27 Das Netz wird ausgeworfen
»Das ist nicht gut, gar nicht gut. Ich tipp mal mehr so auf volle Katastrophe. Dieser Mistkerl ist viel zu erholt und aktiv, das macht mich ganz krank, ehrlich. Ich meine, was treibt der unentwegt? Scheiße.«
Lena stand neben mir auf dem von einer durchsichtigen Blase umgebenen Balkon, der seit Neustem meine Kammer zierte und die Aussicht auf noch mehr Wolken bot. Dabei knabberte sie an ihren Fingernägeln.
Unvermittelt drängte sich mir das Bild von einer wesentlich jüngeren Lena auf, die eine Grimasse zog, nachdem sie sich selbst eine bittere Tinktur auf ihre bis aufs Nagelbett abgeknabberten Nägel geschmiert hatte, was sie jedoch nicht vom Knabbern abhielt. Ich hatte mich damals darüber amüsiert, wie ernst Lena ihren Kampf gegen diese schlechte Angewohnheit nahm. Und eigentlich hatte sie ihn auch gewonnen … bis jetzt.
Die Erinnerung flackerte auf und war dann wieder verschwunden, bevor ich sie zeitlich einordnen konnte. Wann war das mit dem Nägelknabbern noch einmal gewesen – als sie zwölf war oder ein Jahr später, als ihre Eltern eine Ehekrise hatten? Und warum sinnierte ich jetzt über eine solche Nebensächlichkeit?
So ging es mir schon den ganzen Tag: Ständig klopften umherirrende Erinnerungsfetzen an, denen der Halt verloren gegangen war. Ich hatte zweifelsfrei ein Problem. Verunsichert tastete ich meine Vergangenheit ab und stellte fest, dass sie einem von Motten zerfressenen Tuch glich. Zwar konnte ich mich an die Fakten erinnern, aber ich konnte sie nicht mehr einordnen. Als hätte eine andere diese Dinge erlebt, eine Fremde, die ich nicht zu fassen bekam.
Allerdings zerbrach ich mir nicht allzu lang den Kopf darüber. Denn viel mehr als das beschäftigte mich dieses unbekannte Element in meinem Inneren, das dem Kern meines Ichs immer näher kam. Außerdem drehte Nikolai gerade auf. Nachdem er mitten in der Nacht so unsanft von mir geweckt worden war, schien er sich zu Lenas und meinem Schrecken von unserer letzten Berührung vollends erholt zu haben. Seitdem wirbelte er herum und manifestierte überall seine neu gewonnene Energie. Während ich am Wasserlauf, vom Wahnsinn getrieben, mein Kleid zu reinigen versuchte, fügte er dem gläsernen Gebilde hoch am Himmel eine weitere Ebene zu. Nun war es nicht länger ein Gefängnis, sondern eine Festung aus Glas. Eine ziemlich beeindruckende Festung, was Lena dazu brachte, ihre Nägel vor Anspannung zu ruinieren und mich … keine Ahnung, was sein Tun bei mir auslöste.
Lena schüttelte den Kopf. »Was soll dieser ganze Aufwand? Ich werde echt nicht schlau aus dem Kerl. Eine solche Aufmerksamkeit zu erregen, ist in seiner Situation doch nicht besonders schlau. Mann, ich kann es wirklich nicht ausstehen, ihn so umtriebig zu sehen. Leidend und apathisch war er mir definitiv lieber. Der führt was im Schilde, so viel steht fest. Was meinst du, warum macht der sein Häuschen hübsch? Sam wird doch nicht davon absehen, es niederzureißen, nur weil es den ersten Platz bei Schöner Wohnen gewinnen würde.«
Ich musste mich regelrecht dazu zwingen, meinen Blick von Nikolai zu lösen, wie er mit weit geöffneten Schwingen durch die Wolken stob, und stattdessen Lena anzusehen. Was war sie doch für ein seltsames Mädchen … Seltsam und anhänglich, geradezu lästig. Wie eine geheime Losung schlich sich dieser Gedanke ein, und erst auf den zweiten Blick begriff ich, dass es sich nicht um meine Meinung, sondern um Nikolais handelte. Sein Eindruck von Lena war so verkleidet in meinen Gedanken aufgetaucht, dass ich ihn für meinen eigenen gehalten hatte. Die Überlagerung unserer Bewusstseinsebenen war so weit fortgeschritten, dass ich die Unterschiede kaum noch auszumachen imstande war.
Mir gefror das Blut. Im Moment begriff ich noch, dass es sich nicht um meinen Gedanken handelte. Aber wie lange noch?
»Du irrst dich«, ging ich auf Lenas Überlegung ein. »Nikolai handelt mit Bedacht, denn Spielereien wie dieser Balkon sind nur Zuckerwerk, unter dem sich etwas ganz anderes verbirgt: ein schwer einzunehmendes Bauwerk. Du solltest dich nicht von der Transparenz des Materials täuschen lassen, es ist bestimmt nicht weniger unnachgiebig als Nikolais Wille. Außerdem wird niemand die gläserne Festung erkennen, der nicht weiß, wonach er Ausschau halten muss. Sie ist von außen mit einer Silberschicht überzogen, das macht sie zu einer Art Spiegel, der allen Ahnungslosen nur den Himmel zeigt.« Ahnungslosen wie Sam, denen kein Ortungssignal wie ein Bernsteinring zur Verfügung stand.
Zwischen Lenas Augenbrauen grub sich eine tiefe Falte. »Woher, zum Teufel, weißt du das mit der Spiegeloberfläche?«
Wieso, zum Teufel, weißt du das nicht, du dummes Huhn?, wollte ich sie schon anblaffen, als mir klar wurde, dass mein Begreifen tatsächlich merkwürdig war. Ein weiterer eingepflanzter Gedanke, das musste es sein. Doch erzählen wollte ich das Lena nicht, sie war ohnehin schon auf dem Kriegspfad. Wenn sie erfuhr, dass diese Schattenschwinge, die da wie ein Silberschweif den Himmel durchkreuzte, meine eigenen Gedanken überlagerte, würde sie sich bestimmt zu einer Dummheit hinreißen lassen. Was vollkommen unnötig war, denn ändern konnte sie ohnehin nichts daran.
»Es scheint mir ganz selbstverständlich, dass Nikolai auf diese Weise vorgeht«, redete ich mich heraus. »Genau wie es mich nicht überrascht, dass er nach unserer letzten Berührung damit beginnt, sein Reich auszubauen und uns abzuschirmen. Er erstarkt.«
»Während du schwindest.«
Der Kummer, der in ihrer Behauptung mitschwang, setzte mir zu, allerdings nur kurz. Dann relativierte eine andere Empfindung meine Reaktion, als wäre auch mein Ich von einer Silberschicht umgeben, an der alles abglitt. Eigentlich hätte ich das Verlangen verspüren sollen, diese abzukratzen, aber es stellte sich nicht ein. Ich war zur Zuschauerin in meinem inneren Haus geworden und vermochte mich noch nicht einmal darüber aufzuregen.
»Siehst du, du leugnest es noch nicht einmal, dass du nur noch ein blasses Abbild deiner selbst bist«, setzte Lena nach.
»Unsinn. Ich schwinde nicht, sondern ich wandle mich. Das muss doch nicht zwangsläufig verkehrt sein.«
Die Worte waren heraus, bevor ich auch nur eine Sekunde über sie nachgedacht hatte. Das änderte jedoch nichts daran, dass sie der Wahrheit entsprachen, denn trotz meiner Verwirrung fühlte ich mich erstaunlich gut. Meine Zerrissenheit schwand, und ich mochte mich zunehmend weniger mit meinen konfusen Erinnerungsbrocken auseinandersetzen. Stattdessen wollte ich mich frei und unbelastet fühlen, offen für den neuen Weg, der sich am Horizont abzeichnete. Meine Vergangenheit erschien mir zu fern, um mich an ihr festzuhalten. Hatte Nikolais Berührung also auch ihr Gutes, indem sie mir einiges von den Dingen ersparte, die mir ansonsten unablässig durch den Kopf gingen? Immer stärker wünschte ich mir, so weit und offen zu sein wie der Himmel.
Zuerst sah es so aus, als wollte Lena weiterdiskutieren, dann besann sie sich anders. »Hast du gewusst, dass die Berührung der Schattenschwingen in der Sphäre eine solche Wirkung auf Menschen hat?«
»Nun, dass es eine Wechselwirkung gibt, davon hatte Sam mir erzählt. Und ich habe eine Ahnung davon bekommen, als Ranuken und Shirin mich angefasst haben – wobei sie natürlich niemals von mir genommen haben. Samuels Berührung …« Ich unterbrach mich. Nicht bloß, weil ich eigentlich nie »Samuel« sagte, sondern auch, weil ich keine Ahnung hatte, wie ich seine Berührung in der Sphäre beschreiben sollte. Ich umkreiste die Erinnerung, doch sie entglitt mit immerzu, bis ich das Interesse an ihr verlor. »Allerdings glaube ich, dass das, was sich zwischen Nikolai und mir abspielt, weit über das hinausgeht, was früher durch die Verbindung zwischen Mensch und Schattenschwinge passiert ist. Sie waren miteinander verbunden und haben einander gestärkt, aber der eine ist niemals im anderen aufgegangen, es waren immer zwei Teile, die ein Ganzes ergeben. Nikolai hingegen sucht nicht nach seiner anderen Hälfte, vielleicht, weil er selbst bereits zweigeteilt ist: Seele, Körper und Aura sind bei ihm nicht eins. Das schwächt ihn und macht ihn zugleich stärker, denn darauf, von anderen zu nehmen, beruhte ja seine frühere Macht als Schatten. Damals hat er sich allerdings nie wirklich auf eine Person eingelassen und genau so sollte es ja auch dieses Mal sein. Sein ursprünglicher Plan bestand darin, die starke Verbindung zwischen Sam und mir zu seinem Vorteil zu nutzen. Jetzt hat er nur mich … und ich nur ihn.«
»Quark, du brauchst Nikolai ungefähr so nötig wie ein drittes Auge. Was bringt dich bloß dazu, solche Dinge zu behaupten? Dieses Schwein hat nichts anderes als Verachtung verdient, aber du sprichst seinen Namen aus, als wäre er etwas Besonderes. Ich verstehe ja, dass er stärker ist als du, aber du könntest dich trotzdem dagegen wehren, verflucht!«
Es gelang mir nicht, das Beben ihrer Nasenflügel richtig zu deuten: Bebten sie aus Wut oder weil sie kurz vorm Weinen stand? Ich begriff sie nicht. »Das sagst du nur, weil du nicht die geringste Ahnung hast, was in mir vor sich geht, wie es sich anfühlt, Nikolai in sich zu haben.«
»Wenn man sich euch beide so anschaut, dann hast du ihn bald wirklich in dir. Und damit meine ich nicht nur seinen aufdringlichen Geist.«
»Das ist absolut lächerlich. Warum provozierst du mich?«
»Damit du endlich aufwachst! Ich halte das einfach nicht aus, wie rasch er dich umkrempelt und wie du auch noch gute Miene zu seinem Drecksspiel machst. Schimpf doch mal ordentlich auf ihn, sag, dass er eine fiese, schleimige Ratte ist, die nichts anderes verdient, als von Sam ans andere Ende der Galaxis geballert zu werden. Los, Mila, sag es!«
Lena schüttelte die Fäuste, und ich wäre kaum überrascht gewesen, wenn sie mir aus lauter Frust einen Schlag ins Gesicht versetzt hätte.
Doch so weit kam es nicht, denn wir wurden beide abgelenkt.
In die Wolkendecke, die an diesem Nachmittag nicht mehr als ein leicht gewobener Nebelvorhang war, kam mit einem Mal Bewegung. Allerdings nur an einer einzigen Stelle. Die Wolken verdunkelten sich, bauschten sich auf wie vom Sturm erfasst, während sich in ihrer Mitte ein schwarzes Auge abzeichnete, aus dem plötzlich eine Gestalt mit gewitterdunklen Schwingen hervortrat.
»Wer zur Hölle ist das?«
Ich stand mit offenem Mund neben Lena und betrachtete die unbekannte Schattenschwinge, die in rasantem Flug auf den gläsernen Käfig zuhielt. Es war ein Mädchen, höchstens ein oder zwei Jahre älter als wir, ihre Miene voller Entschlossenheit, ihre rote Mähne bauschte im Wind. Bei ihrem Anblick hörte ich plötzlich Sams Worte, mit denen er mir von dieser Schattenschwinge, die ihn durchaus beeindruckt hatte, erzählte. Seine Stimme klang ganz klar in mir und ließ mich meine Verwirrung vergessen. Es mochte nur die Erinnerung an seine Stimme sein, aber sie bewirkte, dass ich wieder wusste, wer ich war. Vielleicht nur für einige wenige Augenblicke, aber ich würde etwas daraus machen, solange es anhielt.
»Das ist Solveig«, erklärte ich Lena. »Sam hat mir von ihr erzählt. Sie gehört zu den Schattenschwingen, die erst nach dem Krieg in die Sphäre gekommen sind und denen es nicht schmeckt, dass die Alten sie all die Jahre über in Unwissenheit über ihre Fähigkeiten gehalten haben. Ihre Pforte sind die Wolken, sie hat versucht, eine feste und für alle sichtbare Verbindung zwischen unseren Welten aufzubauen. Asami hat sie wohl ziemlich rüde von diesem Plan abgebracht.«
»Dieser Asami weiß, wie man sich Freunde macht. Ich würde zu gern mal einen Blick auf den Knaben erhaschen, der dafür sorgt, dass sich so ein ›Ich könnte ihm die Augen auskratzen‹-Ton in deine Stimme schleicht, obwohl du ansonsten gerade wie ein Pudding bist, den man nicht an die Wand nageln kann.«
Trotz Lenas Sticheleien musste ich lachen. Ich war also ein schlabberiger Pudding – auf solche Ideen kam auch nur meine bescheuerte Freundin. »Hör endlich auf, auf mir rumzuhacken. Außerdem ist es jetzt viel wichtiger herauszufinden, was Solveig hier will.«
»Na, ich glaub ja nicht, dass sie hergekommen ist, um Nikolai zu seinem schicken Glaspalast zu gratulieren. Diese Solveig sieht ganz schön biestig aus.«
»Bestimmt hat er sie eingeladen, denn ansonsten könnte sie die Festung doch gar nicht sehen.«
Lena klatschte wie ein Kind in die Hände. Die wieder erwachende Vertrautheit zwischen uns schien sie regelrecht zu beflügeln. »Oh, eine Party, super! Ob wir wohl auch eingeladen sind? Das letzte Mal, als wir mit Niki-Schatz zusammen gefeiert haben, war ja brandheiß.«
Ich erwiderte Lenas böses Grinsen und für einen Moment war ich wieder von ganzem Herzen ihre Freundin. Auf meine Erinnerung war nur noch bedingt Verlass, aber für die Gegenwart reichte uns das.
»Wir sollten es wie die Profis machen: den richtigen Moment abwarten, in dem einem die komplette Aufmerksamkeit sicher ist, und dann die Tanzfläche stürmen.«
Lenas Grinsen nahm diabolische Ausmaße an. »Kluges Mädchen. Wir halten uns schön brav zurück, bis wir wissen, was hier abgeht. Und dann – peng!«
Ich nickte lediglich, denn nun flog Nikolai auf Solveig zu. Sie machte keinen sonderlich begeisterten Eindruck, beste Kumpels waren die beiden offenbar nicht. Ihre Miene änderte sich erst, als sie gemeinsam auf die Brüstung der großen Halle zuhielten und Solveig einen Eindruck von der Größe des Glasgebildes erhielt. Mit einem solchen Kunstwerk hatte sie wohl kaum gerechnet, schließlich galt Nikolai unter den Schattenschwingen als Tunichtgut. Rasch warf ich noch einen Blick auf Solveig, bevor sie aus meinem Sichtfeld verschwand. Als ihr Erdbeermund vor Erstaunen ein rundes »O« formte, sah sie richtig jung aus. Keine Frage, Nikolai hatte sich wirklich ins Zeug gelegt, um sie zu beeindrucken.
»Lass uns die Wendeltreppe runterschleichen«, sagte Lena, die bereits die Bernsteinkette hochhob, damit sie beim Gehen kein Geräusch auf dem Boden verursachte. Obwohl die Kette ausreichend lang war, hatte die Spange, mit der sie über ihrem Fuß befestigt war, die Haut aufgerieben. Bislang hatte Lena nicht ein einziges Mal darüber geklagt, dabei mussten ihr die teils verkrusteten und teils offenen Stellen immerzu Schmerzen zufügen. »Falls Nikolai uns beim Lauschen erwischt, schreien wir geradewegs heraus, dass er die Reinkarnation des Schattens ist, okay?«
»So laut, wie es nur geht«, versprach ich.
Leise wie die Mäuschen tapsten Lena und ich die Wendeltreppe hinunter und verharrten dann stocksteif auf den letzten Stufen, weil die Wolke, die den Gang umgab und uns bislang geschützt hatte, vom Wind davongetrieben wurde. Dieses gläserne Gebilde war wirklich ein Albtraum für jeden, der Schutz vor neugierigen Blicken suchte. Nikolai und sein Besuch standen zwar ein ganzes Stück von uns entfernt, aber sie brauchten nur einmal zur Seite zu schauen, dann wäre unser kleiner Lauschangriff passé.
»… warum überrascht es dich, dass die Aufbruchsstimmung, von der alle Jüngeren unter uns Schattenschwingen ergriffen sind, auch mich beflügelt?«, fragte Nikolai gerade mit so viel ehrlichem Erstaunen, dass ich ein Schnaufen nur mit Mühe unterdrücken konnte. Ein super Schauspieler war er also obendrein.
Solveig zuckte mit den Schultern. »Du hast recht, der Energie, die durch die Wahrheit über unsere eigentliche Natur freigesetzt wurde, kann sich keiner entziehen. Es war ein riesiger Befreiungsschlag, endlich zu wissen, dass wir zu mehr erschaffen wurden als dazu, bis in alle Ewigkeit ein dröges Dasein zu fristen. Allein, was du hier aufgebaut hast, beweist doch, zu welchen großartigen Dingen wir imstande sind.«
»Wenn man uns lässt«, streute Nikolai kräftig Salz in die Wunde.
Prompt ließ Solveig ein Knurren vernehmen, bei dem Lena nach meiner Hand griff. Dieses Mädchen mochte jung aussehen oder es vielleicht sogar sein, aber das machte sie keineswegs ungefährlich. Schließlich musste es einen Grund geben, warum Nikolai sich unter all den Schattenschwingen ausgerechnet für sie als Bündnispartnerin entschieden hatte. Während Lena nervös mit der Bernsteinkette herumspielte, sah ich mich um. Wir brauchten ein Versteck, und zwar sofort. Mein Blick fiel auf eine der Wasserquellen, die ein kunstvoller Rahmen umgab, in dem sich das Glitzern des Wassers spiegelte. Lena hatte sie verächtlich »Nikis Brunnen des Unvergänglichen Kitsches« getauft, aber der Rahmen würde uns einen sichereren Schutz bieten als die unzuverlässigen Wolken. Mit Wahnsinnsherzklopfen zog ich Lena hinter mir her.
»Ich werde es diesem Hurensohn Asami nie verzeihen, dass er mein Wolkenportal blockiert hat. Als wäre ich ein dummes Kind, dem er einfach sein Spielzeug wegnehmen kann, nur weil er es für gefährlich hält. Dafür wird er bezahlen, er und seine gesamte Sippschaft aus alten Knochen, die uns niederhalten wollen.«
»Es sind nicht nur die Alten, die uns unterdrücken. Selbst unter uns Jüngeren gibt es solche, die die Wiederaufnahme der alten Künste und unserer Rolle in beiden Welten verhindern wollen.«
Daher wehte also der Wind. Gleich würde er gegen Sam ins Feld ziehen, ihn als Feind darstellen. Abrupt blieb ich stehen und brachte dadurch Lena aus dem Gleichgewicht. Sie fing sich sogleich wieder, aber die Kette raschelte über den Boden. Nikolais Blick wanderte über seine Schulter, aber kurz bevor er uns erreichte, redete Solveig weiter, und seine Aufmerksamkeit galt sofort wieder ihr.
»Uns beide verbindet offenbar sehr viel: der Wunsch, die eigenen Fähigkeiten zu erforschen und sich dabei auf keinen Fall mehr Einschränkungen aufzuerlegen, nur weil irgendwer das für richtig hält. Außerdem hast du eine besondere Beziehung zum Wolkenreich, wie ich sehe.« Sie legte ihre Hand auf Nikolais Unterarm, was dieser mit einem kühlen Lächeln geschehen ließ.
»Es hat für mich nie zur Debatte gestanden, woanders als zwischen den Wolken zu siedeln.«
Ich fragte mich, worauf die kämpferische Solveig bei Nikolai mehr hereinfiel: auf sein engelsgleiches Aussehen oder seine Vorliebe für luftige Höhen? Beides setzte er jedenfalls gnadenlos ein, um sie einzuwickeln.
Lena und ich fanden im letzten Moment Zuflucht hinter der Umrahmung der Quelle, denn Solveig wendete sich unvermittelt von Nikolai ab und verschränkte die Arme vor der Brust.
»Eine Sache beunruhigt mich allerdings. Es heißt, deine Pforte sei mit der von Kastor verbunden und ihr wärt deshalb wie Brüder … Er gehört zwar nicht direkt den Wächtern an, aber ich will trotzdem wissen, auf wessen Seite du stehst, falls Kastor sich für die falsche, nämlich für Asamis Seite, entscheidet.«
Es kostete mich unendlich viel Kraft, still zu halten, während Nikolai bedächtig nickte, als würde er der Frage Respekt zollen. Dabei lachte er sich vermutlich gerade ins Fäustchen, wie leicht diese ahnungslose Solveig es ihm machte. Wieder einmal zeigte sich, dass der Schaden, den die Wächter mit ihrer Unterdrückung allen Wissens hervorgerufen hatten, die Vorteile bei Weitem überwog. Die friedliche Phase der Sphäre war ein Dornröschenschlaf gewesen, nur dass nach dem Erwachen nicht der Prinz seine Aufwartung machte, sondern die böse Fee das Regiment an sich gerissen hatte. Wobei diese böse Fee die entzückendsten Blondlocken ihr Eigen nannte und gerade erst dabei war, ihre Macht zu etablieren. Solveig war außerstande zu erkennen, wer in Wirklichkeit vor ihr stand, selbst Nikolais seltsame Aura irritierte sie keineswegs. Wäre in der Vergangenheit nicht ein solches Geheimnis um die Pforten der einzelnen Schattenschwingen gemacht worden, hätte sie gewusst, dass Kastors Pforte das Feuer gewesen war und Nikolais Pforte, da sie ja mit seiner verbunden war, kaum in luftigen Höhen, umgeben von Wolken, existieren konnte.
»Mein alter Freund Kastor …«, setzte Nikolai mit gespielter Schwermut an. »Kastors und meine Wege haben sich getrennt, endgültig. Es gibt nichts, das uns wieder zusammenbringen könnte. Auch wenn wir früher wie Brüder gewesen sind, so liegen jetzt ganze Welten zwischen uns. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Solveig. Aus dieser Richtung droht unserem Bündnis keine Gefahr.«
Das Wort »Bündnis« aus seinem Mund zu hören, war wie ein Schlag in den Magen. Ein Bündnis einzugehen, dazu war Nikolai genau so wenig imstande wie zu einer selbstlosen Handlung. Der Pfeil unterhalb seines Herzens war Beweis genug dafür, dass er alles seinem einen Ziel unterordnete: alle Macht für ihn, während alle anderen – ob Mensch oder Schattenschwinge – in den Staub geworfen wurden.
Aber Solveig erkannte die Bedeutung des Pfeils nicht, obwohl sie ihn unmöglich übersehen haben konnte, so wie sie Nikolai von Kopf bis Fuß musterte.
Dann sagte sie die entscheidenden Worte: »Ich vertraue dir. Du bist einer von uns. Wenn du damit einverstanden bist, werde ich die anderen sammeln und mit ihnen hierher kommen. Deine Spiegelfestung wäre ein perfekter Treffpunkt für uns, wo sie von außen doch niemand entdecken kann.«
»Das halte ich für eine gute Idee.« In Nikolais Stimme lag tiefe Genugtuung. »Du und deine Freunde, ihr könnt so lange bleiben, wie ihr wollt.«
Zum ersten Mal schlich sich ein Lächeln auf Solveigs Gesicht, das verriet, dass es Nikolai tatsächlich gelungen war, ihre harte Schale zu knacken. Sie sah ihn auf die gleiche Art an wie ein ganz normales Mädchen, das gerade dabei war, sich in einen Jungen zu verlieben. »Das Silber, das du für die Außenschicht benutzt hast … Wofür steht es? Ist deine Pforte etwa ein Spiegel?«, fragte sie fast zärtlich.
Nikolai betrachtete sie, als wollte er abwägen, wie viel er ihr verraten musste, damit sie keinen Verdacht schöpfte. »Es geht um nächtliche Spiegelungen«, sagte er vage.
Solveig jedoch reichte diese Aussage, sie nahm sich aus seiner Antwort einfach heraus, was sie brauchte. »Die nächtliche Spiegelung des wolkenverhangenen Himmels etwa? Irgendwie passt das zu dir … Man sieht den Sturm in deinem Inneren erst, wenn man dich genau beobachtet. Kein Wunder, dass die anderen von dir bloß zu erzählen wussten, du wärst ein Schwächling, dem das Leben zuviel ist. Die haben einfach nicht richtig hingeschaut.«
Nikolai vermied es selbstverständlich, diese Fehleinschätzung zu korrigieren. Stattdessen blickte er sie mit seinen Silberaugen an, die für Solveig zweifelsohne nicht weniger betörend waren, weil sie statt Silber nur Grau sah. »Während du deine Leute sammelst, werde ich zusehen, dass ich die Halle für ihren Empfang vorbereite. Vielleicht eine Art Thing, eine Versammlung, bei der sich über uns der Himmel öffnet.«
»Oder ein großer Tisch, wie in der Sage um König Artus. Die hat mir immer besonders gut gefallen, wenn meine Großmutter mir Märchen erzählt hat.«
Während Solveig die Aufregung anzusehen war, zuckte Nikolai bloß mit der Schulter. »Ein Tisch also.«
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Nachdem die beiden Verschwörer ihrer Wege gegangen waren, brach Lena als Erstes das Schweigen: »Da hat sich die coole Lady innerhalb einiger Niki-Special-Augenaufschläge glatt in ein verknalltes Huhn verwandelt. Verflixt und zugenäht, was soll das denn? So doof kann die Frau doch echt nicht sein, dass sie nicht mitbekommt, dass an dem Kerl nix koscher ist. Allein die billige Ausflucht über seine Pforte. Einverstanden, Nikolai sieht scharf aus, jedenfalls wenn man auf diese Engelsnummer steht – aber so scharf, dass frau gleich ihren Verstand abschaltet, nun auch wieder nicht.«
Ich interessierte mich entschieden weniger für Solveigs Unvermögen, ihre Hormone unter Kontrolle zu behalten. »Nikolai wird Solveig und ihr Gefolge gegen Sam aufhetzen, er hat es bereits angedeutet, als er über die jüngeren Schattenschwingen sprach, die angeblich die Entwicklung aufhalten wollen. Wenn Nikolai sie davon überzeugt, dass Sam ihr Gegner ist, wird er vielleicht keine Zeit haben, ihnen das Gegenteil zu beweisen, wenn er kommt. Lena, bei dieser Versammlung muss ich etwas unternehmen. Unbedingt.«