26 Fremde Begierden
Es war tiefe Nacht, der Morgen nicht einmal annähernd eine ferne Ahnung. Ein Wolkenband umfing den Himmel und verbarg das Sternenlicht.
Ich lag hellwach, eng gedrängt an Lena, die im Schlaf wimmerte. Schwer zu sagen, wem von uns beiden es gerade schlechter ging: der von einem Albtraum heimgesuchten Lena oder mir, die vor Sehnsucht und Kummer kaum atmen konnte. Da war ich in der Sphäre, Sams Heimat, und ihm doch ferner als je zuvor.
In den wenigen Wochen, in denen der Bernsteinring an meiner Hand gesteckt hatte, war ich mir seiner stets sicher gewesen. Sams Liebe – ich hatte sie so deutlich gespürt wie das Heben und Senken meiner Brust. Solange die Verbindung der Ringe existierte, war auch unsere Verbundenheit verbürgt. Aber jetzt gab es nur meine Gefühle, die mir verrieten, dass sich für mich nichts geändert hatte, während ich von seinen Empfindungen abgeschnitten war, als gäbe es sie nicht mehr. Ein Irrtum, gewiss, und doch … Die Angst, dass Sam mich nicht mehr liebte, saß tief, dabei bekam ich lediglich seine Gefühle nicht länger übermittelt. Es war mir unbegreiflich, warum mich das so aus der Bahn warf, denn schließlich hatte es die Ringe am Anfang unserer Beziehung nicht gegeben, und trotzdem war ich damals unserer gegenseitigen Empfindungen gewiss gewesen. Nun aber fühlte ich mich ohne ihn schrecklich verwaist.
Sam weiß, dass du ihn liebst, redete ich mir verzweifelt ein. Er wird kommen, so wie er schon einmal gekommen ist. Er wird dich um keinen Preis der Welt allein lassen, du kannst auf ihn vertrauen. Und dieses Mal wird er leichtes Spiel haben, denn er kennt seinen Gegner. Darüber hinaus ist Nikolai geschwächt. Dass er in seinem Zustand außerstande war, eine Falle für Sam vorzubereiten, musste er mir nicht extra sagen, das erkannte ich auch so. Nikolai war vermutlich für jeden Tag Aufschub dankbar, an dem er Sam nicht entgegentreten musste … allerdings einem ebenfalls verletzten und in vielerlei Hinsicht geschwächten Sam.
Ich musste unwillkürlich schlucken.
Was, wenn Sam den Kampf nur schwer mitgenommen überlebt hatte? Falls er ihn überhaupt überlebt hatte und nicht wie Kastor von der zerstörten Pforte ins Verderben gerissen worden war. Es gab nicht den geringsten Beweis für sein Überleben, nur meine Hoffnung. Fast wünschte ich mir, Nikolai würde eine Andeutung machen, dass er ihn schon bald erwarte, aber nichts dergleichen kam über seine Lippen. Das Einzige, was für ihn existierte, sobald er sich in meiner Nähe aufhielt, war ich. Oder noch genauer: die Macht, die von meiner Berührung ausging und ihn nährte. Er hatte gesagt, er brauche Sam und mich. Gab es jetzt nur noch mich?
Ich zwang mich mehr schlecht als recht, an Sam zu denken, ohne dass das Bild der Wunde an seinem Hals oder gar dieses grauenhafte Symbol, das er sich eigenhändig eingeschnitten hatte, dazwischenfunkte. Stattdessen setzte ich alles daran, dass er in meiner Vorstellung gesund war, und malte mir sogar das Wunschbild aus, wie er mit meiner Familie zusammen am Frühstückstisch saß. Der Ring an seiner Hand sendete ein weiches Pochen aus … das ich jedoch nicht fühlen konnte, ganz egal, wie sehr ich mich auch anstrengte, die Illusion zu spinnen. Denn an meiner Hand steckte kein Ring mehr, würde dort nie wieder stecken.
Es war zum Verrücktwerden!
So erging es mir immerzu: Sobald ich mich mit dem Gedanken an Sam zu trösten versuchte, geriet mir der Gedanke an den verlorenen Ring dazwischen, oder Nikolai, der mich von meinen Gefühlen entfremdete. Immerzu im Kreis drehte ich mich und wusste nicht, wie ich diesen elenden Kreislauf durchbrechen sollte. Ich wollte unbedingt einen Teil von mir retten, aber wohin ich mich auch wendete, Nikolai hatte alles mit seiner Gegenwart verseucht. Wie ein nicht abzuschüttelnder Fluch war er überall, oder zumindest eine Spur seiner Taten.
Während ich der unruhigen Lena den Rücken streichelte, gestand ich mir ein, dass eine Sache bei uns beiden absolut identisch war: Seit unserer Verschleppung litten wir beide unentwegt. Denn egal ob in wachem oder schlafendem Zustand, wir wurden stets von unserer Furcht vor Nikolai heimgesucht. Daran hatten auch das eigene Zimmer und mein wunderschönes Kleid nichts geändert. Vor allem das Kleid hatte für Unruhe zwischen Lena und mir gesorgt.
Nachdem ich es ihr begeistert vorgeführt hatte, war ihr erster Kommentar gewesen: »Ein Kleid aus der Aura dieses Dreckskerls … dann lieber nackt.«
»Es ist mein Kleid«, hatte ich empört dagegengehalten. »Es sieht genau so aus, wie ich es mir immer gewünscht habe.«
»Mag ja sein, aber das ändert nichts daran, dass du dich in ein Stück Nikolai gewickelt hast. Das ist eklig.«
»Ist es nicht! Schattenschwingen erschaffen nun einmal Dinge aus ihrer Aura. Was du an mir siehst, ist ein Kleid. Nicht mehr und nicht weniger.«
»Bist du dir da wirklich sicher?«
War ich mir in diesem Moment keineswegs, nur wollte ich das Lena gegenüber nicht eingestehen. Ansonsten hätte sie alles darangesetzt, mich zu überreden, das Kleid abzulegen. Allein die Vorstellung war verstörend. Es gehörte doch zu mir …
Abrupt setzte ich mich im Bett auf.
Es war mein Kleid!
Zugegeben, ich hatte es mit Hilfe von Nikolais Aura gesponnen, aber es war ein Teil meiner Persönlichkeit. Mehr als das, ich hatte ein Stück von mir in dieses Gewand hineingewebt. Nichts Großartiges, nur ein winziges Stückchen meiner Freude am Malen, dem Bedürfnis, die Welt abzubilden … eben auf die Weise, wie ich sie sah: ein wenig verzaubert. Genau so sah das Kleid aus: Als gehörte es einer Märchenfigur, einer Elbin, die durch den nächtlichen Wald spazierte, oder einer Dame im Turmzimmer, auf die man nicht mehr als einen flüchtigen Blick erhascht. Ich besaß die Gabe, unter Einsatz der Schattenschwingen-Aura etwas zu gestalten, und darauf war ich stolz. Schließlich war es der Beweis, dass wir Menschen den Schattenschwingen nicht auf Gedeih und Verderb ausgeliefert waren, sondern zu ebenbürtigen Partnern wurden, wenn man uns nur ließ. Wie in der Geschichte über Sora und Mael, die Sam mir erzählt hatte.
Allerdings ließ sich nicht leugnen, dass Nikolai mich in keinerlei Hinsicht als gleichwertig ansah – auch wenn unsere Beziehung sich wandelte. Ich merkte zwar, dass ich ihm mit jeder Berührung wichtiger wurde, aber beim Blick in Shirins Vergangenheit hatte ich seine Vorstellung von einer perfekten Partnerin zur Genüge kennengelernt. Vollkommene Selbstaufgabe und Unterordnung unter seine Ziele, danach stand ihm der Sinn. Allein bei dem Gedanken daran krümmte ich mich. Genau das stand mir bevor, falls nicht bald ein Wunder geschah. Schon jetzt nahm ich den Widerhall von Nikolais Seele in mir wahr. Nicht mehr lange, und er würde alles übertönen.
Unruhe ergriff Besitz von mir, und trotzdem wagte ich es nicht, mich zu rühren, aus Angst, Lena aus dem Schlaf zu holen, dank dessen sie sich gerade erst wieder entspannte. Hoffentlich träumte sie von etwas Schönem, einer genialen Premiere ihrer Theatergruppe oder von einem Ausritt mit ihrem Pferd Artemis. Während ich ihrem gleichmäßigen Atem lauschte, kam mir eine Idee. Vielleicht konnte ich mich Nikolai nicht entziehen, aber möglicherweise konnte ich einen Teil meiner selbst rechtzeitig in Sicherheit bringen, indem ich ihm eine Form verlieh. Schließlich hatte ich das schon einmal getan.
Mucksmäuschenstill setzte ich mich auf und langte nach dem Saum meines Kleides. In der Schwärze der Nacht ertastete ich eine Unebenheit, einen Faden, und löste ihn so weit, bis er auf meinem Handteller lag. Dafür brauchte ich eine Weile, weil meine linke Hand ungebrochen schmerzte. In der Regel ignorierte ich das ungewohnte Fehlen meines Ringfingers und das Pochen der Narbe. Nicht etwa weil ich mich weigerte, mich mit diesem Verlust auseinanderzusetzen, sondern weil ich meinen verlorenen Finger nicht als Verlust ansah. Es war meine einzige Chance gewesen, Sam ins Leben zurückzuholen, darüber konnte ich nicht unglücklich sein.
Während ich den Faden hielt, verlor er seine Form und wurde zu einem kühl leuchtenden Band, das einem Lichtstrahl glich. Ich wischte mit der flachen Hand drüber, sodass es sich ausbreitete und als ein Stück Papier verfestigte.
Papier hatte für mich schon immer über eine ganz eigene Magie verfügt dank der unzähligen Möglichkeiten, die es einem bot. Es war jedes Mal aufs Neue faszinierend, dass ein so dünnes Blatt eine eigene Welt einzufangen vermochte. Und genau das sollte dieses Blatt nun für mich tun: meine Gefühle einfangen und sie bewahren, bis ich Nikolais Zugriff entkommen war. Ohne eine Idee zu haben, was genau ich dem Papier anvertrauen wollte, beobachtete ich, wie es in der Dunkelheit sanft leuchtete. Ich erkannte sogar die feinen Unebenheiten in der Oberfläche, die nach und nach ein Muster ergaben, ähnlich einem Wolkenbild, das zunehmend deutlicher wurde, je länger man es betrachtete. Schon lustig, dass der menschliche Geist überall Gesichter zu entdecken glaubt. Sogar in einem blanken Stück Papier, dachte ich amüsiert, um im nächsten Moment verblüfft festzustellen, dass es sich tatsächlich um ein Gesicht handelte. Und nicht um irgendeins: Dieses Gesicht gehörte unverkennbar mir.
Ehrlich erstaunt studierte ich die detailverliebte Abbildung meiner Züge, die aussahen, als wären sie in das Papier geprägt worden. Mein spitzes Kinn, das angedeutete Lächeln, das meine Freude verriet … Sogar die Pigmentstörung unterhalb meines Wangenknochens war zu erkennen, die ansonsten kaum je einer bemerkte. Am meisten jedoch fesselte mich der Ausdruck in meinen Augen: Da war eine Weichheit, als fühlte ich mich so sicher, dass es nicht den geringsten Grund gab, meine inneren Schutzvorrichtungen hochzuziehen. In diesem Moment, den ich da eingefangen hatte, war ich ganz ich selbst, glücklich, in mir ruhend …
Obwohl: nicht ganz, denn da war dieses Funkeln, das ebenso wie mein lächelnder Mund darauf hinwies, dass ich jemanden ansah, jemanden ganz Spezielles.
Schwer atmend lüftete ich den Ausschnitt meines Kleides, mir war plötzlich nämlich ganz schön heiß. Es gab nur eine Person, der es gelang, dass mir gleichzeitig warm ums Herz wurde und meine Haut vor Aufregung zu glühen begann.
Ich stand unter dem Einfluss des Sam-Zaubers, unverkennbar.
Dann begriff ich das Bild: Ich sah mich, wie Sam mich sah. Wäre ich eine Schattenschwinge, hätte meine Aura jetzt bestimmt so hell aufgeleuchtet, dass das Papier in Brand geraten wäre. Ein entflammtes Mädchen, absolut glücklich verliebt.
Ich verkniff mir ein Lächeln. Stattdessen drückte ich die Zeichnung fest an die Brust, mein Form gewordenes Gefühl für Sam, das Besondere, das er für mich darstellte, jene verwirrend schöne Empfindung, die mich damals beschlichen hatte, als er noch nicht mehr als Rufus’ bester Freund für mich gewesen war. Es war der Anfang all dessen, was sich seitdem zwischen uns entsponnen hatte, die Wurzel unserer Liebesgeschichte. Was auch immer Nikolai mir antun würde, dieser wichtigste Bestandteil meines Lebens war vor ihm in Sicherheit.
Während ich die Zeichnung behutsam zusammenrollte und im Ärmel des Kleids versteckte, wanderten meine Gedanken zu Sam. Allerdings nicht zu der Zeit, in der wir glücklich miteinander gewesen waren, sondern zu unserem letzten Aufeinandertreffen in der brennenden Halle. Wenn ich richtig gerechnet hatte, waren seitdem bereits vier Tage vergangen. Vier Tage in Nikolais Gewalt. Seither war er die einzige Schattenschwinge, die uns unter die Augen kam. Ansonsten blieb der Himmel leer, wenn man von den Wolken, dem Regen und dem in der Ferne schimmernden Meeresspiegel absah. Ich hatte nicht den geringsten Zweifel daran, dass Sam die Hölle einfrieren würde, um zu mir zu gelangen – doch dazu musste er die Auseinandersetzung mit Nikolai lebend überstanden haben. Sofort suchte mich die grauenhafte Erinnerung heim, wie er mehr tot als lebendig in meinen Armen gelegen hatte.
Ich krümmte mich zusammen und unterdrückte ein Aufstöhnen.
Sam hatte überlebt, er hatte die Augen geöffnet und mich angesehen! An dieser Überzeugung musste ich mich festhalten, ansonsten wäre ich schon bald nicht mehr als Nikolais Marionette, derer er sich endlos bediente, bis er so weit hergestellt war, dass Sam ihm nichts anhaben konnte. Genau darauf würde es hinauslaufen.
Und was unternahm ich dagegen?
Ich hockte herum und zermarterte mir das Hirn. Seit wann war ich, bitte schön, eine Prinzessin, die auf ihren Retter wartete, obwohl jeder weitere Tag sie dem Abgrund näher brachte?
Schluss damit, nahm ich mir vor. Mag sein, dass du nichts an deiner Situation ändern kannst, aber du solltest es zumindest versuchen.
Darauf bedacht, Lena nicht zu wecken, glitt ich aus dem Zimmer und tapste auf Zehenspitzen die Wendeltreppe hinab. Ich hatte keinen wirklichen Plan, aber es musste sich etwas tun, und außer mir war niemand da, der die Dinge in die Hand nehmen konnte. Lena konnte froh sein, dass Nikolai sie weitgehend ignorierte. Sie war für ihn eine noch ungeeignetere Gegnerin als ich.
Am Ende der Treppe musste ich meinen ganzen Mut zusammennehmen, um weiterzugehen. Die Halle lag im Dunklen, viele Meter unter mir war lediglich die ewige Bewegung des Meeres zu erahnen. Einzig die Bernsteinkette, an die Lena gefesselt war, schimmerte blass und bewies, dass es hier tatsächlich festen Grund und nicht bloß gähnende Leere gab. Wie eine Schlange wand die Kette sich, nachdem Nikolai sie widerwillig verlängert hatte, damit Lena mir überallhin folgen konnte.
Die Bernsteinspur fest im Blick, setzte ich meine Füße einen vor den anderen und durchquerte auf diese Weise die Halle. Als ich an der Befestigung der Kette angekommen war, warf ich einen Blick in die Richtung, in der ich die Brüstung vermutete. Hinter dieser Brüstung gab es nur den weiten Himmel, aber ich konnte mich nicht in ihn stürzen. Mich hielt zwar keine Kette zurück, dafür aber meine beste Freundin, die an diesen Ort gebunden war. Ich hatte keine Ahnung, ob Nikolai von Anfang an geplant hatte, Lena zu entführen. So oder so war es auf jeden Fall ein genialer Schachzug gewesen, damit ich meine Flucht vom letzten Mal nicht wiederholte.
Zwar bot die Brüstung mir nicht den ersehnten Weg in die Freiheit, aber sie zog mich an. Ich sehnte mich danach, den Wind auf meinen Wangen zu spüren und den Salzduft des Meeres einzuatmen, der mich an Sam erinnerte. Das ausgeblichene Blond seiner Haare, der Sonnenton auf seinen Schultern, bedeckt von einer hauchfeinen weißen Schicht aus getrocknetem Meerwasser. Die Kristalle auf seiner Haut, die stets eine Explosion auf meiner Zunge auslösten ….
Nur noch ein paar Schritte bis zur Brüstung. In letzter Sekunde bemerkte ich ein Hindernis, gegen das ich fast mit meinem Fuß gestoßen wäre.
Es war Nikolai, der in eine Decke gewickelt schlief.
Ich nahm es als Zeichen.
Darauf bedacht, nur keinen Laut zu verursachen, umrundete ich ihn und betrachtete sein Gesicht. Seine Aura war nicht mehr als ein sanftes Leuchten, aber es reichte aus, um seine Züge zu erkennen. Er schlief tief und fest. Wenn ich meine Fingerspitzen auf seine Lider legte, würde ich seine sich bewegenden Augäpfel spüren können.
Nikolai träumte – und im Gegensatz zu Lena und mir schlug er weder panisch um sich, noch wimmerte er, weil sein Unbewusstsein randvoll mit schrecklichen Erlebnissen angefüllt war. Ich hasste ihn für viele Dinge, aber für seinen ruhigen Schlaf wünschte ich ihm die Pest an den Hals. Dieser Hurensohn hatte nichts anderes als seine Macht im Sinn, und um die zu erlangen, war es ihm gleichgültig, was er Sam, Lena, mir und vielen anderen auf dem Weg dorthin antat. Es war ihm genauso gleichgültig, wie es ihm Shirin und die Schattenschwingen in seinem anderen Leben gewesen waren. Für Nikolai existierten wir lediglich als Randerscheinungen, als Spielfiguren, deren einziger Lebenszweck darin bestand, ihn seinem Ziel näher zu bringen.
»In dem Augenblick, in dem du aufhörst zu existieren, werde ich endlich wieder frei durchatmen können«, flüsterte ich. »Wir alle.«
Dann umkreisten meine Gedanken ein Thema, dem ich mich noch nie zuvor angenähert hatte, und die Kälte, mit der ich es tat, erschreckte mich. Wie tötete man eine Schattenschwinge, wenn einem nur die eigenen Hände zur Verfügung standen und die eine davon sogar beeinträchtigt war? Ich fragte mich nicht, ob ich es wirklich über mich bringen würde, Nikolai zu töten. Mir kam kein Zweifel daran, dass ich es tun würde, sobald ich wusste wie. Nikolai musste sterben, ansonsten würden viele andere ihm zum Opfer fallen. Mit einem Mal begriff ich, warum Sam in der Lage gewesen war, ohne Reue zu töten: Es gab eine Grenze, und wenn man über sie hinausgetrieben wurde, setzte der Überlebensinstinkt ein, der die Frage, ob ich eine solche Tat wirklich mit meinem Gewissen vereinbaren konnte, nichtig machte. Sogar die Tatsache, dass er es war, der Lena und mich in den Wolken hielt, war vergessen. Der Wille, zu überleben, hatte sowohl derlei praktische als auch moralische Erwägungen ausgeschaltet. Dafür ist später Zeit, raunte er mir zu. Wenn du lebst und er tot ist. Leise wie eine Katze auf Beutezug schlich ich zur Bernsteinkette hinüber und wog sie in meinen Händen. Sie war dünn wie ein Seil, ihre Glieder waren überaus geschmeidig und sie reichte bis zum schlafenden Nikolai.
Ich kniete mich neben ihn, atmete tief durch und legte dann vorsichtig meine Hand unter seinen Kopf. Sein gewelltes Haar verfing sich zwischen meinen Fingern und ich spürte, wie er erwachte. Als ich die Kette unterschob, bis sie unter seinem Hals lag, kam Bewegung in sein Mimikspiel, doch ehe er die Augen öffnete, zog ich die Schlaufe in der Kette zu. Nikolai setzte zu einem Schrei an, brachte aber nicht mehr als ein Krächzen zustande. Entschlossen zog ich noch fester. Um seine Hände, die nach mir suchten, kümmerte ich mich nicht, denn ich trug ja das Kleid, das meine Haut vor ihm schützte. Ohne den leisesten Anflug von Reue starrte ich in seine weit aufgerissenen Augen, in denen das mir so verhasste Silber aufblitzte.
Ich werde es schaffen, sagte ich mir, ich werde uns befreien. Ein für alle Mal.
Doch dann fassten seine Hände um meine Hüften, und die Berührung veränderte trotz des Kleides alles. Die einzigartige Magie entbrannte, wie sie nur zwischen Mensch und Schattenschwinge in der Sphäre entfacht werden konnte. Nikolais Geist strömte in mich hinein, füllte mich aus, bediente sich der Quellen in meinem Inneren, von denen ich zuvor nicht einmal gewusst hatte, dass sie existierten. Er umfing mich, wandelte einen Teil meines Seins in einen Teil seiner Aura und gab mir als Lohn dafür etwas Erschreckendes zurück: Er blieb in mir verhaftet, band mich an sich, veränderte mich, bis ich mich selbst vergaß. Er nahm gierig, hastig, atemlos … Und ich gab mit jedem Herzschlag bereitwilliger, bis mich plötzlich ein Schmerz durchfuhr.
Jäh ließ ich die Kette fallen, als sie mir tief in die Handflächen schnitt, und zugleich riss Nikolai seine Hände zurück, als habe auch er den Schmerz wahrgenommen. Die Magie der Berührung verflog, und ich rückte hastig von ihm ab. Quer über meine Handflächen verliefen Wunden, aus denen graue Ströme hervortraten, die sich nach und nach rot verfärbten. Ich wusste nicht, was mich mehr verstörte: der nicht versiegen wollende rote Fluss, oder dass ich seine Farbe erkannte. Auch mein Kleid schimmerte nicht länger grau, sondern silbrig. Ein ausgesprochen vertrautes Silber.
Was, um Himmels willen, war mit mir passiert?
Neben mir richtete sich Nikolai auf, lockerte keuchend die um seine Kehle geschlungene Kette. »Keine schlechte Idee«, brachte er mit rauer Stimme hervor. »Wie gut, dass du das Kleid trägst, das ich dir geschenkt habe. Ansonsten wäre ich wohl nicht so glimpflich davongekommen. Zeig mir deine Wunden, damit ich sie schließen kann. Du hast genug Energie verloren.«
Energie – nicht Blut. Was waren das für Wunden, die mir die Bernsteinkette zugefügt hatte?
»Nein!«
Vollkommen außer mir schlug ich meine Hände vor die Brust, als Nikolai nach ihnen langte, und sah, wie sich der eben noch reine Stoff färbte. Die rote Flüssigkeit lief in breiten Strömen an mir hinab.
Mit festem Griff nahm Nikolai meine Handgelenke. An seinem Hals, da, wo ich die Kette geschlossen hatte, taten sich lilafarbene Blutergüsse auf, während sein Körper weiterhin Grau in Grau erschien. Blutergüsse wie ein geflochtener Kranz aus lila Blüten.
Etwas in mir kam ins Rutschen, geriet ins Schlittern und fand keinen Halt mehr. Ich zerbrach, als wäre ich eine Eisskulptur, die auf den harten Boden schlug, ein ausgehöhltes Ding und kein Mädchen mit einer Familie, einer Katze und einem Jungen, auf den es sehnsüchtig wartete. Ich war ein Scherbenhaufen, so zersplittert, dass ich niemals wieder zusammengesetzt werden konnte.
Ich schrie auf, als Nikolais Eiskranz aufblitzte und sein Licht sich mit dem Strom aus meinen Wunden vermischte, bis es sie zum Versiegen brachte. Zugleich ließ der Druck in meinem Inneren nach. Mein Hass, meine Verzweiflung und das zunehmende Gefühl, allmählich wahnsinnig zu werden, wichen einem unerklärlich süßen Gefühl von Verbundenheit. Ob ich wollte oder nicht, ich konnte Nikolai nicht länger hasserfüllt ansehen. Und auch aus seinen Silberaugen war der Zorn gewichen. Er zog mich an sich und bedachte mich mit einem Blick, als sähe er mich zum ersten Mal.
»Ich hoffe für uns beide, dass Samuel bald kommt«, sagte er. »Wir brauchen ihn zwischen uns, er muss uns voreinander bewahren, ansonsten sind wir verloren.«
Seine Worte rissen mich aus meiner Benommenheit. Mit aller Kraft, die mir geblieben war, stieß ich ihn fort und machte kehrt, bevor er erneut nach mir langte. Ich lief, ohne mir auch nur einen Gedanken darüber zu machen, wohin ich trat. Nur weg, weit weg, war das Einzige, das ich dachte. Weit weg, obwohl es längst zu spät war.
∞∞
Lena fand mich bei Sonnenaufgang bei einer Wasserquelle, die als kleine Springflut aus einer Glaswand trat. Ihre Austrittsstelle war umkränzt von einem jugendstilartigen Relief. Mit jeder Stunde tauchten neue Elemente in unserem Käfig auf, der mittlerweile mehr einem Palast glich. Ich war vollkommen durchnässt, aber es gelang Lena trotz aller Bemühungen nicht, mir das Kleid auszuziehen. Dieses verfluchte Gewand hielt mich gefangen, es war mir zur zweiten Haut geworden. Wärme suchend lehnte ich mich an meine Freundin, während meine Finger über den roten Stoff strichen, dessen Farbe auszuwaschen mir nicht gelungen war.
»Mädchen, was machst du denn bloß für Sachen?«, raunte Lena in mein Haar.
»Ich wollte ihn töten und ich hätte es getan. Fast wäre es mir gelungen, so wahr ich hier sitze.«
Nur mühsam kam mir das Geständnis über die Lippen. Es war schwer, so schwer, mich überhaupt daran zu erinnern, wie die Kette in meinen Händen lag, wie ich sie um Nikolais Hals zuzog, um ihm den Atem zu nehmen … War das nicht in einem anderen Leben gewesen? Hatte nicht eine ganz andere Mila es gewagt, Nikolai anzugreifen? Die Mila, die nun am Ufer des glasklaren Bachs saß und nicht zu zittern aufhörte, würde das auf keinen Fall tun. Allein der Gedanke war vollkommen absurd.
»Ich wollte Nikolai töten, ich wollte es so sehr. Und jetzt weiß ich nicht einmal mehr, warum. Ich kenne die Gründe, aber ich begreife sie nicht, sie haben nicht länger etwas mit mir zu tun. Kannst du dir das vorstellen?«
Lenas Gesicht wurde grauer als grau, während sie mich grob ein Stück zurückdrängte, um mich eingehend zu betrachten. »Er hat schon wieder von dir genommen, richtig?«
»Ich habe ihm gegeben«, erwiderte ich, nicht recht begreifend, warum mir dieser Unterschied wichtig war. Die Lüge erschien mir durchaus wahr.
»Mila, dir ist schon klar, dass Nikolai dich jedes Mal beraubt, wenn er seine verfluchten Pfoten an dich legt, oder?«
Energisch schüttelte ich den Kopf. »Berauben ist falsch ausgedrückt, denn er gibt mir im Gegenzug ja etwas wieder.«
»Und das wäre?«
Ich horchte in mich hinein. Da bewegte sich etwas in der Dunkelheit, die Nikolais Berührung geschaffen hatte, dort, wo zuvor ein Großteil meiner selbst gewesen war, bevor er es verdrängt hatte. Etwas Neues nahm in mir Gestalt an. Im Augenblick konnte ich seine Form nicht mehr als erahnen. Es flog pfeilschnell durchs Nichts, doch das Ziel kannte ich noch nicht.
Erst als Lena mich an den Schultern rüttelte, wurde mir bewusst, dass ich sie vollkommen vergessen hatte. Wie lange wir schon voreinander saßen, konnte ich nicht sagen, nur dass Lena in der Zwischenzeit geweint haben musste. Da waren noch ein paar Schlieren auf ihren Wangen. Sie blieben farblos, obwohl vieles andere in intensiveren Farben auftrumpfte.
»Ich werde mich für dich erinnern«, sagte sie, während ich fasziniert das Glitzern betrachtete, das der blassrote Sonnenaufgang auf die Wasseroberfläche zauberte. »Auch wenn er es dich vergessen lässt, ich weiß, wer du bist.«