22 Verschüttet
Nicht mehr lange, und hier würde es wieder von Reportern, Schaulustigen und dem Räumungsteam wimmeln. Solange sie sich jedoch noch in ihren Betten wälzten oder zum Frühstückstisch schleppten, würde ich nach meinem Katana und dem Ring suchen. Wenn es mir denn endlich gelang, den Boden zu betreten, auf dem Kastor ums Leben gekommen war. Der Staub, zu dem er zerfallen war, war Teil dieses Ortes geworden. Für die Menschen war diese Ruine ein Symbol des Schreckens, für mich würde sie immer ein Symbol der Trauer bleiben. Ich hatte bereits einige Menschen verloren – meine Mutter, die abgehauen war und meine Schwester und mich zurückgelassen hatte; Jonas und Sina, die nicht länger zu meinem Leben gehörten; aber noch nie war jemand gestorben, der mir nah stand. Noch wusste ich nicht, wie ich mit dem Verlust umgehen sollte … vielleicht würde ich nie dahinterkommen.
Ich gab mir einen Ruck und betrat den zerklüfteten Grund. Von geprägtem Bernstein geht ein Locken aus. Ein Ruf, genau wie der meines Katanas, dem ich jetzt folgte. Der Ring, der ebenfalls unter den Trümmerresten liegen musste, hingegen schwieg, schließlich steckte er nicht länger an Milas Hand.
Unwillkürlich blieb ich stehen, denn etwas veränderte sich in diesem Moment.
Milas Ring war nicht länger tot, sondern sendete ein Signal aus, wenn auch nur ein schwaches. Ich versuchte, es zu ergründen, doch es entzog sich mir, als fehlte mir der richtige Code, um darauf zuzugreifen. In der letzten Sekunde unterdrückte ich den Impuls, Milas Namen hinauszuschreien. Es wäre auch überflüssig gewesen, denn das Echo, das mich erreichte, ging nicht von ihr aus. Ich wusste genau, wie sie sich anfühlte, kannte den Widerhall, mit dem der Ring mir stets verraten hatte, wo sie war und wie es ihr ging. Nun fühlte sich das Echo fremd und vertraut zugleich an.
Ich betrat gerade die Haupthalle, als ich meine Erklärung fand: Auf einem der verbogenen Stahlträger, die von der Decke heruntergekommen waren, saß Asami mit würdevoll geöffneten Schwingen. Mehr denn je sah er aus wie ein Engel der Apokalypse, und ich biss mir auf die Unterlippe, um ihm das nicht geradewegs auf den Kopf zuzusagen. Ich näherte mich ihm, ohne allzu auffällig auf seine weißen Hände zu starren, die übereinandergelegt auf seinem Schoß ruhten.
»Falls du in deiner Wächterfunktion hier bist, dann bist du zu spät dran. Die Aschepforte, die an dieser Stelle errichtet werden sollte, ist für immer geschlossen.«
»Ich weiß. Der Gewaltakt, mit dem sie vernichtet wurde, war bis in die Sphäre hinein spürbar. Eine Pforte schließt sich stets auf beiden Seiten, Samuel. Die meisten Schattenschwingen hatten vermutlich keine Ahnung, was sich hinter der Erschütterung verbarg, aber uns Wächtern blieb es nicht verborgen. »
Und wieder was gelernt.
»Weißt du, ob jemand durch die Pforte in die Sphäre gelangt ist, bevor sie zerstört wurde?«
Asami senkte den Blick.
Er wusste es also nicht, und das setzte ihm zu. Es brachte Schande über ihn, den Ersten Wächter. Aber nicht einmal ansatzweise so sehr wie über mich.
»Warum hat Kastor Nikolai gegenüber eine solche Brutalität an den Tag gelegt?«, fragte Asami nach einer Weile.
Verständnislos kräuselte ich die Stirn.
»Es war doch Kastor, der die Aschepforte geschlossen hat, richtig? Er war Nikolais engster Freund, mehr noch: sein Bruder. Ihre Pforten waren miteinander verwandt … Kastor konnte unmöglich glauben, dass er einen solchen Verstoß gegen die Regeln überstehen würde.« Eindringlich sah Asami mich an. »Für ein wenig Hilfe wäre ich dankbar, ich versuche nämlich zu verstehen, was Kastor dazu angetrieben hat, jemanden, den er geliebt hat, und sich selbst zu töten.«
Mit einem Mal begriff ich, dass Asami nach wie vor keine Ahnung davon hatte, wer sich Nikolais äußerer Hülle bemächtigt hatte. Natürlich sah es für ihn aus, als hätte Kastor einen Mord an seinem Freund begangen. Für jemanden wie Asami musste sich hinter einer solchen Tat etwas verbergen, das aus verletzten Gefühlen geschah. Ich würde ihn aufklären müssen, doch zuvor wollte ich mir selbst Klarheit verschaffen. Möglichst gleichgültig betrachtete ich seine elegant aufeinandergelegten Hände.
»Warum Kastor das getan hat, ist schwierig zu erklären … lass uns ein paar Schritte gehen.«
Ich reichte Asami eine Hand, um ihn hochzuziehen, und er nahm das Angebot an. Dabei sah ich den Bernsteinring an seinem Ringfinger aufleuchten.
Er trug wahrhaftig Milas Ring!
Zu wütend, um nur einen Laut hervorzubringen, griff ich nach dem Schmuckstück und versuchte es mit Gewalt abzustreifen, was Asami, ohne mit der Wimper zu zucken, geschehen ließ. Doch mein Zerren und Fluchen half nichts – der schmale Reif saß felsenfest, genau wie zuvor bei Mila. Ich spürte, wie in mir der Wunsch aufkam, Asami wenn nötig mit Gewalt dazu zu bringen, den Ring zurückzugeben, und setzte einige Schritte zurück. So weit durfte und wollte ich nicht gehen.
Mit einem Mal wurde mir schwarz vor Augen und meine Knie drohten nachzugeben. Die kurze Attacke hatte wohl meine spärlichen Kraftreserven aufgebraucht. Bevor ich jedoch vollends das Gleichgewicht verlor, floss wieder Kraft durch meinen Körper, ein warmer frischer Fluss, dessen Quelle sich in meinem Ring befand. Es war Asamis Kraft, die mich aufbaute und die er mir ungefragt überließ.
Seiner Hilfe zum Trotz sah ich ihn vorwurfsvoll an. »Du weißt genau, was dieser Ring für mich bedeutet. Wie konntest du ihn an deine Hand stecken?«
»Ich habe den Ring zwischen den Träumern gefunden … besser gesagt, er hat sich von mir finden lassen. Du weißt selbst, dass Werke aus Bernstein über eine eigene Seele verfügen.«
»Dieser Ring steckte an Milas Finger.«
Asamis Züge verdunkelten sich. »Als ich den Ring fand, nahm ich es als Zeichen dafür, dass ihre Gefühle sich verändert haben. Ich hatte nicht vor, ihn zu tragen, das musst du mir glauben. Doch als ich ihn in meiner Hand wog, fühlte er sich mit einem Mal geschmeidig und lebendig an. Als wollte er zu mir. Ich war mindestens so schockiert darüber, wie du es jetzt bist, als er plötzlich an meinem Finger steckte.« Asami machte eine Pause. »Es gibt mehrere Arten von Liebe, musst du wissen.«
»So muss es wohl sein, denn der Ring an deiner Hand vermittelt mir nicht einmal einen Bruchteil dessen, was er mir bei Mila offenbart hat. Von einer wahren Verbindung zwischen uns kann also kaum die Rede sein.«
Asami schwieg, obwohl sein Kehlkopf auf und ab hüpfte, als hielte er nur mit Not eine Entgegnung zurück.
»Gut, wo waren wir stehen geblieben? Bei der zerstörten Aschepforte.« Ich offenbarte ihm die vergangenen Ereignisse, seit Nikolai bei den Wellenbrechern zum ersten Mal sein wahres Gesicht gezeigt hatte, bis hin zu Milas gewaltsamer Verschleppung. Dabei gab ich mir nicht die geringste Mühe, sie ihm Schritt für Schritt mitzuteilen, sondern schleuderte sie ungefiltert über unseren mentalen Pfad, bis Asami wankte und sich an die Schläfen griff. Voll Genugtuung wartete ich ab, bis er sich wieder gefangen hatte.
»Jetzt weißt du, warum Kastor es getan hat: Es geschah wirklich aus Liebe. Aus Liebe zu dem wahren Nikolai und aus Hass auf den verlogenen Dieb, der sich hinter seinem Gesicht versteckt.«
»Und nun willst du losziehen und dich diesem Dieb stellen, obwohl es nicht einmal einem erfahrenen Krieger wie Kastor gelungen ist, ihn zu besiegen? Ein solches Risiko wegen eines Mädchens, das die Bindung zu dir radikal gekappt hat?«
Mir blieben nur zwei Möglichkeiten: Asami vor Wut ins Gesicht zu schlagen oder mich abzuwenden. Obwohl ich bereits meine Hände zu Fäusten ballte, drehte ich mich um und stieg über die gut zwanzig Zentimeter breiten Risse hinweg ins Zentrum der Verwüstung, was dank der Kraft, die Asami auf mich übertragen hatte, erstaunlich rasch vonstattenging. Vermutlich hätte ich sie nicht einmal gebraucht, denn ich war ungeheuer aufgebracht, und allein das schenkte mir jede Menge Energie. Die brauchte ich auch, denn nun erklang der Ruf des Schwertes aus der Tiefe eines gewaltigen Spalts, der mit Schutt gefüllt war. Geradezu dankbar für diese Aufgabe, begann ich, Geröll beiseitezuräumen, wobei ich auf die Scherben aufpassen musste, die überall hervorstachen.
Soll ich dir helfen?, fragte Asami auf mentalem Weg, obwohl er nur einige Schritte hinter mir stehen musste, so deutlich, wie ich seine Aura spürte.
Ich muss ihn loswerden, sagte ich mir, während ich umso verbissener arbeitete.
Samuel, ich habe dich beleidigt und es tut mir unendlich leid, aber ich kann es nicht rückgängig machen. Der Ring steckt fest. Es sei denn …
Als ich herumfuhr, hielt Asami sein Wakizashi bereits in der Hand. Die Spitze des Kurzschwerts mochte abgebrochen sein, aber scharf war es nichtsdestotrotz. Mit einem Satz stand ich vor ihm und riss es an mich.
»Was soll der Unsinn? Ich werde ganz bestimmt nicht zulassen, dass sich erneut jemand auf diese verfluchte Weise von dem Ring trennt. Dieser kleine Verräter lässt sich von dir tragen, weiß der Teufel warum. Aber so ist es eben, und nur weil mir das nicht schmeckt, wirst du dich nicht selbst verstümmeln. Hast du das verstanden? Ob du das verstanden hast, frage ich!«
Ja, Herr.
Die Tür des Wohnwagens wurde mit einem solchen Knall aufgeschlagen, dass es unmöglich zu überhören war. Mit meinem Gebrüll hatte ich zweifelsohne den kaffeetrinkenden Wachmann auf den Plan gerufen. Während ich noch fluchte, deutete Asami auf den Spalt.
Darf ich dir jetzt helfen, Herr?
»Nur zu«, knurrte ich, dann begannen wir beide zu graben, als hinge unser Leben davon ab. Kaum bekam ich mein Katana zu fassen, waren sogar die Scherben vergessen, an denen ich mich ob der Eile geschnitten hatte. In einem weiten Bogen zog ich das Schwert heraus und beobachtete, wie die ersten Sonnenstrahlen seine Klinge in Brand setzten. Ein Phönix, der Asche entstiegen.
»He, stopp, halt! Was machen Sie da? Sie dürfen hier gar nicht sein.« Der Wachmann starrte uns mit einer Mischung aus Verwirrung und Faszination an, wobei sein Blick zwischen Asamis Schwingen und dem leuchtenden Katana hin und her pendelte. »Was machen Sie denn da?«
»Ihre Erinnerung umformen«, antwortete ich wahrheitsgemäß. »Asami, würdest du bitte?«
Die jäh weich werdenden Gesichtszüge des Wachmanns verrieten, dass er bereits dabei war.
∞∞
Mit Rufus’ geliehenem Wagen fuhr ich durch die morgendlichen Straßen von St. Martin, während Asami mit halb geschlossenen Lidern neben mir saß. Selbst in dem von mir geliehenen Karohemd, das ich zuvor über dem T-Shirt getragen hatte, sah er aus wie von einem anderen Stern. Die Allerweltsklamotten wirkten wie eine Verkleidung an ihm, sie unterstrichen seine Andersartigkeit. Nichts konnte Asami den Anstrich eines gewöhnlichen Menschen geben. Selbst wenn er seine Schwingen einzog und die Aura dämmte, war weiterhin zu spüren, dass die Verbindung zwischen ihm und der Menschenwelt schon lange durchtrennt war.
Den alten Ford hatte Asami zunächst angesehen, als wäre er die Hölle auf vier Rädern, vor allem weil man nur mit geschlossenen Schwingen in ihm sitzen konnte, aber mittlerweile nahm er die Fahrt gelassen. Dabei halfen ihm offenbar die offenen Fenster, durch die der kühle Fahrtwind wehte, und der Klassik-Radiosender, den Ranuken mit der Absicht eingestellt hatte, Rufus in den Wahnsinn zu treiben. Strawinskys »Feuervogel« gefiel Asami sogar so gut, dass ich es durch den Ring zu spüren bekam. Seit ich mein Katana wiedergefunden hatte, war ich milde gestimmt, weshalb es mich nicht weiter störte. Vielmehr sah ich in der Verbindung zu Asami auch eine Möglichkeit, Mila zurückzuholen.
Der Gedankengang, der sich dahinter verbarg, mochte wirr sein, aber nicht abwegig. Werke aus Bernstein hatten eine eigene Seele, und Milas Ring war verstummt, als sie sich mit einem Schnitt von ihm getrennt hatte. Verstummt, aber nicht gestorben. Er hatte sich Asami angedient, der mich auf seine ganz eigene Weise liebte. Wie ein Samurai eben seinen Herrn liebt – so zumindest verstand ich es. Auf jeden Fall hatte der Ring mir für meine Suche einen Vertrauten an die Seite gestellt, der nicht nur eine der mächtigsten und erfahrensten Schattenschwingen war, sondern der mir durch unsere Verbindung auch half, die körperliche Schwäche, die mich nach dem Fieber ergriffen hatte, auszugleichen. Durchaus möglich, dass der Ring plante, auf diesem Weg zu seiner eigentlichen Besitzerin zurückzukehren. So musste es sein, und deshalb fühlte sich die Verbindung zu Asami auch lediglich wie ein schwacher Abklatsch meiner Gefühle für Mila an.
Prüfend warf ich einen Seitenblick auf Asami. Tatsächlich, meine anfängliche Wut war verraucht, genau wie der Widerwille, ihn in meiner Nähe zu haben. Der Wind spielte mit seinen schwarzen Haaren, während seine Lippen sich im Takt der Musik bewegten, geradezu als könnte er ihn schmecken.
»Du bist mir echt ein Rätsel, Asami. Da verachtest du alles, was von den Menschen geschaffen wurde, aber bei Musik wirst du schwach. Du verheimlichst deine Leidenschaft ja nicht einmal. Schande über dich.«
»Musik ist nicht menschlich, sondern göttlich. Und dem Göttlichen sind wir Schattenschwingen eindeutig näher dran als die Sterblichen, deren Ehrgeiz lediglich darin besteht, solche Musik in Form zu gießen, um sie zu konsumieren. Begreifen tun sie dieses Werk wohl kaum.«
»Aha.« Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen. Asami, der Beinah-Göttliche. »Hinter der Musik, die gerade läuft, verbirgt sich übrigens eine ziemlich abgefahrene Geschichte. Ein junger Prinz … den Namen habe ich vergessen … ist auf der Suche nach seiner Prinzessin und gerät in einen verzauberten Garten, in dem er einen Feuervogel fängt. Das ist ein Fabelwesen, dessen Gefieder in den Farben des Feuers schimmert. Als Dank für die Freilassung des Vogels erhält er eine Feder. Und dieses Geschenk rettet ihm später im Kampf gegen den Zauberer, dem der Garten gehört, das Leben.« Unwillkürlich hielt ich inne. Der Ausgang der Geschichte entsprach genau dem, den ich mir auch für mich wünschte. »Der Feuervogel führt den Prinzen zu einem Ei, in dem die Seele des Zauberers gefangen ist. Der Prinz zerschlägt es und bricht damit den Bann, der über dem Garten und über seiner Prinzessin liegt.«
Da Asami daraufhin nichts erwiderte, schwiegen wir eine Weile. Dann sagte ich, obwohl ich wusste, dass mein Vergleich albern war: »Es ist ein wenig wie bei uns beiden. Du bist mein Feuervogel, ohne den ich den Kampf gegen den Zauberer nicht bestehen kann. Ich brauche deine Magie, deine Hilfe, um Mila zurückzubekommen. Wirst du mir helfen?« Eigentlich hätte ich ihn an dieser Stelle bei seinem Vornamen nennen sollen, nur brachte ich das nicht über mich. Die Spannung zwischen uns war auch so kaum noch auszuhalten.
Aus den Augenwinkeln stellte ich fest, dass Asami zum Fenster hinausblickte, und mich überkam der Verdacht, dass er mir gar nicht zugehört hatte, sondern ganz in der Musik verloren war. Aber dann wanderten seine Finger zu dem Ring an seiner Hand und er senkte den Kopf.
»Natürlich werde ich dir helfen, wo ich nur kann, Samuel. Was soll ich denn sonst tun?«
Das war nicht einfach ein freundschaftliches Angebot. Asamis Erklärung ging sehr viel tiefer. In diesem Augenblick begriff ich ihn weniger als je zuvor. Bei unseren ersten Begegnungen hätte er mich am liebsten an die Kette gelegt, später war er sogar so weit gegangen, mir seinen Willen ins Fleisch zu schneiden. Nach unserem Kampf, aus dem ich als Sieger hervorgegangen war, hatte sich alles geändert. Zuvor war er der Erste Wächter gewesen, mein erbittertster Gegner, weil er mich von der Menschenwelt fernhalten wollte. Wer er nun für mich war, konnte ich nicht sagen. Mein Lehrer, eine Art Untergebener, vielleicht ein Freund … allerdings nie auf die gleiche Weise wie Rufus oder Kastor, mit denen immer alles ganz eindeutig war. Mit Asami hingegen verband mich so vieles auf unterschiedlichen Ebenen, und trotzdem war er mir fremd und unergründlich. Ich war mir nicht einmal sicher, ob ich ihn überhaupt leiden konnte – und er mich. Nichtsdestotrotz gehörten wir zusammen, als wären unsere Schicksale miteinander verwoben. Egal in welche Richtung ich lief, ich traf stets auf ihn.
»Ivan.«
Asamis raue Stimme riss mich aus meinen Überlegungen.
»Wer ist Ivan?«
»So heißt der Prinz aus dem ›Feuervogel‹. Ein russischer Name, ein russisches Märchen. Bestimmt kannte Nikolai es … oder kennt es noch immer. Je nachdem, wen man mit dem Namen Nikolai meint.«
Irritiert brachte ich den Wagen am Seitenstreifen zum Stehen. In den letzten Minuten war ich ziellos in der Gegend umhergefahren. Die Stadt hatten wir verlassen und fuhren nun über eine einsame Umgehungsstraße zwischen Feldern und Wiesen. Auf dieser Seite war das Land um St. Martin herum so platt, als hätte jemand mit seiner Hand über ein Gewand gestrichen, das nun bei den Klippen Falten warf.
»Warum lässt du mich die Geschichte erzählen, wenn du sie ohnehin besser kennst als ich?«
»Weil ich dir gern zuhöre. Außerdem musste ich nachdenken, und das funktioniert besser, wenn du redest, anstatt deinen Gefühlen nachzuforschen.«
Was bekam der Kerl denn bitte schön über mein Innenleben mit? Skeptisch befühlte ich meinen Ring, doch dort herrschte Ruhe. Es gab quasi keine Verbindung.
»Unsere wichtigste Aufgabe ist zunächst, herauszufinden, ob Nikolais Hülle den Gang durch die Aschepforte trotz Kastors Attacke überstanden hat oder ob sie zu Asche zerfallen ist, und mit ihr das, was vom Schatten in ihr war«, sprach Asami konzentriert weiter. »Wenn Nikolai in der Sphäre ist, dann verbirgt er sich – und die, die er mit sich genommen hat – jedenfalls sehr gekonnt vor uns. Es kann lange dauern, ihn ausfindig zu machen, und Zeit haben wir nicht, falls er dein Menschenmädchen und ihre Freundin bei sich hat.«
Ich brachte keinen Ton der Zustimmung hervor. Asami hatte auf meine zweitgrößte Sorge nach der Furcht, Mila könnte tot sein, angespielt: auf die Dinge, die Nikolai ihr anzutun imstande war, während ich wie ein Blinder umherirrte und keinen Weg zu ihr fand.
»Wenn wir davon ausgehen, dass Nikolais Hülle den Wechsel überstanden hat, dann muss auch ein Überrest des Schattens weiterhin existieren«, fuhr Asami fort. »Halten wir also nach ihm Ausschau.«
»Großartige Idee. Wir halten uns einfach an den Oberbösewicht, der uns die ganze Zeit über seinen Tod vorgetäuscht hat. Nichts leichter als das.«
»Du verstehst mich falsch. Wir nehmen seine Spur dort auf, wo er eine hinterlassen hat: bei deinem Vater. Aber zuvor solltest du dich noch des Katanas bedienen, um deine Kraft zu stärken. Meine allein wird für dieses Unterfangen nicht ausreichen.«
Ohne weitere Zeit zu verschwenden, packte ich das Katana beim Griff und stieg aus dem Auto. Der Ruf der Klinge umtanzte mich, während ich quer über eine Wiese ging, auf der noch Morgentau und feine Nebelschwaden lagen. Obwohl ich seine Schritte auf dem Gras nicht hörte, wusste ich, dass Asami mir auf dem Fuß folgte.
Offenbar spürte er meine Beklemmung, denn er sagte leise: »Ich will dich nicht bedrängen, aber erst durch meine Hilfe hast du deine innere Quelle überhaupt entdeckt. Wenn ich dir bei diesem Ritual beiseitestehe, wird es schneller und kontrollierter vonstattengehen.«
Das glaubte ich ihm unbenommen, und trotzdem scheute ich die Vorstellung, Asami noch dichter an mich heranzulassen. Ich hatte die Berührung seiner Aura, die sich schützend über meine legte, bereits kennengelernt – und das hier würde weit darüber hinausgehen. Dann schluckte ich meine Bedenken hinunter. Was bedeutete es schon, sich Asami zu offenbaren, wenn ich dadurch rascher zu Mila gelangte? Richtig: nichts. Also drehte ich mich zu ihm um.
»Ich bin dir dankbar für deine Hilfe. Vor allem weil ich mir vorstellen kann, dass es auch für dich nicht leicht ist. Die Distanz zwischen uns aufzugeben, meine ich.«
Asami senkte den Blick. Es ist schwerer, als du denkst, raunte er mir zu.