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8 Sternwarte

Mila

Der alte Leuchtturm am äußersten Zipfel von St. Martins Küstenlinie hatte vor ein paar Jahre als Ausflugsziel ausgedient, nachdem die morsche Wendeltreppe eingebrochen und eine eine Gruppe Drittklässler eine Etage tiefer gestürzt war. Gott sei Dank waren sie ohne größere Blessuren davongekommen, aber dieses Ereignis hatte alle so nachhaltig beeindruckt, dass nicht einmal die wagemutigste Strandclique auf Idee kam, die Besteigung des Leuchtturms als Mutprobe auszusetzen. Nichtsdestotrotz kannte jeder Bewohner von St. Martin das verwitterte Bauwerk aus rotem Ziegelstein, denn als Landmarke war es von weither zu sehen. Jede ordentliche Radtour durch die Dünen führte an ihm vorbei und in seinem Windschatten hatte schon so manches Familienpicknick stattgefunden.

Als ich am späten Nachmittag über den gepflasterten Weg fuhr, steuerte ich allerdings nicht auf den Leuchtturm zu, sondern hielt bei einem Schlagbaum, hinter dem ein vom Sand halb verschütteter Pfad zwischen den Dünen verschwand. Das dahinter liegende Grundstück war eingezäunt, allerdings auf eine nachlässige Weise, die verriet, dass die Eigentümer die Gemarkung eher locker nahmen. Es kostete mich trotzdem einiges an Kraft, den Schlagbaum beiseitezuschieben, denn er war schon lange nicht mehr bewegt worden und hatte sich dank des oftmals stürmischen Wetters festgesetzt. Kurz spielte ich mit dem Gedanken, ihn offenstehen zu lassen, entschied mich dann aber dagegen, um nicht unnötig Spaziergänger auf den Pfad zu locken. Ich erwog sogar, meine Spuren zu verwischen, aber das war wohl etwas zu viel des Guten. Nur aus Jux und Tollerei würde niemand hier herumstromern. Warum auch? Das Schild, das früher verraten hatte, worauf man am Ende des Weges stieß, war schon vor einiger Zeit abmontiert worden.

Mit flatterndem Atem vor lauter Aufregung schwang ich mich aufs Fahrrad, ungeachtet der Steigung, die es zu bewältigen galt. Es ging mir ohnehin nicht schnell genug. Ich musste unbedingt herausfinden, ob mein Experiment funktioniert hatte oder ob ich bloß dem Trugbild meiner überdrehten Fantasie aufgesessen war. Als ich mir die Zeichnung noch einmal angesehen hatte, war in Shirins Augen nämlich beim besten Willen keine Spiegelung des Leuchtturms zu entdecken gewesen. Lediglich die Lichtreflexe, die ich mehr oder weniger aus künstlerischen Gründen eingefügt hatte. Von der Aussicht auf den Leuchtturm, die mein Vater mir bei einem Ausflug gezeigt hatte, war nicht die leiseste Spur zu entdecken gewesen.

Die Sternwarte am Ende des sandigen Pfads bestand aus einer silbrigen Kuppel, die auf einem weiß getünchten Quader stand, und hatte den Sternguckern von St. Martin so lange gute Dienste geleistet, bis in der Uni ein wesentlich moderneres Instrumentarium aufgebaut worden war. Nach dem Abtransport der wertvollen optischen Geräte war das Gebäude – im Gegensatz zum Leuchtturm – schnell in Vergessenheit geraten. Mir hatte sich jedoch nicht nur sein spezieller Charme eingebrannt, sondern auch die Aussicht von seiner umlaufenden äußeren Galerie aus, die einen fotoreifen Blick auf den Leuchtturm bot.

Nachdem ich mein Fahrrad gegen eine windschiefe Birke gelehnt hatte, fixierte ich jenen Punkt, an dem Shirin ungefähr gestanden haben musste, als sich der Leuchtturm und das dahinter liegende Meer in ihren Augen gespiegelt hatten. Dort war niemand zu entdecken, die Sternwarte lag still und verlassen da.

Für ungefähr fünf weitere Sekunden.

Dann durchschnitt Ranukens Stimme die Geräuschkulisse aus Wind und Möwengeschrei.

»Jetzt reicht’s aber mit der Abwarterei, Mila ist schließlich kein Feind, der sich heimtückisch ranpirscht, sondern unser offizieller Lieblingsmensch!«

Ich kam nicht einmal dazu, einen Anflug von Überraschung zu verspüren, da schoss der rote Kugelblitz auch schon mit ausgebreiteten Schwingen um die Ecke und riss mich kurzerhand in die nächste Düne.

»Ranuken, du Triebtäter, runter von mir!«

Weder mein Gestrampel noch mein Gebrülle beeindruckten ihn so weit, dass er von mir abließ. Stattdessen lag er der Länge nach auf mir drauf und schubbelte mir durchs Haar.

»So eine Wiedersehensfreude, was? Die süße Mila, noch ganz die Alte. Nun freu dich doch auch mal.«

»Freuen? Wie denn, wo du mich fast erstickst? Mann, geh endlich runter von mir, du bist trotz deiner kurzen Größe zu schwer für mich.«

»Wie? Kurze Größe?« Mit einem Schwingenschlag hob Ranuken sich einen halben Meter in die Höhe, von wo aus er beleidigt auf mich hinabsah.

Um Luft ringend, richtete ich mich auf und betastete meine Seite. »Du hast mir mindestens eine Rippe angeknackst«, klagte ich.

Ranuken winkte ab. »Nun mach mal halblang. Sam ist garantiert doppelt so schwer wie ich, und der hat dich auch noch nicht kaputtgemacht.«

Nun schnappte ich nicht mehr lautstark nach Luft, weil ich mich platt gedrückt fühlte, sondern aus Empörung. Wie üblich zeigte Ranuken sich davon keineswegs beeindruckt, sondern flatterte auf und ab, sichtlich zufrieden damit, mich sowohl körperlich als auch rhetorisch ausgeknockt zu haben. Während ich über den passenden Gegenschlag nachgrübelte, tauchte hinter Ranuken eine schwarz gekleidete Gestalt auf und zupfte ihm mit einem festen Griff eine Feder aus. So unwirklich die Schwingen aussahen, sie waren real … und entsprechend empfindsam: mit einem Jaulen schraubte Ranuken sich in die Luft.

Kastor blickte unterdessen mit einem zufriedenen Lächeln auf seine Hand, in der die Feder sich einem Nebelstreifen gleich auflöste. Ohne aufzublicken sagte er: »Noch einen Zentimeter höher, Ranuken, und ich sehe mich gezwungen, dich gewaltsam runterzuholen. Du kennst die Grenze, die du nicht überfliegen darfst – es sei denn, du möchtest unbedingt von Spaziergängern gesehen werden.« Dabei machte er sich nicht einmal die Mühe, die Stimme anzuheben, sondern verließ sich auf seine natürliche Autorität.

Auch ich stand wie auf Kommando kerzengerade, vor allem weil ich Kastors Stimme noch nie zuvor gehört hatte. Ihr dunkler, überirdisch voller Ton, der in meinen Ohren nachklang, erinnerte mich daran, wie wunderbar die Gegenwart von Schattenschwingen war.

Noch schneller, als er in die Luft gestiegen war, landete Ranuken. »Nicht nur ein rabiater Federdieb, sondern auch ein Wachhund. Und dabei dachte ich, die Zeiten, in denen unsereins kontrolliert und gegeißelt wurde, wären vorbei.«

Doch Kastor beachtete ihn nicht weiter, sein Blick ruhte auf mir. »Ich freue mich, dich wiederzusehen, Mila. »

Mehr als ein Nicken brachte ich nicht zustande, obwohl ich ebenfalls froh war. Der zurückhaltende, früher so schweigsame Kastor, das lebende Gegenstück zum Wirrkopf Ranuken – ja, ich freute mich sogar sehr. Trotzdem blieb mein Lächeln aus, denn etwas stimmte nicht. Nicht nur, weil Kastor plötzlich sprach und in dem eng anliegenden Longsleeve und der dunklen Hose wie einer der smarten Typen wirkte, die in St. Martin mal kräftig von ihrem stressigen Großstadtleben ausspannen wollen – also überraschend normal, von seinen alles andere als normalen Augen und den nackten Füßen einmal abgesehen. Etwas stimmte nicht bei Kastor, nur was?

»Deine Aura glüht genau so verhalten wie Sams«, kam ich schließlich hinter das Geheimnis. »Hast du auch gegen Nikolai gekämpft?«

»Ich würde niemals gegen Nikolai kämpfen.«

Dieser Satz blieb zwischen uns stehen. Ich schwieg, weil ich keine Ahnung hatte, was ich dazu sagen sollte. Und Kastor … nun ja, es war nicht gerade einfach, in seinem Gesicht zu lesen. Gut möglich, dass ich ihn irgendwie gekränkt oder verärgert hatte. Es war aber genauso gut möglich, dass er nur ein Weilchen brauchte, bis er sich zum Weiterreden berufen fühlte. Für Schattenschwingen tickten die Uhren eben anders.

Unterdessen war Ranuken neben mir gelandet und zupfte an dem Beutel in meinem Fahrradkorb. »Sind da Gummibärchen drin?«

»He, ich habe dir nicht erlaubt, in meiner Tasche herumzuwühlen.«

»Ich wühle nicht, ich inspiziere. Mensch, nur Pfefferminzbollos und … oh, was ist das denn? Schau mal, Kastor: einzeln verpackte Wasserbomben.«

»Das sind keine Wasserbomben, und jetzt hör gefälligst auf mit dem Blödsinn. Hier, nimm mein Handy und hör Musik. Aber nicht telefonieren, das ist bei Todesstrafe verboten.«

Ich drohte Ranuken mit dem Zeigefinger, aber das hätte ich genauso gut bleiben lassen können, denn er war bereits vollauf dabei, sich die Stöpsel in seine nicht gerade klein geratenen Ohren zu stecken. Einige Sekunden später trällerte er entzückt zur Rocky Horror Picture Show mit und verschwand – inklusive einiger Tanzeinlagen – in Richtung Sternwarte.

Somit war zumindest schon mal eine Schattenschwinge zufriedengestellt. Die andere erweckte allerdings nicht den Eindruck, als wäre ihr ähnlich leicht beizukommen.

Kastor musterte mich ernst. »Weiß Samuel, wo du bist, oder vielmehr, mit wem du dich triffst?«

Aha, aus dieser Richtung wehte also der Wind. »Nein, warum?« Mit gespielter Verwunderung zog ich die Augenbrauen hoch.

»Als ich Samuel das letzte Mal getroffen habe, hat er mir unmissverständlich klargemacht, dass er mit uns Schattenschwingen nichts mehr zu tun haben will. Deinetwegen. Weil das aus deiner Sicht die einzige Chance für eure gemeinsame Zukunft ist.«

Es war wirklich kein Wunder, dass Kastor und Sam sich derartig gut verstanden – sie waren aus dem gleichen Holz geschnitzt. Für Mädchen, die schmerzlich ihre Freundin vermissten oder gelegentlich ihre Meinung änderten, weil sie übers Ziel hinausgeschossen waren, war in ihrem Universum kein Platz. Bei ihnen wurde eine Entscheidung getroffen und dann beharrlich durchgezogen. Unter Kastors Blick fühlte ich mich wie ein Fähnlein im Wind, weil ich nicht genauso straight drauf war.

»Das stimmt, ich habe Sam darum gebeten, sich ganz der Menschenwelt zu verschreiben. Eine ziemlich drastische Bitte, schon klar. Aber nachdem meine Freundin Lena von einer Schattenschwinge angegriffen worden und dabei fast ums Leben gekommen ist, habe ich nur diese eine Möglichkeit gesehen … und Sam wohl auch. Jetzt, mit etwas mehr Abstand, war das – ehrlich gesagt – zu schwarz-weiß gedacht. Ich habe zu wenig daran gedacht, was das für Sam bedeutet, der ziemlich darunter leidet. Und mir geht es auch nicht besser, denn jemanden aufzugeben, dem man sich durch Freundschaft verbunden fühlt, kann nicht richtig sein. Deshalb bin ich gekommen: Ich möchte Shirin besuchen.«

Kastor musterte mich so eindringlich, dass mir ganz heiß wurde. »Hat Samuel dir von Shirins Zustand erzählt?«

»Samuel, Samuel … also weißt du: wirklich! Sam ist mein Freund und nicht mein Besitzer, dessen Erlaubnis ich erst einmal einholen muss. Ich bin als Shirins Freundin hier, ich will wissen, wie es ihr geht. Mehr nicht, verstanden?«

Ich wollte schnurstracks an Kastor vorbeigehen, doch er stellte sich mir in den Weg. Obwohl es mir nicht im Geringsten schmeckte, blieb ich stehen, ich kannte nämlich die Muskeln, die sich unter seinem Oberteil verbargen. Falls er sich stur stellte, würde ich einige Probleme haben, an ihm vorbeizukommen.

»Natürlich kannst du deine eigenen Entscheidungen treffen, das wollte ich keineswegs in Frage stellen«, sagte er zu meiner Erleichterung. »Du solltest allerdings wissen, dass Shirin schwere Wunden davongetragen hat, die wir bislang nicht heilen konnten. Es ist schwierig, zu ihr vorzudringen. Darauf wollte ich dich vorbereiten, gerade weil du ihre Freundin bist.«

Ich hatte mit meiner Vermutung also richtig gelegen: Shirin war verletzt. Während Kastor auf den Eingang der Sternwarte deutete, bemühte ich mich darum, meine überspannten Nerven im Zaum zu halten, ansonsten würde meine Anwesenheit hier nichts bringen. Du musst stark sein, wenn sie schwach ist, sagte ich mir. Wir hatten schon immer einen besonderen Draht zueinander.

Blieb nur zu hoffen, dass dem immer noch so war.

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