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39 Vergissmeinnicht

Sam

Es war ein typischer Herbsttag, nass und windig. Das aufgewühlte Meer rollte gegen den Stein. An solchen Tagen war es grau bis schwarz, ganz anders als meine Augenfarbe. Der Horizont lag im Dunst. Schritt für Schritt ging ich den imaginären Umriss der Ruine ab, die sich in der Sphäre auf der Klippe befand. Dort herrschte heute vermutlich aufgeregtes Treiben, während es hier, in der Menschenwelt, ein verlassener Ort war, an den sich niemand verirrte. Von mir einmal abgesehen, denn ich war froh, mit meinen Gedanken allein zu sein.

In dem Augenblick, in dem die Traumpforte zerstört worden war, hatte ein Impuls dafür gesorgt, dass überall auf der Welt Menschen aus dem gleichen Traum hochschreckten, in dem sich ihnen eine Welt offenbart hatte, die der ihren in vielerlei Hinsicht glich, doch gänzlich ohne Farbe und ursprünglicher war. Es war eine Welt, in der Wesen mit Schwingen durch den Himmel flogen, die weder engelsweiß noch schwarz wie die Hölle waren. Es würde eine Zeit lang dauern, bis auch der letzte Träumer die Erkenntnis verdaut hatte, dass es zwischen Himmel und Erde nicht nur mehr gab, als er bislang angenommen hatte, sondern dass außerdem Pforten entstanden, die die beiden Welten miteinander verbanden.

Unter den Schattenschwingen hatte sich eine Mehrheit dazu durchgerungen, die Möglichkeit wahrzunehmen, sich der Menschenwelt zum ersten Mal seit dem Krieg gegen den Schatten zu öffnen. Dieses Mal allerdings umsichtig, darauf bedacht, keine Panik auszulösen und zugleich auch verstärkt die eigenen Fähigkeiten zu erforschen, bevor man sie einsetzte. Die Welten der Menschen und der Schattenschwingen würden sich annähern, so viel stand fest. Ob sie erneut zusammenwachsen und genug Brücken schlagen würden, bis es die Grenze aus Schwarz und Weiß nicht mehr gab, stand auf einem anderen Blatt, aber das schien mir ohnehin nicht sonderlich wichtig.

Seit ich der Traumpforte durch den von Mila erträumten Himmel entkommen war, fragte ich mich unentwegt, was eigentlich wirklich wichtig war. Ich hatte einen Weg in die Freiheit gefunden, indem ich mich auf Milas Traumflug eingelassen hatte. Ausgebrannt und wund am ganzen Leib war ich dem Inferno entkommen, was angesichts der Gefahr, der ich ausgesetzt gewesen war, ein Klacks war. Dann hatte ich am Strand Mila und Asami gefunden. Mila war vollkommen weggetreten, die Augen leer, sodass ich mich gezwungen sah, in ihr Inneres einzudringen, um festzustellen, ob mehr als ihre Hülle übrig geblieben war. Erst als ich im Dunkel das rötliche Schimmern ihres Wesenskerns erblickte, erlaubte ich mir auszuatmen. Sie würde sich erholen, eines Tages.

Seitdem wartete ich. Es machte mir nichts aus, dass die Stunden verstrichen, ohne dass ich eine Nachricht von ihr erhielt. Niemand konnte sich umgehend von einer solchen Erfahrung erholen, vor allem wenn die einzigen Erinnerungen in denen an Nikolai bestanden. Ich akzeptierte, dass sie nicht mehr wusste, wer ich war, sich möglicherweise niemals wieder daran erinnern würde, was zwischen uns beiden gewesen war. Sie lebte, das reichte mir. Ich erschrak selbst darüber, wie leicht es mir fiel, sie gehen zu lassen, obwohl sich nichts an meinen Gefühlen zu ihr geändert hatte. Aber wie sollte ich ihr gegenübertreten, wenn das Einzige, was sie mit mir verband, Nikolais Tod war? Solange sich daran nichts änderte, würde ich warten.

∞∞

»Man sollte eigentlich meinen, dass Krieger nicht mit solch einem guten Schlaf gesegnet sind.«

Ich fuhr aus dem Schwarz und Weiß meiner Träume auf und drehte mich auf die Seite. Prompt durchfuhr mich ein stechender Schmerz, als sich die Tsuba des zerstörten Katanas in meine Seite bohrte. Mehr als der Griff war mir von dem Schwert nicht geblieben, doch das störte mich nicht. Das Katana hatte seine Aufgabe erfüllt, genau wie ich. Dennoch behielt ich es immer bei mir. Langsam richtete ich mich auf dem Ellbogen auf und blickte in das Lagerfeuer, das zwei Armlängen entfernt von mir brannte. Als ich eingeschlafen war, hatte da noch nichts gebrannt. Als ich eingeschlafen war, war ich darüber hinaus allein gewesen.

»Ich bin kein Krieger«, erklärte ich.

»Wer oder was bist du dann?«

Mila beugte sich ein Stück vor, sodass der Feuerschein auf ihrem Gesicht zu tanzen begann. Ich versuchte in ihr zu lesen, doch sie sperrte mich aus, als wäre diese Kunst eine leichte Übung für sie. Es hatte ganz den Anschein, als hätte Nikolais absolute Macht über sie bereits nach kurzer Zeit zu bröckeln begonnen. Wider Willen musste ich lächeln.

»Wer ich bin, willst du wissen? Derjenige, der auf dich gewartet hat.«

»Ausgerechnet am Ende der Welt.« Mila schnaufte abfällig durch die Nase. »Es ist nicht gerade ein Kinderspiel, einen Weg über die Klippen zu finden. Vor allem nicht, wenn einen die Dunkelheit auf halbem Weg überrascht.«

Sie deutete auf ihre Jeans, die am Knie zerrissen war. Dann sah sie mich herausfordernd an, aber ich hielt wohlweislich den Mund. Ich war offensichtlich im Vorteil, denn ich wusste, wie sich eine wütende Mila aufführte, während sie sich erst an ihre eigenen Reaktionen herantasten musste. Wenn in diesem Moment nicht alles auf dem Spiel gestanden hätte, wäre ich glatt in Versuchung gekommen, sie noch ein wenig mehr zu ärgern.

»Ich bin bei dem heruntergekommenen Wohnwagen bei der Surfschule gewesen, in dem du für gewöhnlich haust, wie Rufus – der Junge, der nach eigener Aussage mein Bruder ist – mir erzählt hat«, trat sie nach. »Als du dort nicht warst, hat er mich zu einer Sternwarte gebracht, in der eine sommersprossige Schattenschwinge mich mit ihren Küssen und Umarmungen fast umgebracht hätte. Ich kann es nach wie vor nicht glauben, dass mein – O-Ton – ›herzallerliebster und absolut superbester Busenfreund‹ den Namen Ranuken trägt und das lebenslange Recht besitzt, jederzeit meinen Süßigkeitenvorrat zu plündern und sämtliche meiner Mangas zu lesen. Vor allem da ich keine Ahnung habe, wo die besonders interessanten Exemplare versteckt sind, obwohl er mich ungefähr tausend Mal danach gefragt hat.«

Nun musste ich doch grinsen und sofort verengte sie die Augen zu Schlitzen.

»Das findest du komisch, ja? Aber ich sag dir mal was: Das ist nicht komisch, sondern erschütternd.«

»Nimmst du Ranuken denn ab, dass er dein Busenfreund ist?«

Widerwillig nickte Mila. »Irgendwie schon, obwohl es wirklich ein Ding ist. Ich meine, der Kerl trägt knallenge rote Lederhosen und sonst nichts.«

»Rote Lederhosen, seit wann denn das?«

Mila musterte mich mit einem Blick, der wohl bedeuten sollte: Du weißt ja noch weniger als ich. Womit sie in so mancher Hinsicht recht hatte.

»Die waren ein Geschenk. Von einer Lena, die lang und breit über meine Haare geredet hat. Ich glaube, es hat sie sehr aufgebracht, mich zu sehen. Vor allem weil sie mir kein wenig vertraut erschien. Das hat sie irgendwie aus der Spur geworfen. Rufus meinte, es würde ihr sehr schwerfallen zu akzeptieren, dass ich mich nicht daran erinnern kann, wer ich früher gewesen bin. Sie fühlt sich deshalb als Versagerin, als würde sie dafür die Verantwortung tragen. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn ich ihr nicht noch einmal unter die Augen trete. Sie war so verletzt …«

Mühsam kämpfte ich gegen das Verlangen an, die Arme nach Mila auszustrecken, um sie zu trösten. Damit liefe ich jedoch Gefahr, sie zu erschrecken, oder viel schlimmer noch, sie könnte sich in die Ecke gedrängt fühlen, obwohl ich ihr doch den nötigen Raum überlassen wollte, um eigene Entscheidungen zu treffen. Sie suchte meinen Blick. Ein leichtes Zittern ging durch ihre viel zu schmal gewordenen Schultern, und bevor ich mich versah, hockte ich vor ihr, so nah, dass ich den vertrauten Duft ihrer Haut einatmete.

»Lena wird darüber hinwegkommen«, versicherte ich ihr.

»Glaubst du?«

»Ich weiß es.«

»Und du, wirst du über alles hinwegkommen, was geschehen ist?«

Diese Frage war schon wesentlich schwerer zu beantworten. Wenn ich zurückblickte, sah ich Kastors zu Staub zerfallende Gestalt und Shirin, die einzig und allein aus Licht bestand. Ich sah, wie Gyulas Leichnam ins Meer stürzte, das blanke Gesicht meines Vaters, der keine einzige Erinnerung mehr an mich besaß, und Nikolais erlöschende Augen, als ich seinem Leben mit der Bernsteinklinge des Katanas ein Ende setzte. »Ich werde mit dem, was geschehen ist, leben müssen«, antwortete ich wahrheitsgemäß, weiter konnte ich nicht gehen.

»Was ist wohl schlimmer: sich nicht erinnern zu können oder alles zu genau zu wissen?«

»Du wirst dich wieder erinnern können, Mila. Vielleicht nicht an alles und vielleicht wird es auch noch lange dauern, aber deine Vergangenheit liegt in dir. Nikolai hat sie nicht ausgelöscht.«

»Und wenn es erst am Ende meines Lebens so weit ist, dass ich mich an dich erinnere, daran, was ich für dich empfunden habe?« Damit sprach sie die größte meiner Ängste aus.

»Dann wird das eben so sein.«

In Milas Blick schlich sich diese gewisse konzentrierte Aufmerksamkeit, die immer dann auftrat, wenn sie etwas auf ihre ganz besondere Art betrachtete. Dann beugte sie sich vor und für einige wertvolle Sekunden spürte ich ihre Nasenspitze und ihren Atem an meiner Halsbeuge.

»Dafür gibt es wirklich weder einen Namen noch einen passenden Vergleich«, stellte sie mit großer Ernsthaftigkeit fest.

Mir wurde leicht schwindlig. »Wofür?«

»Für den Geruch, den deine Haut verströmt. Darüber habe ich mir von Anfang an den Kopf zerbrochen, musst du wissen. Ich weiß nur, wie du riechst: fantastisch, umwerfend, sinne-benebelnd, unvergleichlich. Oh, du wirst verlegen. Magst du keine Komplimente?«

»Normalerweise würde ich sagen: Das weiß du ganz genau.«

»Echt? Daran kann ich mich wirklich nicht erinnern.« Mila lächelte. »Und wie reagierst du in der Regel, wenn ich immer weiter darüber rede, dass du nicht nur großartig riechst, sondern dass ich auch deinen 3-Tage-Bart mag und dass du sogar mit diesem scheußlichen schwarzen Geschmiere auf der Brust kein bisschen abstoßend wirkst, sondern vielmehr …«

»Unter diesen Umständen würde ich dich normalerweise mit einem Kuss ablenken«, unterbrach ich ihren Redefluss.

»Ach, ja?« Ihr Lächeln wurde breiter, direkt einladend.

Ich nahm mir vor, ein Gentleman zu sein und mich keinen Zentimeter zu bewegen. Ich hielt ungefähr fünf Sekunden lang durch, dann beugte ich mich vor und fand ihre leicht geöffneten Lippen. Zuerst berührte ich sie ganz behutsam, aber als ich Milas Seufzen hörte, legte ich meine Hand um ihren Nacken und ließ unsere Lippen miteinander verschmelzen. Sie schmeckte so vertraut, dass ich sämtliche Vorsätze über Bord warf und den Kuss vertiefte. Als ich mich wieder von ihr löste, hielt sie noch einen Augenblick die Augen geschlossen, sichtlich atemlos, dann öffnete sie langsam die Lider.

»Ich brauche die Erinnerung nicht, um zu wissen, dass ich von diesen Küssen niemals genug bekommen werde.«

Daraufhin erwiderte sie den Kuss mit einer Leidenschaft, die keinen Raum für Fragen oder gar Vorsicht ließ. In diesem Augenblick begriff ich, dass es ein Band zwischen uns gab, das in verschiedenen Welten Bestand hatte und weder in Bernstein festgehalten werden musste, noch durch jemand anderen zerstört werden konnte. Wie zwei zusammengehörige Hälften fanden wir uns stets aufs Neue, um uns zu verbinden und zugleich nebeneinander zu bestehen.

Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
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