, die jemand wohl einzuräumen vorhatte. Sogar das Pochen des Heizkörpers erinnerte mehr an ein Zuhause als die Glaswände, hinter denen Wolken vorbeigezogen waren. Mein Blick wanderte weiter umher und blieb an einem roten Gewand hängen, das über einer Stuhllehne hing.
»Was macht dieses Kleid denn hier?«, fragte ich die Frau.
»Sam meinte, es gehört dir. Wenn es dich beunruhigt, kann ich es gern wegtun.«
Ich zögerte. »Mit Sam meinst du Samuel. Er hat den Kampf gegen Nikolai also überlebt?«
»Ja, das hat er, allerdings hat es wohl auf des Messers Schneide gestanden. Ich verstehe noch nicht allzu viel von diesen Schattenschwingen-Angelegenheiten, obwohl ich mich ernsthaft bemühe.« Sie zuckte entschuldigend mit den Achseln. »Jedenfalls hat Sam erzählt, dass er sich hat entscheiden müssen zwischen einem traumhaften Tod oder einem Flug mit dir ins Blaue. Er hat sich für den Flug entschieden.«
»Denkst du, er hat die richtige Entscheidung getroffen?«
Als die Frau nickte, begann ich auf meiner Unterlippe herumzuknabbern. Vermutlich sollte ich zumindest Bitterkeit gegenüber diesem Samuel empfinden, wenn schon kein Hass in mir aufkommen wollte. Stattdessen überfiel mich eine grenzenlose Erleichterung. Samuel war gegen Nikolai gezogen und hatte bestanden.
»Darf ich fragen, wer du bist?«, fragte ich, verlegen über meine Ahnungslosigkeit.
Um die Augen der Frau zuckte es und für einen Moment dachte ich, Tränen würden sich darin sammeln, aber dann lächelte sie wieder. »Ich bin Reza und ich werde für dich da sein, solange du mich brauchst. Mehr musst du vorerst nicht wissen, deine Erinnerung wird schon von allein zurückkehren. Zumindest hoffe ich das. Soll ich das Kleid in den Schrank legen? Du musst dich jetzt noch nicht mit ihm auseinandersetzen, lass dir Zeit, nichts drängt.«
Zuerst wollte ich erwidern, dass es unmöglich war, sich einfach treiben zu lassen, wenn im Inneren gähnende Leere herrschte, von der man nicht wusste, wie man sie jemals wieder füllen sollte. Aber dann gestand ich mir ein, dass es genau das war, was ich mir am sehnlichsten wünschte. Ich wollte sein wie die Katze am Fußende des Bettes und gelassen in den Tag gehen. In mir war nicht viel, aber was dort war, gehörte mir und es sollte in Ruhe gedeihen. Dazu war es nicht notwendig zu begreifen, wo ich war und was sich um mich herum abspielte, sondern dass ich da war, meine eigenen Gedanken und Gefühle wahrnahm, ohne von der viel stärkeren Präsenz eines anderen übertönt zu werden. Meine Vergangenheit, wie auch immer sie aussehen mochte, bevor Nikolai mich zu seinem Leben gemacht hatte, konnte warten.
»Das Kleid kann ruhig liegen bleiben, es ist alles gut, so wie es ist.«
Rezas Lächeln zitterte, und ich erahnte die Anstrengung, die sie ihre äußere Gelassenheit kostete. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich deine Hand halte?«
Ich schüttelte bereits den Kopf, als ich es mir anders überlegte und ihr meine Hand reichte. Sie umfasste sie sanft und streichelte über die Stelle, wo einst ein Ringfinger gewesen sein mochte, wobei ich keine Ahnung hatte, wie er mir verloren gegangen war. »Mein Mädchen«, flüsterte sie.
Ohne dass ich es mir erklären konnte, begann ich zu weinen. Es war kein überfordertes Schluchzen und auch kein verzweifeltes Dammbrechen, sondern ein erleichternder Akt, der von Trauer und Hoffnung zugleich geprägt war. Ich hatte vieles verloren, aber ich würde dadurch auch etwas gewinnen, da war ich mir sicher. Als Reza sich auf die Bettkante setzte und mich in die Arme nahm, wies ich sie nicht zurück. Ich kuschelte mich an ihre Brust, ließ zu, dass sie meinen Rücken entlang über mein langes Haar strich und mir beruhigende Worte ins Ohr flüsterte. Vielleicht standen Bettzeug und Wandfarbe nicht wirklich für ein Zuhause, aber diese behutsame Umarmung auf jeden Fall.
∞∞
Keine Ahnung, ob nur Stunden oder gar Tage verstrichen waren, seit ich in dem fremden Bett erwacht war. Mir war jegliches Zeitgefühl abhandengekommen. Ich blieb in dem Zimmer mit Blick auf den Garten. Körperlich fehlte mir zwar nichts, sodass ich mich ohne Weiteres mit der Welt außerhalb meiner vier Wände hätte vertraut machen können, doch die Begrenztheit gefiel mir. Ich brauchte keine Anreize von außen, mir reichte es aus, wenn Reza bei mir saß und von ihrem Garten erzählte oder ich einfach nur auf dem Rücken lag und an die Decke starrte.
Irgendwann erwischte ich einen Jungen im Badezimmer, der sich als Rufus vorstellte und mich prompt darauf hinwies, dass ich mir mit meinen ellenlangen Haaren locker den Hintern abwischen könnte. Dann knuffte er mich gegen den Oberarm und reagierte erstaunlicherweise mit einem zufriedenen Grunzen, als ich sofort zurückboxte. Auch ich verspürte nach der Rauferei eine gewisse Befriedigung, als hätte ich die Regeln eines alten Spiels nicht vergessen.
»Manche Dinge ändern sich nie, was?« Rufus massierte seinen Bizeps, obwohl ich nicht sonderlich stark geboxt hatte. »Du weißt vielleicht nicht mehr, wie du heißt, aber eine alte Kratzbürste bist du trotzdem wie gehabt.«
Vermutlich hatte noch nie zuvor jemand das Wort »Kratzbürste« mit so viel Zärtlichkeit ausgesprochen.
Während ich ihm sicherheitshalber noch einen weiteren Boxhieb verpasste, dachte ich über meinen Namen nach. Mila … so hatte Samuel mich genannt. War das wirklich mein Name? Ich kannte ihn nicht, hatte aber nicht die geringste Lust, mit diesem grinsenden Kerl darüber zu sprechen, der mir irgendwie ähnlich sah – von seiner Lockenpracht einmal abgesehen. Stattdessen flachsten wir eine Weile sinnbefreit herum, was unendlich viel besser war, als über verlorene Namen zu philosophieren.
Später trat anstelle von Reza ein älterer Mann mit tiefbraunen Augen in mein Zimmer, um mir eine Kleinigkeit zu essen zu bringen. Die Art, mit der er mich sorgsam musterte, brachte mich in Verlegenheit, und ich fragte mich, was er wohl in mir sah. Ein armseliges Wesen, das die Sphäre nach dem Verlust ihres Gefährten verdaut und wieder ausgespuckt hatte? Mein Gefährte … in Gegenwart dieses kräftigen und zugleich empfindsam wirkenden Mannes, der sich als »Daniel« vorstellte, mochte ich nicht an Nikolai denken. Überhaupt vermied ich die Erinnerung an ihn, nicht etwa weil sie mich verletzte, sondern weil sie mir vorkam, als würde sie nicht zu mir gehören. Das, was ich an Nikolais Seite empfunden hatte, war mit ihm gestorben.
Mit einem dumpfen Gefühl in der Magengegend setzte ich mich samt dem Teller an den Schreibtisch, von dem ich sämtliche Notizzettel, Schulhefte und Mappen mit Zeichnungen geräumt hatte, ohne sie mir genauer anzusehen. Was auch immer dort festgehalten worden war, ging mich nichts an. Noch nicht zumindest. Ich wartete, bis die Katze auf meinen Schoß gesprungen war, dann durchteilte ich das Omelette mit der Gabel, traute mich jedoch nicht, auch nur einen Happen zu probieren.
»Möchtest du lieber etwas anderes essen?«, fragte Daniel.
Erneut grübelte ich darüber nach, was er in mir sah. Nein, nicht nur, was er in mir sah, sondern wer ich für ihn war, was ich ihm bedeutete, weshalb er sich um mich kümmerte, ohne irgendetwas von mir zu erwarten. Auch wenn mich die Vorstellung eigenartig anmutete, akzeptierte ich, dass dieser Mann ein Teil meiner Vergangenheit war – eine Vergangenheit, die sich mir verwehrte, als hätte ich das Recht auf sie verloren. Bislang hatte ich mir eingeredet, dass es mich nicht kümmerte, was früher gewesen war, oder dass die Gegenwart nur eine große Illusion war, durch die ich dafür bestraft wurde, nicht mit Nikolai gestorben zu sein. Aber jetzt, da Daniel neben mir stand, offenbar unschlüssig, ob er bleiben oder besser gehen sollte, ließ ich den Gedanken zu, dass ich wahrhaftig meine Vergangenheit verloren hatte. Meine menschliche Vergangenheit. Mein ganzes Sein war von Nikolai abhängig gewesen, es hatte in dem Moment begonnen, als er mich als seine Gefährtin neben sich angenommen hatte. Alles, was davor lag, war … ja, was eigentlich? Unwiederbringlich verloren? Oder wartete es irgendwo darauf, von mir gefunden zu werden?
Ich zerpflückte das Omelette, als könnte ich eine Antwort in ihm finden, aber leider roch es lediglich lecker. Das fand auch die Katze, die hoffnungsvoll darauf wartete, dass etwas für sie abfiel. »Habe ich dieses Gericht früher gern gegessen?« Vor lauter Aufregung pochte es in meinen Schläfen.
Daniel strich sich über seinen grauen Bart. »Auf mein Omelette hast du dich immer wie eine Verhungerte gestürzt, aber Dinge ändern sich manchmal. Lass es einfach stehen, wenn es nicht nach deinem Geschmack ist.«
»Das möchte ich aber gar nicht.« Tapfer fing ich an, es mir in den Mund zu schaufeln, aber meine Kehle war wie zugeschnürt. Anstatt zu schlucken, begann ich zu schluchzen.
»Mila«, sagte Daniel sanft, während er sich neben mich kniete. »Ich kann nicht in dich hineinsehen, niemand von uns kann das. Du hast Dinge erlebt, die ich vermutlich nicht einmal begreifen würde, wenn du sie mir bis ins Detail erzähltest, aber darauf kommt es auch nicht an. Trotz allem, was geschehen ist, bist du nämlich immer noch Mila, daran hat sich nichts geändert, das spüren deine Mutter und ich. Mag sein, dass die Erinnerung wiederkommt, vielleicht bleibt sie auch vor dir verborgen. Du bist jetzt hier, und du hast eine Zukunft vor dir, das ist alles, was zählt. Die Welt verändert sich ohnehin, das, was in der Sphäre passiert ist, lässt sich nicht mehr verheimlichen. Und du wirst deinen Platz in dieser neuen Welt finden, darauf kannst du vertrauen. Du bist ein starkes Mädchen.«
Obwohl mir weiterhin elend zumute war, nickte ich. »Ich schaffe das, versprochen.«
»Fein.« Daniel lächelte breit, wobei sich tiefe Linien um seine Augen abzeichneten. »Jetzt futterst du aber erst einmal dieses mit Liebe Gekochte auf, bevor es ganz kalt wird oder Pingpong es zu ihrem Besitz erklärt. Du bist ja nur noch Haut und Knochen. Ihr Levander-Frauen verwandelt euch in Vöglein, wenn ihr leidet. Damit muss jetzt Schluss sein.«
Ich hatte zwar den Mund voll, lachte aber trotzdem. Es war alles eine einzige Katastrophe und zugleich war alles wunderbar.
∞∞
Ein neuer Tag brach an mit Regen und Wind, der gegen die Fensterscheibe pochte. Es klang wie Fingerknöchel auf Glas, nach jemandem, der anklopfte, um eingelassen zu werden. Das hatte ich doch schon einmal gehört …
Ich setzte mich auf und blickte in die graue Morgendämmerung.
Draußen war nichts und niemand, trotzdem verharrte ich so lange, bis meine untergeschlagenen Beine einzuschlafen drohten. Von einer unerklärlichen Sehnsucht heimgesucht, griff ich nach meinen zu einem Zopf geflochtenen Haaren und spielte mit dem Zipfel herum. Mein Zimmer wirkte im Zwielicht klein, beinahe erdrückend. Nur ein paar Schritte entfernt war die Tür, die auf den Flur hinausführte. In eine Welt, die ich noch nicht erforscht hatte. Was konnte dort schon sein, in diesem von Menschen geschaffenen Haus? Trotzdem zögerte ich. Niemand hatte es ausgesprochen, doch wir alle wussten, dass dieses Zimmer ein Schutzraum war. Hier gab es keine Forderungen, kein Drängen, nur liebevolle Fürsorge. In dem Moment, in dem ich es verließ, müsste ich anfangen, auf eigenen Füßen zu stehen. Konnte ich sicher sein, dass ich dafür schon stark genug war, nur weil sich diese unbestimmte Sehnsucht in mir auftat? Dort draußen, raunte mir eine innere Stimme zu, wartet jemand auf dich, der mehr als nur Antworten zu bieten hat. Willst du ihn denn nicht wiedersehen?
Ihn. Ich hatte ihn wiedergesehen in meinen Träumen, verschlungen vom aufgepeitschten Meer, so tief unter Wasser, dass ich niemals zu ihm durchdringen würde. Er war und blieb ein Fremder, auch wenn ich allmählich begriff, dass er das nicht war. Der Bernsteinring, den Asami mich hatte berühren lassen, hatte es mir gezeigt: Solche Empfindungen konnte kein Fremder in einem hervorrufen. Aber was nützte diese Erkenntnis, ich bekam ihn nicht zu fassen, diesen Samuel.
Das Herz schlug mir bis zum Hals, als ich nach dem roten Kleid griff, das nach wie vor über der Stuhllehne hing. »Sam meinte, es gehört dir«, hatte Reza gesagt. Das stimmte und dann auch wieder nicht. Ich hatte es abgestreift, weil ich es nicht länger ertragen hatte, von Nikolai besessen zu werden.
Vorsichtig berührte ich den Stoff und stellte fest, dass er sich verändert hatte: Die Schattenschwingenmagie war aus ihm herausgewaschen worden, es war jetzt lediglich ein rotes Kleid, nicht mehr und nicht weniger. »Genau wie ich«, sagte ich leise, obwohl es nicht die ganze Wahrheit war. Ich war nicht einfach ein Menschenmädchen, das noch einmal von vorn beginnen musste. Die Sphäre hatte mich verändert, hatte Seiten meiner Persönlichkeit aufgedeckt, die ich unter anderen Umständen nie kennengelernt hätte. Und auch meine Verbindung zu Nikolai hatte Spuren hinterlassen: Er war bereit gewesen, seine Unsterblichkeit mit mir zu teilen. Auch wenn der Widerhall seiner Präsenz seit seinem Tod verblasste, so würde er niemals vollends erlöschen.
Der Stoff zwischen meinen Händen war weich und fließend. Ich hoffte darauf, dass er eine Verbindung zu meiner Vergangenheit herstellen, mir die Dinge zuflüstern würde, die Nikolai mit seinem Griff nach mir verdrängt hatte. Aber ein solcher Zauber wohnte dem Kleid offenbar nicht inne. Mit zunehmender Verzweiflung hielt ich es vor mich, streifte es sogar über, zog es wieder aus und zerknüllte es schließlich. Nichts, nichts und wieder nichts! Dieser Sam hatte nicht die leiseste Ahnung, nicht einmal den Hauch davon.
Vor lauter Frust konnte ich nicht länger stillstehen und schnappte, vor mich hin schimpfend, einige Kleidungsstücke aus dem Schrank, um dann angezogen auf den Flur hinauszustürmen. Im Haus herrschte Ruhe, so früh war außer mir noch niemand auf den Beinen. Das war mir recht, ich wollte mich nicht erklären müssen, sondern nur die Beklemmung abschütteln, die von mir Besitz ergriffen hatte. Ich fasste erst wieder einen klaren Gedanken, als ich die Terrassentür aufriss und salziger Nordwind in mein Gesicht wehte.
Ich atmete tief durch. Salz und Meer, danach hatte es in der gläsernen Festung nie gerochen. Dort war die Luft kaum wahrnehmbar, lediglich von einer Spur Weihrauch durchzogen gewesen. Die Schwere des Meeresgeruchs erdete mich. Ich würde an die Küste gehen und beobachten, wie die Wellen kamen und gingen. Das war es, wonach ich mich sehnte.
»Du erholst dich schneller, als ich es für möglich gehalten hätte.«
Asami saß auf einem hölzernen Gartenstuhl, das Schwert ruhte auf seinen Oberschenkeln und Raureif lag auf seinem Haar und den nackten Schultern. Durch seine schwärzliche Aura, die er nicht vor mir verbarg, machte es den Eindruck, als säße er im Schatten.
»Warum bist du hier draußen?«
»Deine Familie hatte mir freundlicherweise angeboten, drinnen zu warten, bis es dir wieder besser geht. Aber ich habe im Haus deiner Familie nichts verloren, darum sitze ich vor der Tür.«
»Tatsächlich.« Ich war ernsthaft erstaunt. »Und wie lange wartest du schon? Mein Zeitgefühl ist total durcheinander.«
Der Blick, mit dem Asami mich bedachte, verriet, dass es für ihn bedeutungslos war, wie viel Zeit verstrichen war, seit er mich von der gläsernen Festung weggebracht hatte, und dass ich darüber hinaus die unwichtigste aller Fragen gestellt hatte.
Ich räusperte mich. »Vielleicht sollte ich mich erst einmal bei dir dafür bedanken, dass du mich im Sturm gehalten hast. Ohne dich wäre ich wohl kaum hier.«
»Du schuldest mir nichts.« Asamis schwarze Augen glänzten abweisend. »Ich habe dich nicht um deiner selbst willen gerettet. Es war ein Dienst an Samuel.«
»Ich weiß. Trotzdem«, beharrte ich. »Du hast ein großes Risiko auf dich genommen, ich schulde dir mein Leben.«
»Dein Leben … eine solche Schuld.« Dieses Ausmaß löste eine Bewegung in Asamis ansonsten so starrem Gesicht aus. »Was gedenkst du, mit diesem Leben anzufangen?«
Ich versuchte zu ergründen, wie diese Schattenschwinge, an der alles wie mit einer scharfen Feder gezeichnet wirkte, zu mir stand. Sie war nicht mein Freund, das war sie niemals gewesen. Das wusste ich, auch ohne meine Vergangenheit zu kennen.
»Sag du es mir: Was soll ich tun, wohin soll ich gehen, zu wem soll ich zurückkehren?«
Asami zögerte. »Deine Unwissenheit ist ein Geschenk, sie macht dich frei. Du könntest die Vergangenheit ruhen lassen. Wenn sie an deine geistige Tür klopft, um eingelassen zu werden, dann öffnest du nicht. Denn sie ist voller Schmerz und schrecklichen Erlebnissen. Als ich zum ersten Mal in die Sphäre eingetreten bin, hätte ich alles dafür gegeben, um so frei zu sein, wie du es jetzt bist.«
Als wäre es meine eigene Erinnerung, leuchteten die peinigenden Erfahrungen vor meinem inneren Auge auf, die Asami als Mensch gemacht hatte. Die Abneigung, die ihm entgegengebracht worden war, war zu einem Teil seines Wesens geworden. Dadurch hatte er nie die Chance gehabt, er selbst zu sein. Ich verspürte Mitleid, aber das behielt ich besser für mich. Wahrscheinlich würde er mich in Scheiben schneiden, wenn ich auch nur andeutete, dass ich ihn für einen armen Tropf hielt, dem ein paar Kuscheleinheiten gut bekommen würden.
»Und wenn sich dir jetzt die Möglichkeit bieten würde, deine Vergangenheit zu vergessen und ganz neu anzufangen, würdest du sie ergreifen?« Es war eine seltsame Frage, die ich Asami stellte, aber sie drängte aus mir heraus.
Asamis weiße Finger pressten sich in den Lack der Scheide, und der Bernsteinring an seiner Hand leuchtete auf. »Um keinen Preis würde ich das wollen«, würgte er hervor.
»Warum?«
»Seinetwegen.«
Die Antwort blieb zwischen uns stehen wie ein unbewegliches Monument.
Seinetwegen. Samuels wegen. Sam.
Während ich Asamis festen Blick erwiderte, nahm mein Verlangen nach dem Meer eine andere Färbung an. Es ging mir nicht länger um Salz und Wind, mir ging es um jemanden, der dafür stand. Eine erste Welle der Erinnerung umschäumte mich, trug ferne Gefühle an mich heran, Eindrücke, winziger als die Schaumbläschen der Gischt. Das Körnchen, das den Kern des Mädchens Mila ausmachte, wurde von einer neuen Schicht umhüllt, einer kleinen Erinnerung, die in mir haften blieb. Unwillkürlich dachte ich an Sandkörner, die, wenn sie in eine Auster geraten, Schicht um Schicht anwachsen und zur Perle werden. So würde es bei mir sein: Schicht um Schicht würde sich um das erste Erinnerungskorn legen, bis ich wieder Ich war. Der Vorstellung wohnte die rechte Mischung an Sanftheit und Zuversicht inne, die ich brauchte, um diesen Prozess zuzulassen.
Allem Anschein nach entging Asami meine veränderte Sicht auf die Dinge nicht. »Du wirst zu ihm gehen, richtig?«
»Ja«, sagte ich, obwohl ich die Entscheidung noch gar nicht willentlich getroffen hatte.
»Dann soll es wohl so sein, er wartet nämlich auf dich. Aber bevor du gehst, möchte ich dir noch etwas geben.« Asami deutete auf den Bernsteinring an seiner Hand.
Bernstein. Ein vertrauter warmer Strom durchfuhr meinen Körper, der offenbar mehr wusste als ich. Asami hatte mich diesen Ring umfassen lassen und es war gewesen, als wenn ich Samuel eigenhändig berührt hätte. Nicht nur seine Haut, sondern sein ganzes Wesen. Für einen flüchtigen Moment hatte zwischen mir und diesem Fremden eine Verbindung bestanden, die weit über das hinausging, was ich an Nikolais Seite erfahren hatte. Dieser Ring war dazu in der Lage, sie erneut herzustellen, dessen war ich mir bewusst, während mein Blick von seinen weichen Gold- und Rottönen angezogen wurde.
»Der Ring gehört dir, Samuel hat ihn dir geschenkt.«
Asami sprach so leise, dass ich die Worte kaum verstand. Das war aber auch gar nicht nötig, ich begriff ohnehin. Als er Anstalten machte, den Ring abzustreifen, legte ich meine Hand über seine. Der Bernstein schmiegte sich an meine Hand, und ich nahm seinen Wunsch wahr, dorthin zu wandern. Es bedurfte lediglich meiner Aufforderung. Doch etwas anderes kam mir in den Sinn.
»Mit Nikolais Tod ist auch die Verbindung zwischen uns eingeschlafen, er war wie eine Flamme, die so hell leuchtete, dass ich mich selbst nicht mehr sah. Als sie erlosch, war da zuerst nur Dunkelheit. Dunkelheit und Rauch, ein letztes Überbleibsel der Flamme. Mehr ist nicht geblieben, aber ich bin mir nicht sicher, ob das vielleicht nicht doch sehr viel ist. Die Spanne, in der ich zu Nikolai gehörte, war kurz, aber eine Sache war trotzdem klar: Er hat seine Unsterblichkeit mit mir geteilt, als er seine Pforte auf meinem Traum gründete. Nun frage ich mich: Bin ich wieder ein normaler Mensch, oder werde ich die Berührung einer Schattenschwinge niemals ganz abstreifen können?«
Asami saß lange reglos da, bevor er reagierte. »Eine Antwort auf diese Frage kann einzig und allein die Zeit bringen. Vielleicht ist dir das Geschenk der Unsterblichkeit geblieben, vielleicht auch lediglich einige Jahre mehr als die, die einem gewöhnlichen Menschen geschenkt werden. Es ist aber genauso gut möglich, dass es nicht einmal ein zusätzlicher Tag ist.«
»Die Chancen deuten also eher auf Sterblichkeit.«
Asami zuckte mit den Schultern.
»Dieser Ring zeigt, dass ich Samuel geliebt habe …«, setzte ich an, um sogleich von Asami unterbrochen zu werden.
»Er zeigt, dass du ihn immer noch liebst, denn er will zu dir. Genau wie Samuel.«
»Und gleichzeitig steckt der Ring an deiner Hand.«
Ein neuer, weitreichender Gedanke begann in mir anzuwachsen, hervorgerufen durch die Wärme und das leise Pulsieren des Bernsteins, der mich lockte. Es wäre so einfach, nach ihm zu greifen, ihn zu tragen und dem Jungen, zu dem es mich hinzog, immer nah zu sein. Aber die Entscheidung, vor der ich stand, verlangte mehr.
»Unser Sam hat es wirklich gut. Er wird von uns beiden geliebt, auch wenn die Liebe für mich im Augenblick nicht mehr als ein Gefühl ist, an das ich glaube.« Ich stockte. Seit ich in dem Zimmer mit dem Blick auf den Garten zu mir gekommen war, hatte ich erlebt, wie wichtig es ist, geliebt zu werden. Dabei wusste ich nicht einmal, was genau ich für diese Menschen bedeutete, ich wusste nur, dass ihre Zuneigung für mich überlebenswichtig gewesen war. »Jemanden an seiner Seite zu wissen, kann entscheidender sein als die Luft zum Atmen, sogar Nikolai konnte sich dieser Macht nicht entziehen. Wenn wir beide Samuel lieben, dürfen wir ihm das nicht nehmen. Vor allem nicht, da ich eines Tages vermutlich sterben werde.«
Asami stieß ein heiseres Lachen aus. »Es ist wohl kaum anzunehmen, dass er sich zwischen uns beiden aufteilen wird. Glaub mir, Samuel hat das nicht vor, er bevorzugt dich, sogar dann, wenn du dich von ihm abwendest. Mich wird er bestenfalls dulden und darauf kann ich mich nicht einlassen. Eine Entscheidung ist also unumgänglich.«
Ich dachte darüber nach, während der Wind meine Wangen kühlte. »Kannst du warten?«
»Warten? Auf Samuel?«
Ich nickte.
Begreifen zeichnete sich in Asamis Gesicht ab, als sein Mund sich vor Verwunderung leicht öffnete.
Ich überließ mich noch einmal dem Zauber, der von dem Bernsteinring ausging, dann zog ich meine Hand zurück. »Es mag schon sein, dass mir mehr Jahre als einer gewöhnlichen Sterblichen zustehen, aber eines Tages wird Samuel jemanden brauchen, der ihn bedingungslos liebt, sogar wenn er voller Zorn und Trauer ist. Was denkst du, wäre das eine Möglichkeit?«
Asami schloss die Augen und presste seine beringte Hand an die Brust, dann stand er auf, verneigte sich und ging. Ich sah ihm nach, bis er zwischen den Hecken verschwunden war, bevor ich meinen eigenen Weg einschlug.