14 Im Kreis der Liebsten
Sam
Ich registrierte die Schritte im Flur erst, als Reza bereits vor Milas Zimmer stand und nach einmal flüchtigem Anklopfen die Tür öffnete.
Oh Mann, nicht schon wieder!
In Windeseile verschaffte ich mir einen Überblick: Das gegen den Schreibtisch gelehnte Katana konnte Reza von der Tür aus nicht sehen, während ich ordentlich unter der Decke lag und Mila sogar ihr Nachthemd trug. Wieso eigentlich? Als ich es zuletzt sah, hing es über dem Schreibtischstuhl, wo ich es hingeworfen hatte …
»Guten Morgen, Mäuschen«, flötete Reza. »Oh, und Mäuserich. Da habe ich wohl etwas verpasst, so wie es aussieht. Kann mich gar nicht entsinnen, dass Mila erwähnt hat, dass du bei uns schläfst, Sam.«
»Weil es auch gar nicht geplant war«, gestand ich ein. »Ich bin gestern noch spät am Abend vorbeigekommen und … Guten Morgen übrigens.«
Verzweifelt versuchte ich mich an einem Lächeln, während ich mich zugleich am liebsten geohrfeigt hätte. Warum zur Hölle war ich eingeschlafen, anstatt mich beizeiten aus dem Staub zu machen? Ich hatte bloß so lange bleiben wollen, bis Mila eingeschlafen war, nachdem die Prägung des Katanas sie merklich aufgewühlt hatte. Als wir ihr Zimmer betreten hatten, stellte sich dann heraus, dass wir beide mächtig unter Strom standen, und hatten ziemlich schnell eine Möglichkeit gefunden, uns gegenseitig zu entspannen. Bei der Erinnerung daran war ich froh, Mila im Arm zu halten, so hatte ich wenigstens etwas zu tun. Sie noch ein wenig fester halten zum Beispiel.
»Nicht so dolle umarmen«, murmelte Mila prompt, machte aber keinerlei Anstalten, sich zu befreien. Das Mädchen schlief tiefer als jedes Murmeltier, kein Wunder, dass ich in der letzten Nacht fast die Scheibe hatte einschlagen müssen, um sie wachzukriegen.
Unterdessen stand Reza unschlüssig im Türrahmen. »Also … Das Frühstück steht auf dem Tisch, den Daniel wie jeden Samstag gedeckt hat. Sprich: Es gibt alles und davon jede Menge. Allerdings hat Rufus schon mit dem Essen angefangen, sodass sich die besonders leckeren Sachen rasch reduzieren werden. Ihr könnt euch ja überlegen, ob ihr noch eine Runde kuscheln oder mit uns frühstücken wollt.«
Mila blinzelte ins Leere. »Kuscheln oder frühstücken?«, echote sie benommen, um mir im nächsten Moment die Fingernägel in die Brust zu piksen. Offenbar konnte sie trotz ihres tiefen Schlafs im Notfall ruckzuck wach werden. »Mensch, Mama! Dass du auch immer so unangekündigt reinplatzen musst.«
»Ich habe angeklopft«, verteidigte sich Reza. »Davon einmal abgesehen, gibt es keinen Grund, sich zu beschweren. Das tue ich schließlich auch nicht, obwohl ein junger Mann in deinem Bett liegt. Auf die Gefahr hin, altmodisch zu wirken, so eine Übernachtung sollte vorher eigentlich mit mir und Daniel abgesprochen werden. Nicht dass wir etwas dagegen hätten, wo ihr beiden ja ohnehin miteinander …«
Als meine Brauen fragend in die Höhe schossen, hängte sie ein »Ach, komm, Sam. Ich weiß doch längst Bescheid« an.
»Worüber wissen Sie Bescheid?«
Mila und ihre Mutter wechselten einen raschen Blick.
Mich befiel ein unangenehmer Verdacht. »Okay, ich will es lieber gar nicht genauer wissen.« So würdevoll wie möglich setzte ich mich auf und versuchte, an meine Kleidung zu gelangen. »Ich muss ohnehin los.«
»Musst du gar nicht. Es ist schließlich Samstag.« Mila verpasste meiner Hose einen Stups, sodass sie aus meiner Reichweite war für den Fall, dass ich Reza nicht auch noch die untere Hälfte meiner Wenigkeit präsentieren wollte. Was ihr vermutlich weniger ausgemacht hätte als mir.
»Was ist das denn bitte für eine hinterhältige Nummer, einfach meine Sachen wegzuschieben?«
»In der Liebe ist alles erlaubt.« Mila reckte das Kinn. »Genau wie Gespräche zwischen Töchtern und ihren Mamas über …«
»… Dinge, die nur uns beide etwas angehen«, beendete ich den Satz. »Ausschließlich uns beide.«
Reza verdrehte die Augen. »Klärt ihr das mal schön allein. Ich erzähl Daniel derweilen, dass wir noch ein Gedeck brauchen.«
»Stopp!« Das wurde ja immer schlimmer. »Herr Levander muss doch nun wirklich nicht wissen, dass ich hier geschlafen habe. Vor allem wo er doch gerade anfängt, mich nicht rund um die Uhr zur Hölle zu wünschen. Ich schleiche mich zur Hintertür raus und gut ist.«
Offenbar hielt Reza das für Unsinn. »Du verlässt das Haus auf keinen Fall ohne etwas im Magen. Schluss mit der Diskussion. Außerdem wird Daniel dir schon nicht den Kopf abreißen, schließlich weiß er, wie eng die Beziehung zwischen dir und Mila mittlerweile ist. Falls euch das interessiert: Ich habe ihm das gestern Abend in Ruhe bei einem Glas Wein erzählt, und er hat ausgesprochen gelassen reagiert.«
Zuerst dachte ich, das gequälte Stöhnen wäre mir entwichen, dabei kam es von Mila.
»Mama, wie konntest du nur?«
»Dein Vater interessiert sich eben für das, was du tust. Nun, gut, in diesem Fall wollte er es letztendlich nicht so genau erfahren. Nur das mit den Kondomen, das war ihm schon wichtig. Du weißt ja, welchen Ärger wir mit deinem Bruder deswegen haben.« Nach einem Blick in unsere Gesichter beschloss Reza gnädigerweise, dass es jetzt langte. »Ich schenk dann schon mal den Kaffee ein, ihr Süßen.«
Erst als ihre Schritte verhallt waren, gelang es mir, Mila anzusehen. »Und ich dachte schon, den peinlichsten Moment meines Lebens bereits hinter mir zu haben, damals, als Reza uns das erste Mal erwischt hat. Es muss an dem verfluchten Bett liegen, das bringt Unglück. Wir sollten es verbrennen.«
Mila war aschfahl im Gesicht. »Sie hat es meinem Papa erzählt. Ich werde ihm nie wieder in die Augen blicken können.«
»Dann geht es dir immerhin noch besser als mir. Mich erschlägt er bestimmt. Mindestens.«
Der Gang zum Frühstückstisch fühlte sich an wie der Gang zum Schafott. Rufus nickte mir kurz über seinen randvollen Teller hinweg zu, dann schaufelte er weiter sein Omelett in sich hinein. Allein bei dem Anblick wurde mir schlecht.
Herr Levander tauchte hinter seiner Morgenzeitung auf. »Guten Morgen, ihr beiden. Wenn ihr im Kampf gegen Rufus besteht, könnt ihr euch das restliche Omelett nehmen.«
»Nur über meine Leiche«, brachte Rufus zwischen zwei Bissen hervor.
Herr Levander deutete auf die Zeitung. »Hier solltest du mal einen Blick reinwerfen, Samuel. Nachdem dieser Schmierfink Kraachten aus dir keine Geschichte mehr rausholen kann, verlegt er sich allem Anschein nach auf Ammenmärchen. Bauscht ein Naturschauspiel zu einer unheimlichen Erscheinung auf. Dabei sind auf dem abgebildeten Foto nur jede Menge Wolken zu sehen. Eine ziemlich beeindruckende Ansammlung von Wolken, aber das ist ja wohl kaum einen ganzen Artikel wert.«
Abwartend standen Mila und ich nebeneinander, aber da Herr Levander keinerlei Anstalten machte, mich unter wüsten Beschimpfungen aus dem Haus zu jagen, setzten wir uns an den Tisch. Während Mila an einer Toastscheibe herumnagte, musste ich an mein erstes Essen an diesem Tisch denken. Damals hatte ich mich wie ein Fremdkörper gefühlt, wie jemand, der den Kreis dieser harmonischen Familie störte. Diese Mal war es anders. Ich fühlte mich akzeptiert. Viel mehr noch: Ich gehörte dazu. Wider Erwarten musste ich lächeln.
Als Mila mich verblüfft anblinzelte, griff ich unter dem Tisch nach ihrer Hand und flüsterte ihr ins Ohr: »Sieht ganz danach aus, als hätte ich tatsächlich ein neues Zuhause.«
∞∞
»Da ist sie ja endlich wieder, die Mila-Maus – und mit ihr mein Lieblingsspielzeug. Los, rück dein Handy raus, mir ist nach Tanzen zumute!«
Betreten schaute ich zu, wie Mila den vollkommen überdrehten Ranuken an einer verfilzten Haarsträhne zog, bis er unter viel Lamento in die Knie ging und um Gnade winselte. Nachdem sie ihm das Versprechen abgerungen hatte, dass er sie niemals wieder von hinten anspringen würde, während sie noch auf dem Fahrrad saß, ließ sie endlich von ihm ab. Sofort gingen die beiden zu einem Schlagabtausch über die richtige Farbe für Halstücher über, inspiriert durch ein neongelbes Etwas, das Ranuken sich um den Hals gewickelt hatte. Die Zuneigung, die die beiden füreinander hegten, war nicht zu übersehen. Besser gesagt: Sie lebten sie hemmungslos aus.
Im Gegensatz zu Kastor und mir.
Wir standen nun schon eine gefühlte Ewigkeit voreinander, ohne die Zähne auseinanderzubekommen.
Die beiden hatten uns draußen vor der Sternwarte in Empfang genommen, die geschützt zwischen den Dünen lag. Ranuken hatte sich sofort in bester Raubvogelmanier auf Mila gestürzt und ignorierte mich seitdem konsequent. Kastor hingegen mied meinen Blick keineswegs, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er es mir dadurch leichter machte. Es war bedeutend einfacher gewesen, in die Sphäre zurückzukehren, als mich meinen gerade erst aufgegebenen Freunden zu stellen.
»Ich bin wegen Shirin gekommen«, setzte ich ohne rechten Plan an. Den Weg zur Sternwarte hatte ich zwar mit Grübeln verbracht, wie ich mich in dieser Situation am besten verhielt, aber es war leider nichts Gescheites dabei herausgekommen. »Ich hätte nicht so lange damit warten sollen.«
Kastor nickte, ohne auch nur eine Miene zu verziehen.
»Außerdem bin ich zurück bei Plan A: Ich werde zwischen meinem Menschenleben und dem als Schattenschwinge hin und her springen. Mein Versuch, nur noch Mensch zu sein, ist somit offiziell gescheitert.«
Kastor nickte erneut.
»Falls du erwartest, dass ich mich entschuldige, muss ich dich enttäuschen. Ich habe mich für Mila entschieden, aber so wie es aussieht, bin ich als Schattenschwinge nicht unbedingt eine Gefahr für sie. Asami hat mir gezeigt, dass Menschen und Schattenschwingen früher zusammengelebt haben, ansonsten hätte sich nichts an meiner Haltung geändert. Nur so nebenbei erwähnt.«
Immer noch keine Reaktion von Kastor. Es war zum Haare-Raufen mit dem Kerl.
Meine Ungeduld leidlich im Zaum haltend, holte ich mein Katana hervor, das ich in ein Stück orange gebatikten Stoff gewickelt hatte. Echt erstaunlich, was auf dem Dachboden der Levanders so alles zu finden war. Eine wahre Schatzhöhle. Ich überging die Zeremonie, der Klinge meinen Respekt zu zollen, sondern grüßte sie lediglich kurz, als ich sie von der Scheide befreite. Obwohl mir das Herz bis zur Kehle schlug, hielt ich Kastor das Katana hin.
Zum ersten Mal seit meiner Ankunft geriet in seinem Gesicht etwas in Bewegung. Sein Mund öffnete sich, aber nichts kam heraus. Er räusperte sich, dann sagte er: »Das ist ein Wahres Schwert, mir steht es nicht zu, es berühren.«
»Da es mir gehört, treffe ich die Entscheidung, wer es berühren darf. Du bist mein Freund, Kastor, daran hat sich aus meiner Sicht nichts geändert. Ich möchte, dass du es nimmst, damit du siehst, wie es mir seit unserem letzten Treffen ergangen ist.«
Natürlich wäre es möglich gewesen, ihm all dies gedanklich zu übermitteln, doch ich verspürte den Drang, es auf diese Art zu tun. Es war eine Erneuerung unserer Freundschaft und zugleich auch eine Versöhnungsgeste, die mir keineswegs leichtfiel. Mein Katana jemand anderem als Mila anzubieten, beschleunigte meinen Herzschlag derartig, dass ich mich fühlte, als könnte mich jeden Moment der Schlag treffen.
Noch immer zögerte Kastor. Wer konnte ihm das übelnehmen?
Mila, die ein paar Schritte entfernt damit beschäftigt war, Ranuken zu bespaßen, warf mir einen besorgten Blick zu.
Gerade als ich Kastors Absage akzeptieren und das Schwert zurückziehen wollte, legte er die Hand um den Griff. Mit geschlossenen Augen blieb er einige Momente unbewegt stehen, um die Eindrücke aufzunehmen, dann setzte er einen Schritt zurück und durchschnitt die Luft mit der Klinge. Ihr Gesang brachte sogar den glucksenden Ranuken zum Schweigen. Dann gab Kastor mir das Schwert zurück.
»Asami ist ein wahrer Künstler, wenn es um die Schaffung von Schwertern geht, das muss man ihm lassen. Die Klinge ist wunderbar ausbalanciert. Eine edle Waffe, sie passt zu dir.«
Überrascht stellte ich fest, dass ich den Atem angehalten hatte. »Danke.« Mehr brachte ich nicht hervor, dabei galt der Dank nicht nur dem Kompliment.
»Das Ding ist scharf, was?« Ranuken hatte sich neben mich gestellt, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Ich hab’s scharf gemacht«, erklärte Mila stolz.
»Sag bloß, dieses krumme Messer reagiert auf die gleiche Weise auf deine Vorzüge wie sein Herr!«
»Ha ha. Und da sag noch mal einer, Zwerge haben keinen Humor.«
»Nun tu mal nicht so, schließlich bist du nur einen halben Kopf größer als ich, Mini-Levander.«
»Ja, aber nur solange deine Haare zu Berge stehen, ansonsten besteht locker ein ganzer Kopf Größenunterschied.«
Mit gerümpfter Nase sah Ranuken mich an. »Deine Freundin ist frech.«
»Das mag sein, aber sie sieht eindeutig besser aus als du, deshalb darf sie das.« Ich begann zu lachen, eigentlich ohne Grund, aber das änderte nichts daran, dass es verdammt gut tat. Vor allem als die anderen mit einstimmten und sogar Kastor sich zu einem Grinsen hinreißen ließ.
»Lass uns jetzt zu Shirin gehen«, sagte er schließlich und klopfte mir auf die Schulter.
Ich war froh, dass Kastor kein Mann der großen Worte war, und auch nicht der großen Mimik oder Gesten. Ihm gelang es mit minimalem Einsatz, klarzustellen, dass zwischen uns wieder alles im Reinen war. Während wir zur Sternwarte gingen, ergriff mich eine Welle der Erleichterung. Kastors Freundschaft war wie er: still, aber von großer Tiefe. Vielleicht konnte man sie erst dann richtig erfassen, wenn man sie fast verloren hatte.
∞∞
Shirin lag auf einem Bett, zusammengerollt wie ein Neugeborenes, die Gesichtszüge von Schmerzen verzerrt. Bei ihrem Anblick kam ich mir so mies vor, dass ich es nicht über mich brachte einzutreten.
Mila gab mir von hinten den entscheidenden Stoß. »Selbstzerfleischung macht nichts besser«, flüsterte sie mir zu. »Schließlich bist du jetzt ja da, um zu helfen.«
Mir lag eine zynische Entgegnung auf der Zunge, doch ich sprach sie nicht aus. Sie hatte recht: Das Leben war eine komplizierte Angelegenheit und somit voller Entscheidungen, von denen man lange Zeit nicht wusste, ob sie richtig oder falsch waren. Die Dinge waren ständig in Bewegung, damit musste ich mich abfinden, auch wenn ich das Bedürfnis verspürte, endlich einmal anzukommen und zu wissen, wo ich stand. Meine Sehnsucht nach klaren Verhältnissen war eine Sache, die Realität eine andere. Sobald ich das einmal begriffen hatte, würde ich vielleicht nicht mehr so streng mit mir ins Gericht gehen, aber Shirins Zustand konnte ich mir nicht verzeihen.
So vorsichtig wie nur irgend möglich setzte ich mich auf die Bettkante, dann streckte ich die Hand mit der Absicht aus, ihre schweißbedeckte Stirn zu berühren. Doch so weit kam ich nicht, denn sie schlug die Augen auf.
Ich fuhr zusammen. Da war keine Sandfarbe, umgeben von leuchtendem Grün, sondern Silber.
Shirins Augen waren zwei blank polierte Silbermünzen. »Samuel«, sagte sie heiser, als erwachte sie aus einem Albtraum, nur um festzustellen, dass er in Wirklichkeit gerade erst anfing.
Schnell legte ich meine Hand über ihre Augen und wappnete mich gerade noch rechtzeitig gegen den Sturm, der bei der Berührung freigesetzt wurde. Wie eine Flutwelle rollte die Kraft der Klinge, die nach wie vor in ihrer Wunde steckte, über mich hinweg. Schwarz, mächtig und mit der Absicht, mich zu verschlingen, umrauschte sie mich, schnitt mich von der Welt ab. Darauf war ich jedoch gefasst, denn ich hatte sie bereits einmal berührt, im Wohnzimmer der Levanders, wo Nikolai Shirin zum Sterben zurückgelassen hatte. Meine geschwächte Aura wurde mir fast zum Verhängnis, denn sie bildete keinen nennenswerten Damm gegen diesen Ansturm, der schließlich abebbte. Viel länger hätte ich nicht standgehalten. Wie kann die Klinge so stark sein?, fragte ich mich, während ich um mein Bewusstsein rang.
Als ich wieder aufblickte, stand Mila vor mir, kreidebleich. Kastor hielt sie fest, als habe er sie mit Gewalt davon abhalten müssen, mir zur Hilfe zu eilen. Dafür war ich ihm ausgesprochen dankbar, denn die Flutwelle wäre bestimmt auf sie übergesprungen und hätte sie zweifelsohne mit sich gerissen. Langsam ließ er Mila los, doch anstatt zu mir zu kommen, stand sie stocksteif da. Meine Reaktion auf Shirin musste sie ordentlich erschreckt haben, auch wenn ich mir nicht erklären konnte, was genau sie gesehen hatte. Ranuken klebte an der Wand, als hätte ihn einer dagegen geschleudert, und hielt verstörenderweise den Mund. Um niemanden weiter zu beunruhigen, klemmte ich meine zitternden Hände unter die Arme und bemühte mich, locker rüberzukommen.
»Das war heftig.«
»Heftig?« Milas Unterlippe begann zu beben. »Du bist beinah erlöscht!«
»Entweder bin ich ernsthaft zum Waschlappen verkommen, oder diese gottverdammte Klinge ist sehr viel stärker geworden.«
»Ich hätte dich warnen sollen.« Selbst Kastor wirkte ernsthaft beunruhigt. »Es hat einen Grund, warum es mir bislang nicht gelungen ist, sie zu ziehen. Da ich sie nicht mit einem Ruck herausbringen kann, habe ich angefangen, sie mit meiner Aura zu umhüllen, damit Shirin wenigstens etwas zu Atem kommt. Nur nimmt die Klinge meine Aura nach einer Weile in sich auf und absorbiert sie. Das, was ich tun kann, um Shirin zu schützen, richtet sich schließlich gegen sie … und gegen jeden, der sie auch nur berührt.«
»Ich bin eine Aussätzige.« Shirins Lachen verursachte mir eine Gänsehaut. Sie war zu sich gekommen und ihre Augen leuchteten wieder in den vertrauten Farben. »Aber macht euch keine Sorgen, das war ich schon immer, daran bin ich gewöhnt. Wir sollten es beenden.«
»Ja«, stimmte ich zu. »Indem wir das letzte Unheil, das der Schatten angerichtet hat, aus der Welt schaffen.«
Shirin murmelte einen Widerspruch, doch ich achtete nicht darauf. Stattdessen wendete ich mich Kastor zu.
»Ich muss meine Aura stärken und zwar sofort. Im Augenblick reicht sie nicht einmal dafür aus, Shirin ein zweites Mal unbeschadet zu berühren. Es ist nur so, dass ich meine ganze Kraft darauf verwendet habe, den Schatten zu richten.« Sorgfältig vermied ich es, den Namen »Nikolai« zu verwenden, obwohl ich das ansonsten stets tat. Auch Kastor hatte eine Wunde davongetragen und ich wollte nicht unnötig an ihr rühren, indem ich den Namen seines alten Freundes benutzte. »Meine Aura ist seitdem zwar von Tag zu Tag stärker geworden, aber wir müssen den Vorgang beschleunigen. Und zwar drastisch. Mit Hyperantrieb.«
»Du denkst an die Quelle in deinem Inneren, zu der Asami dich geführt hat«, forschte Kastor nach. »Du willst diese Quelle benutzen, um Shirin zu helfen?«
Ich berührte das Katana, das ich neben mich gelegt hatte. »Wenn es mir gelingt, sie freizulegen …«
»… und sie zu beherrschen. Hast du diese Kunst mittlerweile gelernt?«, fragte Kastor.
Ich zuckte mir den Achseln.
»Das bedeutet also nein.« Kastors Ausdruck wurde hart. »Dann ist dein Plan zu gefährlich. Ich erinnere mich noch bestens an das letzte Mal, als deine freigesetzte Energie dich fast vernichtet hat, weil du keine Möglichkeit gefunden hast, ihr eine Form zu geben. Selbst wenn du dich heute vorsichtig an die Quelle herantastest, wäre das Risiko hoch, dass es dich zerreißt, so schwach, wie du bist.«
»Es zu probieren, birgt sicherlich ein Risiko. Abzuwarten aber auch. Shirin kann sich gegen die Klinge nicht länger zur Wehr setzen, dass brauche ich dir doch wohl nicht zu sagen. Wir werden sie verlieren. Willst du das?«
Shirin blickte uns aus fiebrigen Augen an, zu schwach, um sich an der Diskussion zu beteiligen, und auch Ranuken hielt sich weiterhin bedeckt. Dafür war er neben Mila getreten und tätschelte ihr den Rücken, wofür ich ihm ausgesprochen dankbar war, denn der Ring offenbarte mir ungeschönt, wie verstört sie war.
Endlich lenkte Kastor ein. »Ich werde dir helfen, aber nur unter einer Bedingung: Du lässt es langsam angehen, indem du die Quelle schichtweise freilegst. So viel Zeit muss sein, ansonsten wäre es das reinste Kamikazeunternehmen.«
Mila trat auf mich zu. Zögernd streckte sie die Hand nach mir aus, als wäre sie unsicher, ob sie mich berühren durfte.
»Und was ist mit mir? Wie kann ich helfen?«
Mit dieser Frage hatte ich gerechnet. Und ich ahnte, welche Wut mir gleich entgegenschlagen würde, wenn ich die Antwort darauf gab. »Ehrlich gesagt, würdest du mir am meisten helfen, indem du nach Hause gehst oder Lena besuchst.«
Mila richtete sich vor Empörung auf, bis sie fast auf den Zehenspitzen stand. »Wie bitte? Ich habe mich wohl verhört. Du willst mich wegschicken?«
»Nein, nicht wegschicken. Es ist nur …« Warum musste alles immer so verflucht schwierig sein? »Was ich vorhabe, ist eine anstrengende, aber vor allem langwierige Angelegenheit. Ich werde herumsitzen und in mich gehen. Für Außenstehende ist das reichlich dröge.«
»Mach dir um mich mal keine Sorgen«, erwiderte sie trotzig. »Ich werde schon nicht vor Langeweile umkommen.«
»Ach, komm schon, Mila.«
»Du willst mich loswerden, mich ausgrenzen. Wunderbar, dann mach deinen Krams doch allein!« In einem beeindruckenden Tempo raste sie aus dem Zimmer.
»Hoppla.« Ranuken sah ihr verwirrt hinterher. »Habe ich da irgendwas verpasst?«
Ich bedeutete ihm, den Schnabel zu halten, und sauste ihr hinterher. Tatsächlich gelang es mir erst, sie einzuholen, als sie bereits ihr Fahrrad erreicht hatte.
»Mila, ich will dich doch nicht loswerden! Es ist einfach eine schwierige Sache, bei der ich mir nicht sicher bin, ob sie klappt.«
Mila funkelte mich aufgebracht an, doch allmählich breitete sich Verstehen auf ihren Zügen aus. Was es allerdings nur bedingt besser machte. »Das ist es also: Ich soll nicht da sein, falls es schiefgeht. Ich soll mir deiner Meinung nach das Nachmittagsprogamm in der Glotze reinziehen, während du dir selbst Schaden zufügst.« Sie schüttelte fassungslos den Kopf. »Wenn das so ist, werde ich auf jeden Fall bleiben.«
»Dann kann ich Shirin leider nicht helfen. Sollte mein Plan nämlich nicht aufgehen, werde ich nicht nur mir Schaden zufügen, sondern vermutlich auch allen in meiner unmittelbaren Nähe. Mich der Quelle in mir zu nähern, ist gefährlich, du hast gehört, was Kastor gesagt hat. Ein solches Risiko würde ich niemals eingehen, solange du da bist.«
Mila schluckte. »Und damit rückst du erst raus, nachdem ich Druck gemacht habe. Freiwillig erzählst du mir die Wahrheit ja nicht. Das ist Mist.«
»Es ist Mist, dass ich nicht will, dass du dir unnötig Sorgen machst? Sehe ich nicht so.«
Wie zwei ausgemachte Sturköpfe standen wir voreinander. Dann schniefte Mila und eine Sekunde später brach mein Widerstand zusammen. Wenn ich so weitermachte, würde ich sie noch zum Weinen bringen, und das war das Letzte, das ich wollte.
»Bestimmt wird alles gut gehen, ist es bislang doch immer«, versuchte ich die Lage zu entschärfen. »Und jetzt habe ich auch noch mein Katana, das die Energie leiten kann, bevor sie mich zerreißt. Dank dir.«
»Na, da fühl ich mich doch gleich viel besser, Samuel Bristol.« Immer noch verärgert, ließ Mila sich von mir in den Arm nehmen. »Und ich darf mich noch nicht einmal beschweren, weil es mein Wunsch gewesen ist, dass du deine Schattenschwingen-Existenz wieder aufnimmst und Shirin beistehst. Als Belohnung dafür soll ich jetzt nach Hause fahren und dort Däumchen drehen, während du dich selbst in die Luft sprengst. Kann ich dir denn wirklich nicht helfen, indem ich meine Gabe einsetze?«
»Ich befürchte, das ist eine Sache, die ich ganz allein tun muss. Kastor bleibt nur, um den Schaden notfalls einzudämmen.«
»Was bist du: ein explodierender Reaktor?«
Obwohl uns beiden nicht danach zumute war, lachten wir. Dann nutzte ich die Gelegenheit, Mila an mich zu ziehen. »Alles wird gut, vertrau mir«, flüsterte ich, bevor ich sie küsste. Es war ein Abschiedskuss, bei dem die Furcht mitschwang, einander nicht wiederzusehen. Deshalb schloss ich meine Arme um sie, als wollte ich sie festhalten, obwohl ich es war, der sie fortschickte. Ich hielt sie. Verzweifelt. Und genau so war mein Kuss, den sie leidenschaftlich erwiderte, als könnte nichts an mir, weder meine Entscheidungen noch meine Sorgen oder gar Wünsche, sie zurückschrecken lassen. Gegen meinen Willen gruben sich meine Finger tiefer in ihre warme Haut, bis ich ein leises Aufstöhnen vernahm, das sie in einen hingebungsvollen Seufzer zu verwandeln versuchte. Ich wich zurück, nur ein winziges Stück, mehr ließ Mila nicht zu.
»Egal was passiert«, sagte sie mit belegter Stimme, »es wird nichts daran ändern, dass wir zusammengehören.«
Sie versuchte sich an einem tapferen Lächeln, doch danach stand mir nicht der Sinn. Ihre Worte brannten sich mir ein, und als ich erneut ihre Lippen suchte, nahm ich in dem Kuss mehr Abschiedsschmerz wahr, als ich ertragen konnte. Es ist doch nur für ein paar Stunden, versicherte ich mir, während ihre Fingerspitzen die Linien meiner Schwingen abfuhren. Nur ein paar Stunden, dann sind wir wieder zusammen, so, wie wir immer zusammen sein werden.
Aber warum fühlte es sich dann an, als würde ich sie nie wieder halten?