37 Was bleibt, wenn alles verloren ist
Sam
Es gelang mir mit Müh und Not, Nikolais Angriff abzuwehren. Die Art, wie er auf mich losging, passte nicht zu ihm, sie war viel zu leidenschaftlich und damit unberechenbar. Eins stand jedoch fest: Er wollte nicht länger mit allen Mitteln meinen Willen brechen, jetzt ging es ihm einzig um meinen Tod. Eigentlich eine gute Ausgangssituation, war ich doch ebenfalls mit dem Vorhaben angetreten, ihn zu töten. Ich hatte es Shirin versprochen, und selbst wenn ich es nicht getan hätte, wäre es der einzige gangbare Weg, denn Nikolai würde die Sphäre und mit ihr die Menschenwelt in den Abgrund reißen. Das Glasgebilde, das er aus seiner Aura und dem Traumstaub geschaffen hatte, breitete sich unterhalb des hoch aufragenden Turms immer weiter aus wie eine Blase. Sein Ausmaß hatte bereits solche Dimensionen angenommen, dass sogar die einander bekämpfenden Schattenschwingen es mitbekommen hatten und geflohen waren. Einen solchen Ausgang ihrer Auseinandersetzung hatte vermutlich keiner von ihnen erwartet, aber ich war froh darüber. Bedeutete es doch, dass niemand mein Vorhaben durchkreuzen würde.
Auf der Suche nach Mila war ich der Präsenz der Körperlosen gefolgt, in dem Wissen, dass, wo sie waren, auch Nikolai nicht fern sein würde. Sie waren schon einmal seine willigen Helfer gewesen, als er noch der »Schatten« genannt wurde, und ich ahnte nur allzu gut, was er mit ihrer Hilfe anzurichten imstande war.
»Nennst du das etwa kämpfen, dieses ständige Abblocken meiner Attacken?« Nikolais Mund verzog sich verächtlich. »Du hältst mich hin. Solltest du nicht wenigstens versuchen, mich zu töten?«
»Nichts lieber als das.«
Alles, was ich tun musste, war, den Moment abzupassen, wenn Nikolai zu einer neuen Attacke ansetzte. Um seine Deckung scherte er sich einen Dreck, zu sehr glaubte er an seine Überlegenheit. Darin lag meine Chance. Ich musste nichts weiter tun, als ihm Shirins Klinge in den Leib zu jagen und ihn mit seiner eigenen Waffe zu Fall zu bringen. Dennoch zögerte ich, als er mir eine Schwachstelle präsentierte. Mila lehnte über der Brüstung und blickte zu uns hinüber. Eine Flut aus dunklem Haar ihre schmale Silhouette umspielte. Sie sah schrecklich verletzlich aus, als brauchte es nicht mehr viel und sie würde zerbrechen.
Ich verpasste meine Chance und wehrte stattdessen Nikolai ab, dessen Mordlust ihn mit jedem Schlag kräftiger machte.
Ein heftiger Schmerz durchfuhr meinen Körper. Das Reißen meiner Muskeln verriet, dass ich nicht mehr lange durchhalten würde. Der Ansturm von Nikolais Fäusten war zu gewaltig, immer häufiger fanden sie ihr Ziel, während das Versprechen, das ich Shirin gegeben hatte, hinter meiner Stirn dröhnte. Und trotzdem griff ich Nikolai weder an, noch wehrte ich ihn mit der nötigen Konzentration ab, da ich jede Gelegenheit nutzte, in Milas Gesicht zu lesen. War ich wirklich ein Fremder für sie, dessen Tod sie wünschte? Wenn ich Nikolai tötete, würde ich es mit hoher Wahrscheinlichkeit nie herausfinden, weil er sie mit ins Jenseits nehmen würde. Um sie zu retten, würde meine Kraft nicht ausreichen. Wofür ich mich auch entschied, es war stets falsch.
»Was ist, verdammt?«, schrie Nikolai mich an, die Wangen glühend vor Zorn. »Wenn du nicht vorhast, dich zur Wehr zu setzen, dann hör endlich auf, dich zu verteidigen, und lass es uns zu Ende bringen. Es ist gleichgültig, wie oft du in ihre Richtung starrst, sie gehört nicht mehr zu dir. Sie ist mein!«
»Du irrst dich, so wie du dich damals bei Shirin geirrt hast. Es besteht nämlich ein großer Unterschied zwischen Besitzen und Lieben, aber du würdest ihn nicht einmal dann begreifen, wenn dir alle Zeit der Welt zur Verfügung stünde. Es mag dir gelingen, mich zu töten, aber du wirst trotzdem verlieren.«
Nikolai stieß einen hasserfüllten Schrei aus, und als seine Aura gleißend aufleuchtete, fühlte es sich an, als ob sich tausend Schnitte in meine Haut grüben. In dieser Sekunde tauchte ein schwarzes Schwingenpaar auf, das auf die Spitze des Turms zuhielt.
Du solltest langsam zum Gegenschlag ansetzten, du hast bereits etwas von einem erlöschenden Stern, teilte Asami mir in seiner unnachahmlich charmanten Art mit.
Dann brach Nikolais Angriff wie eine Lawine aus Eis über mich ein. Ich hüllte mich in die Reste meiner Aura und duckte mich unter ihr hinweg. Lange würde ich jedoch nicht mehr gegen ihn bestehen können. Was auch immer Asami vorhatte, ich konnte nur darauf vertrauen, dass er das Richtige tat.
∞∞
Mila
Ich wandte gezwungenermaßen den Blick von den Kämpfenden ab, als eine Schattenschwinge neben mir landete. Schwarz und Weiß und Rot, mehr Farben existierten nicht an ihr. »Wer bist du?«, fuhr ich ihn an, was angesichts seines gezückten Schwertes vermutlich keine sonderlich gute Idee war. Aber ich empfand keine Furcht, nur nackte Verzweiflung.
»Ich bin Asami, und du solltest dankbar dafür sein, dass ich gekommen bin. Du musst möglichst weit weg von dieser Pforte, je größer der Abstand, umso besser. Nur ein Wahnsinniger wie Nikolai kommt auf die Idee, seine Pforte über ihre Grenzen hinweg auszuweiten. Wenn er zur Hölle fährt, wird sie im Moment seiner Auslöschung alles sie Umgebende mit ins Verderben reißen. Wir können von Glück sagen, dass die anderen Schattenschwingen trotz ihres Blutdursts die Gefahr erkannt haben und geflohen sind. Und genau das werden du und ich jetzt auch tun.«
»Ich werde den Turm auf keinen Fall verlassen! Falls du also etwas Nützliches tun willst, dann bring diese beiden Verrückten auseinander, bevor noch einem von ihnen ernsthaft ein Unglück zustößt.«
»Glaub mir, ich würde nur allzu gern eingreifen, aber die Ehre, Nikolai zu töten, gebührt allein Samuel. Solange du allerdings in seiner Nähe bist, ist er außerstande, seine Bestimmung zu erfüllen.«
Die Kälte, mit der Asami diese Worte aussprach, traf mich nur halb so tief wie seine Überzeugung, dass dieser Kampf im Tod enden würde. In Nikolais Tod.
»Keiner von beiden soll sterben, weder der eine noch der andere.« Meine Worte klangen seltsam leer, als meinte ich sie nicht wirklich. »Nikolai ist mein Gefährte, ich …«
Da verpasste Asami mir eine schallende Ohrfeige. Ich fasste nach der getroffenen Stelle, die wie Feuer brannte, und blinzelte die Tränen aus den Augen. Obwohl er keine Miene verzog, erkannte ich die Genugtuung in seinen schwarzen Augen, als hätte er schon lange auf eine solche Gelegenheit gewartet. Ohne zu wissen, warum, gönnte ich sie ihm.
»Du wirst Samuel jetzt wissen lassen, dass du für ihn nicht verloren bist. Hast du verstanden?«
Ich erwiderte trotzig seinen Blick. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, was du von mir willst.«
Als Asamis Hand erneut vorzuckte, hob ich den Arm. Noch einmal würde ich mich nicht von ihm schlagen lassen. Das hatte er jedoch auch gar nicht vor, sondern er griff nach der Hand, an der mir der Ringfinger fehlte. Bevor ich begriff, was geschah, ließ er seine schmalen Finger zwischen meine gleiten und presste unsere Handflächen zusammen. Sofort begann der Ring rotgolden zu glühen, und ich spürte die Gegenwart der Schattenschwinge namens Samuel mit atemberaubender Intensität, die spielend leicht Nikolais Anwesenheit in meinem Inneren überdeckte. Seine Wärme erfüllte mich und machte mich zugleich schwindlig. Es fühlte sich vollkommen anders an als das, was mich mit Nikolai verband, denn er zeigte sich mir, ohne dass ich dahinter verschwand.
Mit einem tiefen Seufzen umklammerte ich Asamis Hand, auch dann noch, als er sie mir entziehen wollte. »Nicht«, flüsterte ich. »Nimm ihn mir nicht weg.«
Schweigend gestand er mir einen weiteren Augenblick in der Wärme dieses Fremden zu, der mir auf einmal vertrauter erschien als alles, was mich mit Nikolai verband. In diesem Augenblick verwandelte ich mich. Ich war nicht mehr nur ein Ziel, das endlich getroffen werden wollte, sondern eine Person mit einem eigenen Willen, eigenen Gefühlen und Wünschen. Ich begann zu lächeln, und das Bild von dem Mädchen, das in dem am Boden liegenden Kleid verborgen lag, kam mir in den Sinn. Das also hatte sie empfunden.
Ein Schrei durchbrach meine Versunkenheit, und Asami fuhr zusammen, als habe ihn der Schlag getroffen. Dann entriss er mir seine Hand und mit ihr die Wärme, derer ich so bitterlich bedurfte.
»Tu es endlich«, zischte er in Richtung der beiden Kämpfenden.
Dann leuchtete Samuels Licht blendend hell auf.
∞∞
Sam
Während ich gegen Nikolais Ansturm anhielt, geschah etwas vollkommen Unerwartetes: Ich spürte Mila durch den Bernsteinring, als wären wir nie voneinander getrennt worden. Das Band zwischen uns war nicht zerschlagen, der Ring diente sich ihr nach wie vor an.
Auch Nikolai entging diese Verbindung nicht, wie sein Aufschrei bewies. Ich zog Shirins Klinge und suchte durch die brechende Eisschicht zwischen uns seinen Blick.
Mila gehört dir nicht, sie kann dir nicht gehören – das hast du von Anfang an gewusst. Das Band zwischen euch besteht nur, weil du alles in ihr verdrängst. Sie ist dein Abbild, aber nicht deine Gefährtin. Du bist allein, Nikolai.
Ich bin nicht allein. Ich kenne mein Ziel und werde es erreichen!
Doch egal, was er behauptete, er verspürte merklich Zweifel, und die genügten, um den Ansturm seiner Attacken zu unterbrechen.
Ich nutzte die Chance und stieß mit Shirins Klinge zu. Mühelos durchschnitt sie seine Aura, durchdrang Haut und Muskeln, bohrte sich tief in seine Körpermitte. Mit einem Ruck brach ich das noch hervorstehende Ende der Klinge ab, während diese bereits ihre Wirkung entfaltete: Am Eintritt der Wunde bildeten sich zunächst weiße Kristalle, dann verfärbte sich die Haut zu einem Tiefschwarz, das sich wie ein dunkler See ausbreitete. Weit verheerender war jedoch die Wirkung der Klinge auf Nikolais eisige Aura, die sich von den Rändern aus aufzulösen begann. Trotzdem würde die Macht der Klinge nicht ausreichen, um Nikolai zu töten. Der Pfeil unter seinem Brustmuskel begann zu bluten, war aber weiterhin unversehrt.
Nikolai lachte trotz der Schmerzen. »War das schon alles?« Er ertastete den Einschnitt um die Klinge, obwohl seine Finger allein bei der Berührung von Eis überzogen und dann schwarz wurden.
»Keine Sorge. Dieses Mal werde ich nicht darauf vertrauen, dass du verendest, sondern jeden Zweifel ausmerzen.«
Ich verpasste ihm einen Schlag in die Magengrube, und als er sich vornüberkrümmte, packte ich seine Schwinge an der Stelle, wo sie aus dem Schulterblatt spross. Obwohl die Macht der Klinge, die in Nikolai steckte, sogleich auf mich übergriff, gab ich nicht nach, sondern zerrte ihn in Richtung Turmspitze, wo Asami gerade eine entsetzte Mila von der Brüstung zurückriss und sie in seine Arme schloss, ungeachtet der Tatsache, dass sie sich mit Händen und Füßen gegen ihn wehrte.
Musstest du unbedingt so lange warten, bis sie das Ende des Kampfes sieht? Bring Mila endlich von hier fort.
Das habe ich ja vor, knurrte Asami, der gerade einen Kinnhaken wegstecken musste. Aber seit ich ihr den Ring entzogen habe, spielt sie verrückt. Offenbar hält sie sich für eine Friedenstaube, jedenfalls wollte sie zu euch fliegen und euch auseinanderbringen.
Plötzlich hielt Mila still und drehte sich mir zu. Ich stoppte meinen Flug, so gut es mir mit Nikolais Gewicht in meinen Händen gelang. In ihren Augen lag ein Ausdruck, den ich dort zuvor schon gesehen hatte, aber nie in solcher Ausprägung: Verzweiflung. Sie wusste nicht, was sie tun, denken oder fühlen sollte. Sie zerbrach in zwei Hälften, während Nikolai und ich um sie rangen.
»Kannst du ihn nicht verschonen?«, bat Mila leise. »Dann werde ich mit dir gehen.«
Ich schüttelte den Kopf. »Das kann ich leider nicht tun.«
Mila stieß weder einen Fluch aus, noch drohte sie mir oder beschimpfte mich. Stattdessen begann sie zu weinen, still und sichtlich ohne die Absicht, mich durch ihre Tränen umzustimmen. Mein Griff um Nikolais Schwinge lockerte sich. Ich wollte nur noch zu ihr, wollte sie halten und uns beide vor der ganzen Welt verbergen, doch das war unmöglich.
»Bring sie fort«, bat ich Asami.
Asami hob Mila hoch, ohne dass sie sich dagegen wehrte, und stieg mit ihr in den Himmel. Ich wartete, bis sie weit genug entfernt waren, dann schleuderte ich den allmählich zu sich kommenden Nikolai mit aller Kraft gegen die Wand des Turms, die unter seinem Aufprall zerbrach. Scherben rieselten zu Boden und in der Öffnung zeigte sich flüssiges Silber, in dem verschwommene Bilder zu sehen waren. Es waren die flüchtigen Eindrücke eines Traums, eingefangen in Nikolais Pforte. Außerdem drang eine klebrige Energie durch die Bruchstelle, die verriet, was aus den Körperlosen geworden war, deren Gegenwart vorhin einen Moment lang zu spüren gewesen war, bevor sie plötzlich verschwand. Sie hatten ihrem alten Herrn wieder einmal geholfen.
Schwerfällig richtete Nikolai sich auf und betastete eine Stelle an seinem Kopf, an der sich das Haar bereits blutig verfärbte, dann blickte er auf die Bruchstelle im Turm und auf die Scherben. Zumindest dachte ich das, bis er sich nach dem Kleid streckte, das Mila zurückgelassen hatte. Ich kam ihm zuvor und griff nach dem roten Stoff, der jetzt dort, wo sich Nikolais Finger ihm genähert hatten, silbern schimmerte, und band ihn um meine Taille.
»Das Kleid ist aus meiner Aura gewoben.« Nikolais Stimme war zwar brüchig, aber weiterhin von einem starken Willen beseelt.
»Das mag sein, aber es gehört Mila. Du wirst keinen Nutzen mehr aus ihr ziehen.«
Nikolai gab ein Schnauben von sich, dann richtete er sich auf und sprang in die Öffnung des Turms, wo ihn das Silber willkommen hieß. Ich zog das Katana und folgte ihm.
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Ein helles Mädchenlachen erklang beim Eintritt in Nikolais Pforte, der Flugwind zog an mir vorbei, und eine unschuldige Begeisterung machte sich in mir breit, als der im Silber gefangene Traum mich umspann. Doch um mich herum herrschte kein Silber, sondern endloses Blau, das lediglich von einigen weißen Tupfen durchwirkt war. Wolken und ein weiter Himmel, so weit das Auge reichte.
Ich fliege. Vollkommen frei von allen Zwängen, sämtlichen Regeln enthoben, fliege ich durch den weiten Himmel, sang unverkennbar Milas Stimme.
Ich befand mich mitten in einem Traum von Mila, in dem sie flog und sämtliche Ängste und Sorgen hinter sich gelassen hatte. Zu gern wollte ich diesen Traum zu meiner Wirklichkeit werden lassen, aber das durfte ich nicht. Ich glitt durch die fest errichtete Pforte, die Nikolai mithilfe von Mila und den Körperlosen erbaut hatte. Mila würde niemals frei sein, solange sie Bestand hatte. Es kostete mich meine gesamte Konzentration, um den Traum wie einen Vorhang beiseitezuschieben, dann sah ich Nikolai. Schwankend, als habe er keinen festen Boden unter den Füßen, tastete er sich dem anderen Ende der Pforte entgegen. Schon bald würde er sie auf der Seite der Menschenwelt öffnen. Dann würde die Pforte nach den Träumen der Menschen greifen, diese festhalten und sich ausweiten, bis nichts mehr von ihnen übrigblieb.
Um Nikolai zu folgen, musste ich einen Gang durchschreiten, einen Säulengang, den die Körperlosen bildeten, wie ich erschüttert feststellte. Offenbar hatten sie bereitwillig die Funktion eingenommen, die Nikolai eigentlich mir zugedacht hatte. Nun fungierten ihre Leiber, die nicht mehr als graue Tuscheschlieren waren, als Bindeglied, um den silbrigen Traumstaub mit dem blauen Himmel aus Milas Traum zu vereinen. Widerwillig setzte ich meinen ersten Schritt in den Gang, es war, als würde ich in zähem Sirup versinken. Schatten tanzten wirr umher, legten sich um mich und hielten mich fest. Du darfst hier nicht durch, flüsterte es von allen Seiten. Du kannst hier nicht durch.
Wir werden sehen, hielt ich dagegen, obwohl jeder Schritt zu einer größeren Qual wurde.
Zu meiner Erleichterung kam Nikolai nicht schneller voran als ich, und als er einen Blick über die Schulter warf, erkannte ich, warum: Er stand beim Durchqueren Höllenqualen aus.
»Denkst du an das letzte Mal, als du in einer Pforte stecktest, die gerade vernichtet wurde? Genau das wirst du gleich erneut erleben!«, höhnte ich, doch meine Stimme verfing sich in den schattenhaften Schlieren der Körperlosen. Immer dichter wurde ihr Treiben, immer zäher ihr Widerstand. Als ich an mir hinabblickte, sah ich nicht einmal mehr meine Füße, als würde ich mich auflösen und selbst zu einer dieser schattenhaften Kreaturen werden. »Das wird nicht passieren«, teilte ich ihnen mit und öffnete, ohne jede Schutzvorkehrung, meine innere Quelle, der ich mich zuletzt nur mit großer Vorsicht genähert hatte, aus Furcht, sie nicht beherrschen zu können. Jetzt aber ließ ich die rohe, unkontrollierte Energie aus mir herausfließen, und bevor sie mich zerriss, fand sie in den Körperlosen ein aufnahmebereites Medium. Sie waren wie die Höhlen in den Klippen, in die die Flut unaufhaltsam strömte. Ich spürte ihr entsetztes Zurückweichen, doch es war zu spät. Das gleißende Licht meiner Quelle löschte sie aus, als wären sie nichts als Schatten. Die Wände des Gangs begannen zusammenzuzurren, wie ein Seil, das man dreht, während ich atemlos dastand und die Quelle sanft verschloss, so wie Asami es mir gezeigt hatte. Traumbilder und Silberstaub begannen auseinanderzufallen, die ersten Risse der Pforte zeigten sich, und was außerhalb von ihnen lag, war mir wohlvertraut: Schwarz und Weiß, im Kampf vereint. Noch nicht, dachte ich, jetzt noch nicht, dann lief ich los, denn für meine Schwingen war kaum noch ausreichend Platz.
»Nikolai!«
Ein Beben durchfuhr seinen Rücken, von dem die Schwinge, an der ich ihn hinter mir hergezogen hatte, in einem ungewöhnlichen Winkel herunterhing. Offenbar hatte ich sie gebrochen. Langsam drehte er sich um, die Hand gegen den Schnitt in seinem Bauch gepresst. Seine einst goldfarbene Haut war mit einer Eisschicht bedeckt, wo sie noch nicht schwarz angelaufen war. Dafür hatten seine Augen ihre silberne Farbe angenommen, obwohl sie für uns Schattenschwingen in der Sphäre grau aussahen. Allerdings glänzten sie nicht mehr wie polierte Münzen, sondern waren stumpf.
»Steck dieses verfluchte Schwert weg oder hast du durch Kastors Tod gar nichts gelernt? Du kannst mich nicht in meiner eigenen Pforte richten, es wird dich umbringen.«
»Das Risiko gehe ich ein.«
Ich langte nach Nikolai, der mit voller Wucht meinen Arm wegschlug, ungeachtet der Tatsache, dass der Schmerz, den die Klinge meines Katanas dabei verursachte, ihm fast das Bewusstsein rauben musste. Er taumelte und ich packte ihn an der Schulter, bevor er zusammenbrach und in den einreißenden Rändern seiner eigenen Pforte verloren ging.
»Wenn du mich tötest, dann tötest du auch Mila. Oder vertraust du etwa auf den Ersten Wächter? Asami wird sie nicht halten in dem Sturm, in den mein Tod sie reißen wird. Er wird es nicht tun, weil er dich liebt, weil er dich für sich allein will.«
»Das ist dein großer Fehler, Nikolai: Du siehst in uns allen nur ein schwaches Abbild deiner selbst. Gerade weil Asami mich liebt, wird er Mila um jeden Preis halten. Du bist unbelehrbar, nicht wahr?«
Wie zum Beweis wanderten Nikolais Finger zu dem Pfeil, den Mila ihm eingeschnitten hatte.
Ich hob das Katana, hörte, wie es seinen Namen und damit seine Bestimmung sang, und ließ es in einem Bogen niedergehen, der Nikolais Kehle traf. Als die Klinge ins Freie trat, erlosch ihr rötlicher Schimmer unter einer Schicht aus Silber. Ihr Werk war vollbracht. Ich beobachtete, wie Nikolai seine Augenlider schloss, während sein Kopf nach hinten sank, spürte den Ruck, der durch die Pforte ging, als sie erstarrte, und wie das Silber um mich herum zu schmelzen begann.
Ich musste mich in Bewegung setzen, musste schleunigst fliehen, doch ich konnte mich nicht rühren. Es gab kein Entkommen, ich war ein Gefangener der in Vernichtung begriffenen Traumpforte. Hinter den Spiegelmauern des Turms erstreckte sich nicht länger der Himmel der Sphäre, sondern jene Welt, die sich uns Schattenschwingen in den Träumen offenbarte: Schwarz und Weiß, im Kampf vereint. Sie griff mit aller Macht nach mir, schob die Pforte beiseite, streckte ihre Hand nach mir aus, um mich zu zerdrücken, als ertrage sie das Grau meiner Schwingen nicht, und wollte es in Schwarz oder Weiß verwandeln. Doch es gelang ihr nicht, mich zu erreichen. Eine andere Macht war unendlich stärker.
Ich fliege. Vollkommen frei von allen Zwängen, sämtlichen Regeln enthoben, fliege ich durch den weiten Himmel, ertönte erneut Milas Stimme und sprach damit eine Einladung aus, die ich nur zu gern annahm.
Ohne zu zögern, verdrängte ich das Inferno um mich herum aus meinen Gedanken und gab Milas Traum vom Fliegen damit die Möglichkeit, mich wie einen schützenden Mantel zu umhüllen. Nikolai hatte ihren Traum in seine Aura gewebt und ihn damit wirklich gemacht. Solange Mila lebte, würden auch ihr Traum und ich in ihm leben. Ihr Lachen übertönte das Dröhnen, mit dem die Pforte zusammenbrach, und obwohl diese implodierte wie eine ausgebrannte Sonne, breitete ich meine Schwingen aus und stieg ins Blau des Himmels, das Mila die Freiheit versprochen hatte. Die Pforte mochte zusammenbrechen, aber ich vertraute mich dem Traum an, auf dem sie aufbaute. Ich vertraute darauf, dass von Mila Geschaffenes mich schützen würde.