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30 Klinge und Kompass

Mit Müh und Not gelang es mir, die beim Wechsel bewusstlos gewordene Shirin und den strampelnden Rufus an den Strand der Sphäre zu bringen, während eine Unzahl von Stimmen hinter meiner Stirn durcheinanderbrüllten.

Ich begriff nicht, was geschah, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Dieses Durcheinander hatte nicht das Entfernteste mit dem ansonsten sanften Abtasten der anderen Schattenschwingen zu tun, wenn man in die Sphäre einkehrte. Anstatt sich mit mir zu verbinden, prügelten sie regelrecht auf mich ein, und ich war außerstande, sie auf Abstand zu bringen. Gerade als ich dachte, es nicht länger auszuhalten, wurde der Chor wie mit einer scharfen Schneide durchtrennt, und es herrschte Stille. Zumindest einen kurzen Moment lang, dann fragte mich Asamis Gedankenstimme: Was machst du in der Sphäre? Ich habe dich nicht gerufen.

»Da hat wohl einer die Rollen von Herr und Diener durcheinanderbekommen«, knurrte ich und löste meine Finger von der Scheide des Katanas, die ich in meiner Pein fast zerbrochen hätte. Asamis Stimme schien mir so nah, als wäre er nicht mehr als ein paar Schritt entfernt. Weniger als nur ein paar Schritte … hautnah. Als ich mich jedoch aufsetzte, stellte ich fest, dass der Küstenabschnitt bis auf uns drei leer war. Kein Asami weit und breit, und trotzdem glaubte ich, den Luftzug seiner Schwingen zu spüren.

Wo steckst du?, fragte ich verwirrt.

Mitten in einer Versammlung bei der Ruine.

Also eine ganze Strecke von mir entfernt.

Das kann nicht sein.

Doch, das kann es durchaus, brummte Asami gereizt. Wir beraten gerade, wie wir am besten verfahren, denn allem Anschein nach geht es nicht nur gegen Nikolai, sondern gegen eine beachtliche Anzahl an jüngeren Schattenschwingen, die sich um Solveig gesammelt haben. Sie haben vor Kurzem jeglichen Kontakt zu uns Älteren abgebrochen, keiner von uns kann sie mental erreichen oder auch nur orten. Es ist, als wären sie verschwunden, aber das sind sie nicht. Sie sind auf den größten Lügner und Unhold hereingefallen, den es in der Sphäre je gab, wie schon so viele andere zuvor. Nikolai muss ihnen etwas versprochen haben, das ihrem unsinnigen Wunsch nach Freiheit entspricht. Wir müssen umgehend eingreifen, bevor er sie noch zu einem Krieg anstachelt. Du bist dank des Bernsteinrings mitten in unseren Gedankenaustausch hineingeraten, zu dem ich die anderen überredet habe, damit wir nicht unnötig viel Zeit verschwenden.

Ich schmeckte Asamis Ungeduld auf meiner Zunge, sie hinterließ ein gereiztes Kribbeln, das meine Kehle hinabwanderte. Aber da war noch etwas anderes, ein besonderer Nachgeschmack … Eine unterdrückte Freude über die Verbundenheit zwischen uns. In der Sphäre zeigte der Ring sie ungeschönt.

Mit einem Aufschrei vergrub ich meine beringte Hand im Sand. Eine kindische Reaktion, aber weit besser als der Versuch, den Ring mit den Zähnen abzuziehen. Dieses verfluchte Stück Bernstein stellte eine solche intensive Bindung her, dass Asamis Gefühle sich mir auf ungefilterte Weise offenbarten. Der Wall, den ich in der Menschenwelt zwischen uns wahrgenommen und geschätzt hatte, existierte nicht länger, ich bekam Asami in seiner ganzen Pracht ungefiltert ab. Und die Verbindung erwies sich keineswegs als Einbahnstraße, wie sich zeigte. Er erfuhr gleichermaßen, was mich bewegte. Leider.

Es ist wenig schmeichelhaft, dass du aus lauter Widerwillen über die Nähe zu mir am liebsten tot umfallen würdest. Asami gab sich gar nicht erst die Mühe, seine Verletztheit zu kaschieren, schließlich hätte es keinen Sinn gemacht. Versuch mich auszublenden, so weit es geht. Ich werde dasselbe mit dir tun, in der Menschenwelt ist mir das schließlich auch einigermaßen gelungen.

Die Verbindung war in Wirklichkeit also gar nicht schwach, sondern du hast sie vor mir verborgen? Ich konnte es einfach nicht glauben.

Du warst so beunruhigt darüber, dass ich den Ring trug, da wollte ich dir nicht auch noch zumuten, dich damit auseinanderzusetzen. Vor allem nicht, nachdem du so ausdrücklich betont hast, die schwache Verbindung zwischen uns würde beweisen, dass wir nicht annähernd so eng zusammengehören wie Mila und du. Jetzt kennst du die Wahrheit.

Ich fluchte, fühlte mich dadurch aber kein Stück besser. Somit war ein weiteres Geheimnis gelüftet, eins, von dem ich mich peinlich berührt fühlte. Asami blieb meine Reaktion nicht verborgen und seine Enttäuschung legte sich prompt als schwarzes Band um mich. Himmel, niemals hätte ich ihm derart tiefe Gefühle zugetraut, wo er sich nach außen hin stets unberührbar gab.

Bleib, wo du bist, forderte Asami. Wir sind gleich mit unserer Besprechung fertig und dann komme ich zu dir. Umgehend. Also verfall gar nicht erst auf die Idee, schon wieder deinen eigenen Weg einzuschlagen.

Bevor ich antworten konnte, legte sich eine Nebelwand über den Pfad zwischen uns, und ich nahm Asamis Gedanken und Gefühle nur noch verschwommen wahr. Wie benommen versuchte ich unsere Unterhaltung zu verdauen, während Rufus im Schneidersitz stumm neben mir saß, offenbar überfordert von seiner neuen Umgebung, und Shirin langsam zu sich kam. Wie soll ich damit umgehen?, fragte ich mich. Ganz einfach, du machst es so, wie du es mit deinen Sorgen um Mila und deiner Trauer um Kastor machst: Du blendest es aus, etwas anderes bleibt dir gar nicht übrig. Denn letztendlich hatten Asamis Worte nichts anderes bedeutet, als dass eine Schlacht bevorstand, deren Ausgang über weit mehr entscheiden würde als über Milas und meine Zukunft. Sie würde über das weitere Geschick von Sphäre und Menschenwelt bestimmen – darüber, ob sie sich einander wieder annäherten oder beide verloren waren.

Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse - Heitmann, T: Schattenschwingen - Zeit der Geheimnisse
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