16 Durch die Hölle
Sam
Ich fuhr hoch, als hätte jemand eine Bombe unter mir gezündet. Oder vielmehr an meiner linken Hand, die auf einmal heftig pulsierte. Mit einem Satz war ich auf den Beinen und griff nach dem Katana, das neben mir auf meinem Lager am Boden lag.
»Wo willst du hin?«
Kastor, der beim Fenster stand, sah mich prüfend an. Obwohl er mindestens genauso erschöpft gewesen war wie ich, hatte er diesen Wachtposten eingenommen. Wobei ich mir nicht sicher war, worüber er eigentlich wachte: über die nächtliche Dünenwelt dort draußen, über die friedlich schlafende Shirin oder über mich, für den Fall, dass ich mich zu guter Letzt doch noch in eine lebende Fackel verwandelte.
»Etwas ist geschehen«, flüsterte ich, um Shirin nicht zu wecken. »Mila hat sich dermaßen erschreckt, dass ihre Angst mich aus dem Schlaf gerissen hat.«
»Und wie geht es ihr jetzt?«
Ich schluckte schwer. Die Antwort blieb mir im Hals stecken. Kastor verstand auch so, dass ich lediglich ihr Herzrasen wahrnahm. Darüber hinaus war sie von mir abgetrennt, als hätte sich eine Mauer zwischen uns geschoben. Sie war runter von meinem Radar. Vorhin noch hatte ich ihre Anwesenheit über den Ring gespürt, hatte gemerkt, mit welch gemischten Gefühlen sie auf diese Party gegangen war, von der wir über Ranuken erfahren hatten. Jetzt konnte ich nicht einmal sagen, wo sie sich gerade aufhielt. Jähe Angst stieg in mir auf.
Wie ein gewöhnlicher Mensch wählte ich ihre Handynummer, doch sie ging nicht dran.
»Ranuken ist bei ihr«, erinnerte mich Kastor.
»Richtig.« Hastig suchte ich die geistige Verbindung zu ihm. »Ich kann ihn nicht erreichen. Ich stoße gegen einen Grenzwall, aber das ist unmöglich. Ranuken ist eigentlich nicht in der Lage, sich vor mir zu verschließen. Was zur Hölle ist bloß los?«
Kastor streifte sein Hemd ab. »Kennst du den Ort, an dem diese Feier stattfindet, die sie besuchen wollten?«
»Ein Stück abseits vom Hafen, in einer Lagerhalle, an der gerade gebaut wird. Hör zu, ich flieg allein dorthin, du solltest bei Shirin bleiben. Es geht ihr zwar deutlich besser, aber sie ist nach wie vor auf Hilfe angewiesen.«
»Denkst du, es ist etwas so Schlimmes vorgefallen, dass für dich die Gefahr besteht, nicht wiederzukehren?«
Ich nickte nur, unfähig, etwas zu sagen.
»Dann werde ich dich auf keinen Fall allein dort hinlassen.«
Geschmeidig kletterte Kastor durch das geöffnete Fenster, breitete seine Schwingen aus und stieg in den Nachthimmel.
Ich warf noch einen Blick auf Shirin, deren Gesichtszüge im Schlaf gelöst wirkten. Dann folgte ich Kastor.
∞∞
Der Flug zu der Halle dauerte höchstens zwei, drei Minuten, doch mir erschienen sie wie eine Ewigkeit. Gleichgültig zu welcher Leistung ich meine Schwingen antrieb, mir kam es vor, als steckte ich in einem dieser Albträume fest, bei denen man nicht von der Stelle kommt. Ich achtete nicht einmal darauf, ob mich jemand sah.
Selbst wenn ich nicht gewusst hätte, wo genau die Lagerhalle stand, hätte ich sie aus der Vogelperspektive problemlos gefunden: Die Rauchwolke, die aus den zersprungenen Glasplatten auf dem Dach entwich, war bereits mehrere Meter in die Höhe gestiegen. Flammen züngelten gierig und gegen jede Vernunft an den nackten Stahlträgern empor, drangen aus Ausgängen und Fenstern, aus denen sich Menschen ins Freie retteten. Der Widerhall der ausgebrochenen Panik traf mich so hart, dass ich ins Trudeln geriet.
Ich bekam die Gefühle jedes einzelnen mit, der vor den Flammen nach draußen flüchtete. Doch die eine Stimme, auf die ich hoffte, erklang nicht. War Mila etwa noch in dieser Flammenhölle?
Mit Müh und Not gelang es mir, auf einem der Querbalken des Dachs zu landen, ohne den aufsteigenden Flammen zu nah zu kommen. Bevor ich nach einer Stelle zum Einstieg suchte, musste ich mich innerlich fassen und das Chaos um mich herum abschalten. Sonst hatte ich keine Chance, Mila zu finden.
Kastor landete neben mir und berührte mich an der Schulter.
Bemerkst du die Anwesenheit einer gewissen Aura auch?
Als hätte Kastor mit seinen Worten einen Schleier von meinen Augen gezogen, nahm ich erstmals etwas anderes als die Ängste der Menschen wahr. Eine fremde Schattenschwinge ist hier, stellte ich verblüfft fest. Sie schirmt alles ab, sogar Mila und den Bernsteinring. Aber wer kann das bloß sein? Wer von uns ist zu so etwas fähig?
Ich kenne diese Aura, auch wenn sie irgendwie entfremdet erscheint. Kastors leuchtend rote Augen bohrten sich durch den Rauch. Es ist deine eigene, Samuel.
Unmöglich.
Doch noch während ich das Wort aussprach, begriff ich, dass es keineswegs unmöglich war. Ich hatte einen Großteil meiner Aura in die Klinge gegossen, mit der ich Nikolai gerichtet hatte. Gerichtet ja, aber offenbar nicht getötet. Stattdessen hatte er einen Weg gefunden, meine Kraft in seine eigene umzuwandeln.
»Nikolai ist hier«, schrie ich und zog instinktiv das Katana, ohne darauf zu achten, ob mich jemand auf dem Rand des Daches stehen sah. Ich war erfüllt von Zorn und Hass.
»Du redest wirres Zeug.« Kastor hob beschwichtigend die Hände. »Jetzt steck erst einmal das Schwert zurück in die Scheide, die Menschen dort unten sind bereits erschrocken genug.«
Ich tat, wie er sagte, damit er mir zuhörte. »Glaub mir, es ist Nikolai oder der verfluchte Schatten, wenn dir das lieber ist. Er ist nicht tot, ganz im Gegenteil, er hat meinen Sieg in seinen eigenen umgewandelt. Deshalb erkennst du meine Aura wieder, weil er einen Weg gefunden hat, sie sich einzuverleiben. Zur Hölle, dieses ganze Inferno ist sein Werk!«
Kastor schüttelte verwirrt den Kopf, aber nur für einen Moment, dann wich sämtliche Farbe aus seinem Gesicht. Mir erging es nicht besser. Während ich wochenlang meine wahre Natur verleugnet hatte, hatte der Totgeglaubte sich in der Sphäre nicht bloß erholt, sondern zu einem überlegenen Gegner aufgeschwungen. Und was am Schlimmsten war: Er hatte Mila erneut in seine Gewalt gebracht!
Ich verschwendete keinen Gedanken mehr an die Flammen, sondern hielt auf die erstbeste Öffnung zu, die das Feuer ins Dach gesprengt hatte. Ich wollte schon Hals über Kopf hineinspringen, doch Kastor hielt mich zurück. Ich stieß ihn beiseite, aber so leicht war ihm nicht beizukommen.
Warte! Er ist dort unten mit Mila, und er weiß, dass du kommst. Allerdings wirst du nicht einmal in seine Nähe gelangen, weil du zuvor verbrennst. Dieses Feuer ist sein Werk. Sicher benutzt er die Macht von Nikolais Aschepforte, um sich selbst vor den Flammen zu schützen. Nikolai gehörte zu mir, er war wie ich mit dem Feuer verbunden.
Mühsam zwang ich mich dazu, meine Verzweiflung nicht herauszubrüllen, sondern mich zu besinnen, auch wenn mir die Schreie und das Weinen der Flüchtenden es erschwerten. Wer wusste, ob Mila genau in diesem Moment nicht auch schrie und weinte?
Plötzlich kämpfte sich eine schwarze Gestalt aus einem der geborstenen Fenster, ungeachtet des von Scherben gespickten Rahmens. Ihre Schwingen waren pechschwarz und versengt. Ich zerrte sie ins Freie, bevor sie sich aus eigener Kraft emporstemmte, und packte sie fest am Shirt.
»Dämlicher Idiot … keine Luft!«
Die Stimme war nicht mehr als ein heiseres Krächzen, aber ich erkannte sie trotzdem. Ich trat zurück und blickte in Ranukens von Ruß geschwärztes Gesicht. Seine Augen leuchteten mindestens genauso rot wie die von Kastor, nur dass es nicht die Iris war, sondern das, was sonst weiß war. Nach Luft ringend lag er auf dem Rücken, während seine Aura wieder aufflackerte. Allerdings nur als schwacher Abglanz.
Ich verschwendete keine Zeit mit Fragen, sondern drang direkt in Ranukens Erinnerung ein.
»Bumm-bumm-bumm. So wahnsinnig gut, so … Oh, Mann, davon kann ich gar nicht genug bekommen. Dieser Rhythmus … ich bin ein wilder Tänzer, ich bin ein Gott, ich bin … Wo steckt eigentlich Mila? Eben war sie doch noch … meine Füße bewegen sich von selbst. Irre. Nicht irre, sondern magisch. Die reinste Zaubermusik ist das, da kann man nicht stillhalten. Immer weiter, immer mehr, immer wei… Moment. Da hat eben was meinen Nacken gestreift.
Feuer. Es brennt!
Aber was brennt denn, wo kommen die Flammen her? Sie züngeln über die Wände, greifen nach der Luft, bringen die Fenster zum Bersten. Wir müssen hier raus, sofort. Wo sind die Mädchen? Ich muss sie finden, doch vor lauter Rauch sehe ich kaum die Hand vor Augen, ich werde abgedrängt, kann mich kaum bewegen, treibe gegen meinen Willen in Richtung Ausgang, kämpfe mich zurück, schreie, bis meine Stimme versagt. Da, die Halle! Ein Meer aus Flammen, Rauch und sich windenden Leibern. Aber da ist noch etwas anderes … eine Feuerwand, hinter der sich Schatten abzeichnen. Und da ist Lena. Lena steht davor. Nein, nicht! Sie springt durch das Feuer. Ich klettere am Rücken eines großen Kerls hoch, ohne auf seinen Protestschrei zu achten, bis meine Schwingen ausreichend Platz haben. Ich muss zu dieser Feuerwand – oder noch besser: über sie hinweg. Doch kaum nähere ich mich ihr, beginnt meine Haut zu brennen und meine Schwingen fangen Feuer. Ihre Spitzen rieseln zu Asche verkohlt hinab. In letzter Sekunde gelingt es mir, mich am Gebälk festzuhalten und mich ins Freie zu ziehen. Und da ist Sam. Mann, nie war ich so froh, unseren Superhelden zu sehen.«
Ein schwerer Hustenanfall schüttelte Ranuken, und ich richtete ihn auf, damit er besser zu Atem kam. Sein glühender Leib verriet, dass sich unter der Rußschicht, die seinen ganzen Körper bedeckte, unzählige Brandblasen verbargen. Es war ein Wunder, dass er mit dem Leben davongekommen war. Während Ranukens Kopf vor Erschöpfung zur Seite fiel, sendete ich seine Erinnerung an Kastor. Diese Feuerwand … sie ist Teil der Pforte, die Nikolai errichtet hat. Sie verbrennt sogar die Luft zu Asche. Die Erkenntnis fühlte sich an wie ein Stromschlag an meiner Schläfe.
Das ist nicht Nikolais Pforte, denn Nikolai ist tot, korrigierte mich Kastor. Ich werde diesen verdammten Dieb umbringen. Nicht nur, dass er Nikolai auf dem Gewissen hat, jetzt missbraucht er auch noch seine Hülle und seine Pforte.
In Kastors Gedankenstimme schwang ein derartiger Hass mit, dass ich sogar für einen Moment meine Sorge um Mila vergaß.
Kannst du den Flammen standhalten und mich durch die Feuerwand bringen? Ich will nämlich nur ungern als Grillhähnchen enden, fragte ich Kastor, während ich den fast bewusstlosen Ranuken von den Bruchstellen im Dach wegzog, aus denen immer weitere Rauchwolken stiegen.
Das tue ich nur, wenn du ihn mir überlässt. Ich habe noch eine Rechnung mit ihm zu begleichen.
Diese Reaktion war vorherzusehen gewesen. Siehst du, was er hier angerichtet hat? Ich glaube kaum, dass wir ihm heute Nacht in unserem geschwächten Zustand gewachsen sind. Wir können von Glück reden, wenn wir Mila und Lena heil herausholen, für mehr wird es nicht reichen.
Meine Befürchtung, dass wir von dort unten nicht mehr wegkommen würden, verschwieg ich lieber. Nikolai – oder wie auch immer er sich jetzt nennen mochte – würde die Chance, uns hier krepieren zu lassen, wohl kaum vergeben.
Kastors innere Stimme hatte mittlerweile ihre bestens vertraute Strenge. Du hast mich schon einmal um meine Rache gebracht. Dieses Mal wirst du mich nicht davon abhalten, meine Pflicht zu tun.
Als das Wort »Pflicht« fiel, wusste ich, dass ich auf verlorenem Boden stand. Es gab zwei Dinge, auf die man bei Kastor bauen konnte: auf sein Pflichtgefühl und seine Sturheit. Er würde Nikolai ohne Rücksicht auf Verluste angreifen. Und Nikolai? Der würde ihn genüsslich abschlachten.
Ich beugte mich über Ranuken, der langsam wieder zu sich kam. »Hör zu«, flüsterte ich. »Wenn ich dich über das Dachsims stoße, könntest du dich im Zweifelsfall trotz deiner beschädigten Schwingen noch rechtzeitig fangen, bevor du auf den Boden schlägst? Unser Grieche will sich nämlich gerade aus lauter Verbohrtheit umbringen lassen. Du musst ihn so lange, wie es geht, ablenken, damit ich die Sache in die Hand nehmen kann.«
Ranuken hustete etwas, das wie »Ich pack das schon« klang.
Ich schaute über meine Schulter zu Kastor. »Wir machen es wie das letzte Mal: Du kümmerst dich um die Kranken. Ranuken muss von diesem Dach runtergebracht werden. Und zwar sofort.«
Statt Kastors Antwort abzuwarten, schob ich Ranuken über die Dachkante. Dann wartete ich noch kurz ab, bis Kastor ihm fluchend hinterherjagte, um ihn rechtzeitig einzufangen. Ja, auf unseren griechischen Freund war Verlass.
Ich zog meine Schwingen ein und lief über die Stahlkonstruktion, um an der Stelle in die Halle zu springen, wo die Flammen am stärksten emporloderten. Dort musste ich durch, egal was mir das Feuer antat. Ich hielt die Luft an, presste meinen Unterarm vors Gesicht und sprang. Kaum hatte ich den Stahlträger hinter mir gelassen, griff auch schon die Gluthitze nach mir. Sie versengte mich nicht, sondern glitt über mich hinweg und gewährte mir Einlass in dieses Flammenreich. Kurz vor dem Aufschlag öffnete ich die Schwingen, doch sie federten den Aufprall kaum ab. Schmerz jagte durch meine Gelenke und ich fiel auf alle viere. Ein Keuchen unterdrückend, richtete ich mich auf, um mitten in der Bewegung zu erstarren.
Nur einige Schritte von mir entfernt stand Nikolai, so engelsgleich wie eh und je, makellos bis auf die Stelle unter der Brust, wo Mila ihn gezeichnet hatte. Der eingeritzte Pfeil leuchtete wie eine frisch geschlagene Wunde, und aus ihr floss ein goldener Lichtstrom, der seine eigentlich längst erloschene Aura zum Strahlen brachte. Dabei veränderte sie unentwegt ihr Aussehen: ein Eiskranz, der jedoch von Schatten durchzogen und gesäumt wurde von einem Licht, das mir überaus vertraut war, weil es eigentlich zu meiner Aura gehörte. Eine zutiefst unheilige Mischung.
Mehr als Nikolais beunruhigende Erscheinung verstörte mich jedoch Mila, die mit gebeugtem Rücken vor Nikolai stand, während seine Hand auf ihrem Nacken lag. Ihr Gesicht war kreidebleich, denn genau wie ich wusste sie nur allzu gut, dass diese Hand ihr innerhalb einer Sekunde das Genick zu brechen imstande war. Von Lena hingegen war keine Spur zu entdecken.
»Ich bin überrascht, wie lange du gebraucht hast, um zu uns zu stoßen«, sagte Nikolai mit lauter Stimme, um den Lärm des Feuers zu übertönen. Seine fast weißen Schwingen waren weit geöffnet und ein rotes Glimmen schimmerte auf ihnen, als bluteten sie. »Andererseits ist das in deinem Zustand wohl auch kein Wunder. Ich sollte vermutlich froh sein, dass deine Schwingen dich überhaupt zu mir getragen haben. Wie auch immer: Bist du bereit, Samuel?«
»Das bin ich.«
Dabei war es vollkommen egal, was Nikolai mit seiner Frage meinte. Ich war dazu bereit, alles zu tun, was er verlangte, wenn er bloß seine Hand von Milas Nacken nahm.