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29 Aufbruch

Sam

Der sechste Tag nach dem Brand in der Halle war angebrochen.

Seit sechs Tagen waren Mila und vermutlich auch Lena in Nikolais Gewalt, während ich meine Zeit damit verbrachte, wieder auf die Beine zu kommen, Milas Eltern die Wahrheit über mich und meine Welt zu erzählen, mein Katana aus den Trümmern zu befreien und meinen Vater vergessen zu lassen, dass er einen Sohn hatte. Ich war mir nicht sicher, ob diese Ausbeute angesichts der Lage für mich sprach.

In der Sternwarte beschlossen wir, uns aufzuteilen. Asami und Ranuken wechselten in die Sphäre, um die Schattenschwingen über die Rückkehr ihres alten Feinds in Gestalt Nikolais zu unterrichten und so viele Verbündete wie möglich zu versammeln. Kaum waren sie zur Tür hinaus, entspann sich eine Diskussion zwischen Shirin und mir: Ich wollte ihre Heilung fortsetzen, damit sie den Wechsel in die Sphäre heil überstand, während sie zwar in die Sphäre gehen, dafür aber auf keinen Fall meine Kraft verschwenden wollte.

»In deinem angeschlagenen Zustand überstehst du den Wechsel nur, wenn du zulässt, dass ich mich um deine Verletzung kümmere. Ansonsten ist das Risiko viel zu groß, dass du dabei draufgehst«, sagte ich erregt. Nicht etwa, weil ich wütend auf sie war, sondern weil ich mich so hilflos gegenüber ihrer Haltung fühlte. Alles war wichtig, nur sie selbst nicht. Diese Opferbereitschaft erinnerte mich schmerzlich an Kastor, der sehenden Auges in sein Verderben gerannt war. Und ich wollte auf keinen Fall einen weiteren Freund verlieren.

Shirin baute sich stolz vor mir auf, von Kopf bis Fuß die erhabene Wüstenkönigin. »Du brauchst deine Kraft, Samuel, und zwar jedes noch so kleine bisschen. Vermutlich wird sie ohnehin nicht ausreichen, um dem Schatten gegenüberzutreten. Trotzdem muss ich dich begleiten: Du brauchst meine Hilfe, weil ich die Einzige bin, die seine Vorgehensweise zumindest ansatzweise versteht. Wir müssen das Risiko eingehen, das das Wechseln für mich birgt. Ich fürchte mich nicht davor.«

»Weil dir dein Wohlergehen total egal ist – im Gegensatz zu mir.«

Shirin maß mich mit einem herausfordernden Blick, dem ich standhielt, obwohl ich mich in Wirklichkeit jung und unerfahren fand. Wieder einmal wurde mir bewusst, wie sehr Kastor mir fehlte. Er hätte gewusst, wie dieser eigensinnigen Schattenschwinge beizukommen war, ohne ihren Stolz zu verletzen. »Ich verstehe ja, dass du Nikolai, nach allem, was er dir angetan hat, gegenübertreten willst. Und ich brauche dein Wissen – ohne Frage. Aber wir sprechen keineswegs über ein uneinschätzbares Risiko, wir wissen beide, was geschieht, wenn die Klinge in deinem Körper mehr oder weniger hüllenlos eine Pforte passiert. Kastor hat es uns gesagt, und er meinte es ernst, ansonsten hätte er wohl kaum wochenlang an deiner Seite in der Menschenwelt ausgeharrt.«

Als ich Kastors Namen laut aussprach, wurde es in der Sternwarte schlagartig still. Für einen Augenblick war es, als stünde er wahrhaftig zwischen uns, ein schweigsamer Geist, dessen Feuer zwar erloschen war, nicht aber die Erinnerung an ihn. Dann lenkte Shirin ein. Mit Mühe verbarg ich meine Erleichterung, während ich das Katana begrüßte. Ja, ich brauchte sie an meiner Seite, wenn ich Nikolai gegenübertrat, ich brauchte sie mehr als das Leuchten meiner Aura, denn Shirin war außer mir die Einzige, der es schon einmal beinahe gelungen war, ihn zu töten. Zusammen würde es uns dieses Mal vielleicht gelingen, ihn endlich und endgültig auszulöschen.

Nachdem ich mich einigermaßen von dem Eingriff erholt hatte und Shirin sicher auf den Beinen war, brachen wir mit Rufus zur Küste auf. Dort wollten wir Asami und Ranuken treffen, um gemeinsam durch den Meeresspiegel in die Sphäre einzukehren.

Rufus war ungewöhnlich schweigsam, als würde die Ungeduld, die in ihm brodelte, ihn ansonsten zerreißen. Seit wir am Strand angekommen waren, hielt er merklich Abstand zu Shirin und mir. Unentwegt mühte er sich mit einem Lagerfeuer aus Treibholz ab, ohne große Erfolge zu erzielen. Es hatte ihn zweifelsohne überfordert, Zeuge zu werden, wie ich meine inneren Quellen öffnete und Shirin anschließend in meine Aura tauchte. Nicht mehr lange, und der Morgen würde anbrechen, doch jetzt herrschte noch Nacht.

Als Treffpunkt an der Küste hatte ich jenen Platz ausgesucht, an dem ich Mila an ihrem sechzehnten Geburtstag davor bewahrt hatte, ins nächtliche Wasser zu gehen. Die Verzweiflung, die sie damals umgab, hatte mich fast gelähmt, während ihr Wunsch, sich den Fluten zu übergeben, für mich genauso lesbar gewesen war, als wäre es mein eigener. Dann hatte ich sie angesprochen, den Arm nach ihr ausgestreckt und sie zu mir geholt. So einfach würde es dieses Mal nicht sein – nicht nach sechs Tagen unter Nikolais Einfluss. Von einer dunklen Vorahnung heimgesucht, sah ich zu den Klippen hinüber, obwohl sie sich kaum in der Dunkelheit abzeichneten. Der Himmel war dicht bewölkt und sternenlos, während das Meer einer einzigen schwarzen Woge glich, deren unablässiges Murmeln mir vertraut in den Ohren klang. Dunst lag über dem Strand und hinterließ einen kühlen Film auf meinen erhitzten Wangen und nackten Schultern. Ich hatte Hakama und Obi angelegt, um das Katana sicher an meiner Seite unterzubringen.

»Was wird er Mila antun?«, fragte ich Shirin, deren Aurenschein ein diesiges Licht hervorrief. Viel war das nicht, aber schon deutlich besser als zuvor. Sie stand neben mir, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihr Frösteln war keine Überraschung, die Strapazen der letzten Stunden hatten sie sichtlich mitgenommen. Und doch hatte sie ihre Schwingen geöffnet, die in der Nacht noch schlechter auszumachen waren als ihre dunkle Gestalt. Sie waren nur noch ein Schatten ihrer früheren Pracht. Zwei Schwingen aus dunklem Rauch, die sie kaum tragen würden.

»Willst du das wirklich wissen, Samuel? Oder geht es dir bei dieser Frage nur darum, dich zu quälen, weil du Mila noch nicht befreit hast und dir die Schuld daran gibst?«

Ich dachte darüber nach und beschloss, die Antwort lieber für mich zu behalten. »Ich bin nervös«, erklärte ich stattdessen. Das unruhige Summen des Rings war daran nicht unschuldig. Seit Asami in die Sphäre gewechselt war, bekam ich in schönster Regelmäßigkeit Stromschläge, als würde die Verbindung zwischen uns ständig unterbrochen, um dann erneut zu zünden. »Wir warten schon viel zu lange darauf, dass Ranuken und Asami zurückkehren. Da ist bestimmt was schiefgegangen.«

»Das wüsstest du, also hör endlich auf, dich selbst zu belügen.« Shirin umfasste mit einem erstaunlich harten Griff meine beringte Hand. »Die Verbindung zwischen dir und Asami ist sehr stark, der Ring beweist es. Nur wenige Schattenschwingen passen auf diese Weise zusammen, die meisten von uns brauchen einen menschlichen Gegenpart, um ihre Macht vollkommen zu entfalten. Nimm es als ein gutes Zeichen und nicht als Beleidigung, dass er Milas Ring trägt. Du kannst dich auf Asami verlassen, er würde dich niemals ohne Grund warten lassen.«

»Da wäre ich mir bei diesem Burschen gar nicht so sicher«, sprach Rufus aus, was ich nur argwöhnte. Er hatte sich also doch nicht ausgeklinkt, sondern unser Gespräch mitverfolgt. »Asami reißt sich vielleicht für Sam den Arsch auf, aber Mila und Lena sind dem doch scheißegal. Bestimmt glaubt der, dass man bei Kroppzeug wie uns Sterblichen eh keinen großen Schaden anrichten kann. Ich wette, so ticken die meisten von euch Schattenschwingen, deshalb habt ihr uns doch bislang wie die Pest gemieden.«

Als Shirin sich Rufus zuwendete, verschränkte er die Arme, als wollte er sagen: Du bist beeindruckend, Lady, aber nicht beeindruckend genug, damit ich klein beigebe. »Asami mag in vielerlei Hinsicht unnachgiebig sein, aber er ist keineswegs dumm. Er weiß, dass Samuel es ihm niemals verzeihen würde, wenn Mila seinetwegen ein Unglück zustößt.«

Rufus schnaufte abfällig und stocherte mit einem Stock in dem kläglich auflodernden Lagerfeuer. Obwohl das Flammenspiel kaum nennenswert war, ging mir der Anblick durch Mark und Bein. Die schmächtigen rotorangen Zungen, die über das Treibholz leckten, erinnerten mich an die Feuerwände, die Nikolai heraufbeschworen hatte. Widerwillig sah ich zu, wie Rufus das Feuer immer weiter schürte, während es Schatten auf sein von Anspannung gezeichnetes Gesicht warf.

»Wenn du dich da mal nicht täuschst. Ich traue dem Kerl jedenfalls keine Sekunde über den Weg, wenn es um die Befreiung meiner Schwester geht. Schließlich steht diesem Asami die Ewigkeit zur Verfügung, um sich bei Sam wieder lieb Kind zu machen, falls Mila etwas zustößt. Auch wenn das keiner von euch hören will: Ich habe gesehen, wie der Japaner Sam von der Seite anschmachtete. Das hat wenig mit brüderlicher Liebe zu tun.«

Ich schluckte Rufus’ Anspielung auf Asamis Gefühle mir gegenüber hinunter, als wäre es ein Stück glühende Kohle, aber ich schwor mir, ihm dafür noch den Kopf zurechtzurücken. Immerhin hatte er in einer Hinsicht recht: Die Warterei musste ein Ende haben. Es gab allerdings ein Problem.

»Ich muss auf Asami warten, denn ich brauche seine Hilfe zum Wechseln, ansonsten wird jede Schattenschwinge, die ihre Fühler nach mir ausstreckt, meine Ankunft in der Sphäre sofort bemerken. Dann weiß Nikolai Bescheid, und damit wäre der Überraschungsmoment verschenkt, der im Augenblick unser einziger Vorteil ist.«

Sanft drückte Shirin meine Hand, während ihr Blick aufs Meer hinaus wanderte und ihre Sehnsucht nach der Sphäre verriet, die dort hinter meiner Pforte auf sie wartete. »Die Schattenschwinge, die deine Mila geraubt hat, erwartet dich mit jedem Schlag ihres Herzens. Du kannst ihn nicht überraschen. Und wenn wir jetzt in die Sphäre wechseln, dann erfährst du auch, warum Asami bislang nicht erschienen ist. Wir sollten auf Rufus hören und uns beeilen.«

Rufus schlug seine Faust auf seinen Handteller, dass es knallte. »Genau, Nikolai ist reif. Überreif.«

Eigentlich brauchte es nicht mehr, um mich vom sofortigen Aufbruch zu überzeugen. Und doch zögerte ich …

»Wie wird Mila wohl sein, nachdem sie tagelang in seiner Nähe verbracht hat, ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert?«

Shirins Schweigen und das gleichzeitige Verblassen ihrer Aura befeuerten meine schlimmsten Vermutungen. In mancher Hinsicht war Nikolai für sie zu einem Fremden geworden. Er verfügte zwar über den Wissensschatz und die Wesenszüge ihres ehemaligen Geliebten, den Schatten, trug aber nichtsdestotrotz ein anderes Gesicht. Dennoch konnte Shirin seine Absichten und Vorgehensweise besser einschätzen als irgendwer anderes. Sie hatte ihn geliebt, gehasst und zumindest einen Teil von ihm getötet.

»Glaubst du nicht, dass ich wenigstens annähernd eine Vorstellung von dem haben sollte, was auf mich zukommt?« Fast hätte ich auf meine Gedankenstimme zurückgegriffen, denn genau wie Shirin mich vor der bitteren Wahrheit zu beschützen versuchte, wollte ich Rufus nicht unnötig verunsichern. So lief das also, wenn man einander zugetan war: Man setzte alles dran, den anderen zu schützen, und verletzte ihn dadurch nur noch mehr. »So geht das nicht, Shirin. Die Zeit der Geheimnisse muss endlich vorbei sein. Die Lügen, das Schweigen, die ganze Schönrederei der Wirklichkeit hat zu nichts anderem als Kummer geführt. Ich will wissen, was mich erwartet. Ich will meine Entscheidungen im Licht der Wahrheit treffen und mich nicht länger in ein Halbdunkel hüllen, aus Angst, das Sonnenlicht könnte mich verbrennen.«

»Du magst stark genug sein, um dich meiner Vermutung, was Nikolai mit Mila getan haben könnte, auszusetzen, aber der Junge ist ihr Bruder …«, setzte Shirin zögernd an.

Wie auf Kommando warf Rufus sich in die Brust. »Erstens: Ich bin hundertzehnprozentig Milas Bruder, und zwar ein Bruder, der seine Schwester verflucht gern hat und alles darüber wissen will, was dieses Schwein ihr antut. Zweitens: Ich bin kein Junge, sondern ein Mann. Das sollte dir eigentlich nicht entgangen sein, meine Schöne.«

Ich war mir da nicht so sicher, aber ich hatte andere Sorgen, als mit Rufus seine Reife und Männlichkeit zu diskutieren. Shirin stand mit gesenktem Kopf da und hielt sich ihre verwundete Seite. Meine Forderung setzte ihr zu und raubte ihr von der wenigen Kraft, die ihr zur Verfügung stand. Schon tat es mir leid, sie bedrängt zu haben. Sie brauchte Ruhe, mehr als das: Sie brauchte Frieden. Trotzdem, ich musste es wissen, um mich zu wappnen. Falls das überhaupt möglich war – denn wie sollte ich es an mir abprallen lassen, Mila verletzt, gedemütigt oder gar in eine Sklavin verwandelt zu sehen, so wie Nikolai es mit mir hatte tun wollen? Hinter meiner Stirn setzte ein panisches Rauschen ein, als würde die Flut mich aufs offene Meer ziehen.

»Wird Nikolai Mila seinen Stempel aufdrücken, damit sie sich vollkommen seinem Willen überlässt?«

Shirin schüttelte energisch den Kopf. »Es würde keinerlei Sinn machen, einem Menschen ein solches Sklavenzeichen aufzuprägen. Um es zum Leben zu erwecken, bedarf es einer Aura. Allerdings kann er sich Mila auf andere Art gefügig machen. Es ist nur …«

»Was? Lass dich nicht bitten, Shirin.« Nur mit Not unterdrückte ich das Bedürfnis, sie anzubrüllen.

»Der Schatten war nie, wirklich nie daran interessiert, sich der Menschen zu bedienen. Seine Fertigkeiten, mit denen er Macht auf sich zog, zielten auf seinesgleichen ab. Für ihn zählten einzig und allein die Schattenschwingen. Früher dachte ich, er würde sich von den Menschen fernhalten, weil sie uns in vielerlei Hinsicht nicht ebenbürtig sind. Das war ein Irrtum. Du sagst, seine Pforte seien die menschlichen Träume. Es sieht vielmehr ganz danach aus, als hätte er Angst vor dem, was die Menschen ihm anzutun imstande sind. Das erklärt einiges, nicht zuletzt, warum er diese Welt hier weitestgehend verschont hat, während unsere nach seinem Wüten größtenteils unbewohnbar geworden ist.«

Shirin brach ab, doch ich hielt still, weil ich ihren Gedankenfluss unter keinen Umständen unterbrechen wollte. Wenn Nikolai an die Träume der Menschen gebunden war, konnte diese Verbindung sich dann nicht als Schlüssel zu seinem Untergang erweisen?

»Er fürchtet sich vor den Menschen und zugleich braucht er sie«, spann Shirin ihre Gedanken weiter. »Mehr als jede andere Schattenschwinge war er über seine Pforte schon immer mit ihnen verbunden. Und Verbundenheit widersprach zutiefst seinem Wesenskern, denn er wollte nie ein Gegenüber, mit dem ein Wechselspiel stattfindet. Er wollte niemanden, von dem er abhängig ist, der ihn beeinflusst, sondern stets das exakte Gegenteil: Er wollte die Alleinherrschaft, auch in der Liebe. Es muss ihm eine Heidenangst gemacht haben, dass seine Pforte an etwas so Unwägbares wie die Träume der Menschen gebunden war. Den Träumen der Menschen wohnt ein ganz eigener Zauber inne, in ihnen betreten sie eine Welt, zu der uns Schattenschwingen der Zutritt verwehrt ist. Deshalb ist es kein Wunder, dass er seine Pforte damals nicht bloß verheimlicht, sondern auch alles getan hat, um die Verbindung zwischen den Welten zu kappen. Jetzt ist das anders: In Mila hat er das erste Menschenkind gefunden, das sein Interesse geweckt hat, denn dank ihrer Gabe ist es ihm möglich, in der Sphäre die Traumpforte zu eröffnen.« Shirins Miene verdunkelte sich. »Verstehst du, Samuel? Deshalb setzt er alles daran, um deiner habhaft zu werden: Du bist stark genug, um Mila in seine Quelle zu verwandeln. Mit dir könnte er Mila und seine Pforte beherrschen, ohne dass sie Einfluss auf ihn nimmt.«

Unwillkürlich ertastete ich die sternförmige Narbe auf meiner Brust, zeichnete die tiefen Furchen in meiner Haut nach, die mir trotz ihrer Empfindlichkeit unendlich lieber waren als das vollendete Zeichen, das meinen Willen so weit verstümmelt hätte, bis nichts von ihm übrig geblieben wäre. Von Anfang an war es Nikolais Ziel gewesen, einen Sklaven aus mir zu machen. Schon als ich noch als Junge im Haus meines Vaters lebte und keine Ahnung davon hatte, dass zwei Schwingen in mir darauf warteten, endlich hervorzubrechen.

Shirins Aura flackerte so weit auf, dass ich im Licht ihre zerfurchte Stirn erkannte. »Sein Name und sein Gesicht haben sich verändert, aber das war es auch schon. Er will immer noch alles, ohne einen Preis dafür zu bezahlen. Das überlässt er den anderen«, sagte sie voller Bitterkeit. »So gesehen ist es kein Wunder, dass er dich unbedingt als Bollwerk zwischen Mila und sich haben wollte: Er braucht dich, um von Mila zu nehmen, ohne sie zu berühren. Denn damit würde er zulassen, dass sie ihn ebenso beeinflusst wie er sie.«

»Glaub mir, Nikolai hat keine Angst davor, Mila zu berühren. Als ich ihn das letzte Mal gesehen habe, hatte er seine Arme so fest um ihren Körper geschlungen, dass ich jeden Moment damit rechnete, ihre Rippen knacken zu hören.«

»Hier in der Menschenwelt braucht ihn das nicht zu kümmern, in der Sphäre hingegen sieht es anders aus. Er wird bei der Zerstörung der Aschepforte Verletzungen davongetragen haben, also wird er sie nicht länger als nötig aus den Augen lassen, denn er braucht sie. Dadurch wird sie zu einem ständigen Quell der Versuchung. Hast du denn schon vergessen, wie es sich anfühlt, in unserer Welt einen Sterblichen zu berühren?«

Ich brachte die Antwort nicht über meine Lippen. Jede Faser meines Körpers erzählte davon, wie es war, meine Hände auf Mila zu legen, während wir in meiner Heimat waren. Die einzigartige Magie, die sich dabei entspann, war unbeschreiblich.

»Was auch immer Kastor ihm angetan hat, er wird mehr als bloß geschwächt sein«, brachte ich gequält hervor. »Du hast den Nachhall der Zerstörung nicht aus der Nähe zu spüren bekommen, aber ich. Nikolai wird Milas Berührung keinesfalls widerstehen, denn er wird sie brauchen. Sie ist alles, was er hat, um seine Kraft wiederzuerlangen.«

Mir wurde schlagartig so übel, dass ich mich auf meinen Oberschenkeln abstützen musste. Wunden verheilten, sogar seelische, wenn die Zeit und die Umstände entsprechend waren. Aber eine erzwungene Berührung durch jemanden, den man hasste … wie würde Mila damit zurechtkommen?

Rufus’ Hand auf meiner Schulter holte mich aus meiner Benommenheit. Alles Machomäßige an seinem Auftritt war gewichen. »Ihr sagt, dass Nikolai Mila gegen ihren Willen berührt … Heißt das, dass er … Mila … vergewaltigt?«

Ein beschwichtigendes »Nein« wollte über meine Zunge, aber es hätte aus Schattenschwingensicht nicht wirklich der Wahrheit entsprochen. Also suchte ich nach den richtigen Worten, obgleich es mir unerträglich war. »Die Berührung zwischen Mensch und Schattenschwinge in der Sphäre stellt eine Verbindung her, die weit über das Körperliche hinausgeht. Mila wird sich nicht vor Nikolai verschließen können, wenn er es drauf anlegt. Welchen Schaden er dabei anrichtet, kann ich nicht sagen, aber es ist eine Unterwerfung ihres Wesens und kommt einer Vergewaltigung äußerst nah. Wenn sich die beiden gemeinsam auf die Berührung einließen, würde es zu einer Vereinigung kommen, wie sie früher die Basis für das Zusammenleben unserer Welten gebildet hat.« Mir stockte die Stimme, als ich beschrieb, was ich mir eigentlich für Mila und mich wünschte … und was nun womöglich durch Nikolai unmöglich geworden war.

Einen Augenblick lang stand Rufus wie erstarrt da, dann streifte er seine Stiefel ab und ging auf die Brandung zu, die in Nebel und Dunkelheit lag. Es wäre zwar einfacher gewesen, aufs Meer hinauszufliegen und mit einem Sturzflug in die Pforte einzutreten, aber ich hielt ihn nicht zurück, denn auch ich sehnte mich nach dem Wasser, dessen Kälte einem ins Fleisch schnitt und einen alles andere vergessen machte. Rasch nahm ich das Katana auf, dann folgte ich ihm mit Shirin an meiner Seite. Erst als die Wellen meine Hüften umtanzten, rief ich: »Das reicht, tiefer müssen wir nicht.«

Rufus blieb stehen, die Schultern wegen der Kälte hochgezogen. Langsam drehte er sich um und warf einen letzten Blick auf das Lagerfeuer am Strand, das nicht mehr als eine rötliche Ahnung war. Dann nahm er meine Hand, die ich ihm hinhielt, während Shirin sich zitternd in meinen Arm schmiegte.

»Lass uns wechseln. Jetzt«, forderte Rufus.

Ich tauchte mit ihnen durch meine Pforte in die Sphäre hinein, den alten vertrauten Schmerz fühlend, den die Zeichen auf meinem Unterarm auslösten. Als ich die Oberfläche des Meeres hinter mir ließ, strömte unversehens ein solches Durcheinander an Gedanken auf mich ein, dass ich beinahe vergaß, meine Schwingen zu öffnen und in den Himmel zu steigen.

Unzählige Stimmen jagten durch meinen Kopf, dröhnten auf mich ein, vereitelten jeden Versuch, ihre Worte zu verstehen.

Chaos.

In mir und in der Sphäre herrschte das reinste Chaos.

Was zur Hölle war bloß los?

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