21 Nach dem Feuer
Von der Halle waren lediglich die Seitenwände aus Beton stehen geblieben, während die Front und das Dach mit seiner Stahlkonstruktion eingestürzt waren. Obwohl der gröbste Schutt bereits geräumt worden war, bot sich immer noch ein verheerender Anblick wegen der geplatzten Bodenplatte, in deren tiefen Rissen nach wie vor Geröll und jede Menge Splitter lagen. So groß der Schaden auch war, der Auslöser für diese Zerstörung war nicht ohne Weiteres auszumachen. Gesprungenes Glas und geborstener Stahl deuteten auf ungewöhnlich hohe Hitzeeinwirkung, aber nirgends waren auch nur ein Hauch von Ruß, Asche oder andere Zeugen von Feuer zu entdecken. Die Wände sahen so frisch aus wie am Tag ihrer Errichtung, als hätten niemals gierige Flammenzungen über sie geleckt. Dem besonders gründlichen Betrachter wäre eventuell feiner Staub aufgefallen, der aussah wie farbloser Stundenglassand. Aber was bedeutet schon ein bisschen Staub?
Ich stand vor einem dieser Absperrbänder, die man ansonsten nur aus Katastrophenfilmen kennt, und blickte auf die Reste, unter denen mein Leben begraben lag. Es war bereits früher Morgen, aber die Dämmerung ließ auf sich warten. Regenwolken zogen auf, ich spürte sie genauso intensiv wie den lockenden Wind aus Westen. Schwing dich in die Höhe, bevor der Regen dich am Boden hält, schien er mir zuzurufen. Das vertraute Kribbeln durchzog meine Rückenmuskulatur, um dann zu verebben, als fehlte mir in meinem Zustand die notwendige Kraft zum Fliegen.
In einem Wohnwagen saß ein Wachmann beim Morgenkaffee, während sein Hund, ein schwarzer Schäferhundmischling, mich hinter einem Schutthaufen stellte. Anstatt jedoch anzuschlagen, beschnüffelte er mich schwanzwedelnd.
»Na, du. Falls du auf der Suche nach einer passenden Wade zum Reinbeißen bist, muss ich dich leider enttäuschen. Ich schmecke nicht halb so gut, wie ich offenbar rieche.«
Der Hund legte den Kopf schief, und ich hätte meine Schwingen darauf verwettet, dass ihm eine passende Entgegnung auf der Zunge lag. Ich sank in die Knie und kraulte ihn hinter den Ohren, eine freundliche Geste, die uns beiden im kalten Dunst des anbrechenden Tages wohltat. Plötzlich spannte der Hund seine Muskeln an, gefolgt von einem leisen Knurren. Dann hörte ich die Schritte auf dem knirschenden Grund ebenfalls. Jemand hatte die Absperrbänder passiert und schlug sich abseits der Straße zum Hallengelände durch. Ich bedeutete dem Hund, still zu sein, und blieb in Deckung. Schon kurz darauf ertönte die Stimme von Joffe Kraachten, der offenbar ein Gespräch mit seinem Handy führte.
»… was soll’s, dann sind die Kopien vom Krankenbericht eben nicht vollständig, es musste halt schnell gehen. Aus den Seiten, die wir haben, kann man doch ganz klar rauslesen, dass mit dem Bristol-Jungen irgendwas nicht koscher ist.« Kraachten legte eine Pause ein. »Einverstanden, man kann es nicht klar rauslesen, aber ableiten. Und das reicht zusammen mit dem Foto, auf dem er glüht. Jetzt hören Sie aber auf, das Foto sieht überhaupt nicht aus wie eine 1-a-Fälschung. Der Kerl brennt, ungelogen.« Pause. »Leuchten oder brennen, das ist doch Wortklauberei. Diese Halle ist von einem Feuer zerstört worden, von dem keine Spur zu entdecken ist, und dieser Bengel brennt, ohne zu verbrennen. Wie groß, verfluchter Dreck, muss eine Story sein, damit euer tolles Blatt sie druckt? Alle anderen Zeitungen werden sie mir jedenfalls aus den Händen reißen. Wenn ihr also nicht wollt …« Kraachtens pfeifender Atem verriet seine Aufregung, während er der Antwort lauschte, dann folgte ein Lachen. »Wusste ich doch, dass Sie es bringen wollen. Und diesen letzten Beweis bekomme ich auch noch. Mehrere der Partygäste haben ausgesagt, dass sie Samuel Bristol auf dem Hallendach mit einem Schwert in der Hand gesehen haben. Mit einem Schwert! Der Kerl ist genauso verrückt wie sein Vater oder noch besser: Er ist der Highlander. Sie wissen schon, dieser alte Fantasy-Film. Kennen Sie nicht? Egal. Jedenfalls wurde der Bengel nur mit einer Hose und dieser seltsamen Lederschiene bekleidet ins Krankenhaus eingeliefert. Ich sehe zu, ob ich dieses Schwert nicht finde. Vertrauen Sie mir, okay?«
Vertrauen – eine Spezialität von Joffe Kraachten.
Langsam richtete ich mich so weit hinter dem Schutthaufen auf, dass ich den Hund weiterhin am Halsband festhalten konnte. Der wollte sich nämlich nur allzu gern des Eindringlings annehmen. Kraachten steckte sein Handy in die Jackentasche und klemmte sich einen länglichen Gegenstand unter den Arm, den er in Packpapier eingeschlagen hatte. Er warf einen Blick auf den Wohnwagen des Wachmanns, dann huschte er zum Trümmerhaufen, der vor der Halle lag. Dort packte er den Gegenstand aus und wollte ihn gerade im Geröll positionieren, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte.
»Schauen Sie, Herr Wachmann, was ich gefunden habe«, brachte er gerade noch hervor, dann begriff er, dass ich keineswegs der Herr Wachmann war. »Samuel, so ein Zufall.«
»Moin, Herr Kraachten.« Ich grinste ihn an. »Kann ich mir mal Ihr Handy leihen?«
»Mein Handy?« Kraachten hockte stocksteif da, also griff ich selbst in seine Jackentasche, holte das Gerät hervor und wählte die Wahlwiederholung.
»›Norddeutsches Tagesblatt‹, Fabian Bleicher am Apparat«, begrüßte mich eine männliche Stimme.
»Hallo, Herr Bleicher, ich bin Samuel Bristol. Sie wissen schon, der brennende Junge aus St. Martin.« Kraachten versuchte aufzustehen und nach dem Handy zu langen, doch ich drückte ihn so entschlossen nieder, dass er auf seinen Hintern plumpste. »Raten Sie einmal, womit Ihr neuer, investigativer Journalist gerade beschäftigt ist.«
Ich konnte regelrecht hören, wie es hinter Fabian Bleichers Stirn ratterte. »Samuel – ich darf Sie doch Samuel nennen? Herr Kraachten arbeitet keineswegs in unserem Auftrag, das wollte ich nur erst einmal rasch klarstellen. Alles, was er macht, macht er auf eigene Verantwortung.«
Hörte ich da etwa einen Anflug von Panik in der Stimme dieses Herrn Bleicher, der Kraachten doch gerade noch zugesichert hatte, die Schmutzstory über mich zu bringen? »Sie sind also gar nicht neugierig, was Ihr Kollege gerade vorhatte? Wo ist denn Ihr journalistischer Ehrgeiz abgeblieben?«
»Was ich hier gerade gemacht habe, geht den Bleicher nichts an. Lass uns doch in Ruhe darüber reden, Samuel«, mischte Kraachten sich ein.
Der Hund nahm es ihm prompt übel, dass er seine Stimme erhob, und fletschte die Zähne, woraufhin Kraachten verstummte und sich nicht mehr rührte. Aber ich war noch nicht fertig mit ihm. Das hier war meine Chance, ihn endlich loszuwerden.
»Worüber wollen Sie denn mit mir reden, Kraachten? Über dieses angerußte Schwert aus dem Trödelladen unten am Strand, das Sie gerade vor meinen Augen im Schutthaufen versenkt haben? Ziehen Sie das Ding mal schön wieder raus, die Nummer hätte Ihnen doch eh keiner abgenommen. Warten Sie mal, ich mach ein Foto davon.« Ich sprach schön laut und deutlich ins Handy hinein, bevor ich es als Fotoapparat benutzte.
»Habe ich es mir doch gedacht!«, brüllte Bleicher. »Die ganze Story ist fingiert, das war doch abzusehen. Kraachten, in der Branche fassen Sie keinen Fuß mehr, so was spricht sich rum. Sie werden bis an Ihr Lebensende fürs ›Treibgut‹ arbeiten. Ha, nicht einmal das. Dafür sorge ich.«
Ich drückte den aufgebrachten Mann weg und machte eine Aufnahme von dem verdrießlich dreinblickenden Kraachten mit dem verrußten Schwert. Ruckzuck ging das Foto an Bleicher und andere Blätter, deren E-Mail-Adressen ich in den Kontakten finden konnte, mit dem Betreff »Joffe Kraachtens Recherchemethoden« raus.
»Samuel«, flüsterte Kraachten beschwörend. »Ich habe genug Material gesammelt, um dich fertigzumachen. Und selbst wenn das nicht reichen sollte, werde ich so lange an deinen Fersen kleben, bis ich beweisen kann, dass bei dir etwas nicht stimmt.«
»Bei mir stimmt alles, aber bei Ihnen nicht, wenn Sie mich fragen.« Ich packte ihn an der Jacke und zog ihn auf die Beine. »Das ist jetzt das letzte Mal, dass ich Ihre Visage zu sehen bekomme, Sie werden sich künftig von mir fernhalten und auch von den Menschen, mit denen ich zu tun habe. Ansonsten werde ich mal klären, ob man wegen der getürkten Story, die Sie über mich angeboten haben, nicht Anzeige erstatten kann. Oder ich erzähle dem ›Treibgut‹ die Geschichte, wie ich von einem gewissen Journalisten gestalkt wurde.«
Bei der Drohung, mich ans »Treibgut« zu wenden, knickte Kraachten endlich ein. »Nicht nötig, aus dir habe ich eh schon alles rausgeholt, mehr gibt deine Story nicht her. Ich werde mich nicht weiter damit beschäftigen. Von Stalken kann demnach gar nicht die Rede sein.«
»Wir sind uns also einig?«
Kraachten zog zwar eine Grimasse, als würde er in eine Zitrone beißen, nickte aber. »Keine Recherche und keine Artikel mehr über dich, versprochen.«
»Dann können Sie jetzt weglaufen.«
»Warum sollte ich weglaufen?«
Ich zuckte voller Unschuld mit den Schultern. »Na, ich kann den Hund doch nicht ewig am Halsband festhalten. Der mag Sie anscheinend nicht sonderlich, warum würde er wohl sonst knurren?«
Für seine wenig sportliche Statur legte Kraachten einen beachtlichen Kaltstart hin. Ich gewährte ihm einen Vorsprung, dann ließ ich den geifernden Hund los. »Guten Appetit«, rief ich dem davonstürmenden Tier nach, dann wendete ich mich der Halle zu.