6 Das Wolkenportal
Sam
Es ist nicht so, dass ich etwas gegen’s Paddeln hätte. Warum auch? Es hat mit Wasser und Bewegung zu tun, beides Dinge, die ich sehr mag. Nur mit Geschwindigkeit leider nicht, aber man kann halt nicht alles haben.
An diesem Nachmittag herrschte außerdem das perfekte Wetter für einen solchen Ausflug: Der Himmel war von einer leichten Wolkendecke bedeckt, die immer wieder einmal zerfaserte und vereinzelte Sonnenstrahlen auf die gekräuselten Wellen fallen ließ. Dieses Lichtspiel oder allein der beständige Tanz des Meeres hätten für gewöhnlich ausgereicht, um mich friedlich zu stimmen.
Tat es aber nicht.
Ich war schlecht gelaunt, und egal, wie sehr ich mich bemühte, es mir nicht anmerken zu lassen, fasste jeder einzelne Teilnehmer aus der Paddelgruppe mich mit Samthandschuhen an. Besonders diejenigen, die mich schon von Surfkursen kannten, wirkten ernsthaft verunsichert. Wahrscheinlich fragten sie sich, ob ich der böse Zwillingsbruder von dem netten Kerl war, der ihnen ansonsten geduldig erklärte, wie man beim Surfen das Gleichgewicht hielt und zugleich tausend andere Dinge berücksichtigte. Vermutlich sagte ihnen ein Überlebensinstinkt: Ärgere keine Schattenschwinge, die eh schon angefressen ist. Allein dieser alberne Gedanke brachte mich noch mehr auf, denn natürlich hatte in dieser Gruppe niemand außer mir die geringste Ahnung, dass es Schattenschwingen gab.
Während ich einen fünfzehnjährigen Jungen mit dem schönen Spitznamen »Breiti« darauf aufmerksam machte, dass alle anderen es nicht so witzig fanden, durch seine Paddelei nassgespritzt zu werden, lag Tonis Stirn in Falten, was für sein sonniges Gemüt eher ungewöhnlich war. Gut möglich, dass es damit zusammenhing, dass der Junge nach meiner Ansage den Kopf so tief zwischen die Schultern zog, als versuchte er sich in sich selbst zu verkriechen.
Toni winkte mir zu, um meine Aufmerksamkeit zu erlangen. Er lächelte zwar, aber das sah nicht sonderlich echt aus. Tja, offenbar bereuten wir es beide, dass ich mich zu diesem Ausflug hatte breitschlagen lassen. »Mensch, Sammy. Du bist doch der beste Kumpel von Rufus Viridis, da müsstest du doch eigentlich wissen, wie man mit den Kids umgeht.«
»So, meinst du?« Meine Antwort war eher ein Knurren. Ich ging mir langsam selbst auf den Keks.
Toni checkte mit einem Blick in die Runde, ob alles okay war bei der Gruppe, dann paddelte er mit seinem Kajak direkt an meine Seite und flüsterte: »Hör mal, man muss kein Hellseher sein, um zu kapieren, dass du die Leute mit deiner Art vor den Kopf stößt. Ein bisschen schlechte Laune ist ja okay, aber bei dir kommt das nicht wie ein bisschen rüber, sondern richtig heftig. So ist das bei dir, entweder wirkst du extrem sympathisch oder … erschreckend bis furchteinflößend. Ja mei, ist schon klar, dass es dir nicht geschmeckt hat, die Mila allein im Bett zurückzulassen. Tu uns trotzdem den Gefallen und hör auf, solche dräuenden Schwingungen in den Kosmos zu senden. Das grenzt ja an Stimmungsverstrahlung, du Umweltsünder.«
Ich musste gegen meinen Willen grinsen – allein schon, wie Toni mit seinem klangvollen Akzent »dräuende Schwingungen« aussprach, war große Klasse. »Alles klar, ich reiß mich zusammen. Jetzt gleich, hier und sofort. Tut mir leid, dass ich derartig extrem rüberkomme, das lag wirklich nicht in meiner Absicht.«
Es war mein absoluter Ernst, deshalb blendete ich meinen Frust fortan aus und konzentrierte mich auf meine Aufgabe. Sogar das Meeresfunkeln, das mich geradezu herausforderte, darin einzutauchen, ignorierte ich. Das klappte sogar ganz gut, bis Suse, die mit ihrem Ehemann meinen Fortgeschrittenenkurs für Windsurfer besuchte, auf den Horizont zeigte.
»Das ist ja unglaublich, guckt euch das an! Die Wolken sehen aus, als wären sie riesige Bausteine, die sich zu einem Turm aufstapeln. Das sieht unglaublich echt aus.«
Quälend langsam wendete ich meinen Kopf in die Richtung, in die Suse mit fasziniertem Gesichtsausdruck deutete. Um mich herum schnappte die gesamte Paddeltruppe nach Luft. Ohne es gesehen zu haben, ahnte ich, was die Menschen um mich herum in Verzückung und noch mehr in Ehrfurcht versetzte: ein Wunder. Ein Wunder, das aus meiner Sicht nur ein Zeugnis dafür war, dass ich die Welt der Schattenschwingen zwar verlassen hatte, sie deshalb aber noch lange nicht meiner Vergangenheit angehörte.
In weiter Ferne am Horizont zwischen Meeresspiegel und der Himmelshöhe türmten sich Wolken von dunkelster Gewitterfarbe bis hin zu Nebelgrau auf. Jedoch keineswegs beliebig, sondern als habe sie jemand einem Bauplan gemäß zu einem Gebäude zusammengefügt. Etage für Etage ragte es auf, eindeutig von einem gestaltenden Willen angeleitet. Wolken taten so etwas nicht von allein, nein, ganz bestimmt nicht. Die Menschen um mich herum mochten diese Sensation für eine Sinnestäuschung halten, die durch ein ungewöhnliches Zusammentreffen der Naturgewalten zustande kam, aber ich konnte mich damit leider nicht trösten, dafür sah dieses im Entstehen begriffene Wolkenschloss für meine Schattenschwingen-Sinne zu überzeugend aus. Die Kajaks, die gerade wieder einmal durch den Schleier hervorbrechende Sonne und sogar die seitlich von uns liegenden Klippen gerieten angesichts dieses Werks unscharf, als wäre die Realität nur ein blasser Traum und der Wolkenpalast das einzig Reale.
Wie besessen rieb ich meine Augen in der Hoffnung, die aus den Fugen geratene Welt würde wieder ihre richtige Position einnehmen. Es konnte doch unmöglich wahr sein, dass sich am Horizont von St. Martin ein Gebilde aus Schattenschwingenmagie erhob! Denn um nichts anderes handelte es sich, das war mir so klar wie die Tatsache, dass die Pforte in die Sphäre sich hinter mir nicht geschlossen hatte.
»Wir müssen da unbedingt hin, sofort!«, beschloss Breiti und begann auch schon wie ein Wilder zu paddeln. Auf seinem Gesicht hatte sich ein ekstatischer Ausdruck ausgebreitet, als wäre ihm nach jahrelanger Meditation endlich eine Vision erschienen. Offenbar hielten die Menschen diesen sich immer weiter auftürmenden Wolkenpalast ebenfalls nicht für ein Naturschauspiel.
Ehe ich Breiti zur Räson pfeifen konnte, brach um mich herum ein Tumult aus, als alle – sogar der ansonsten stets gelassene Toni – ihre Paddel ins Wasser stießen und versuchten, so schnell wie möglich voranzukommen. Nichts anderes schien mehr von Bedeutung zu sein, der Wahn hatte von ihnen Besitz ergriffen. Ich sah nur weit aufgerissene Münder, aus denen Begeisterungslaute drangen, und fiebrige Blicke, die nicht einmal registrierten, wenn sie ein anderes Kajak streiften, so gefesselt hingen sie am Horizont.
»Stopp, anhalten!«, brüllte ich, ohne dass jemand reagierte. »Was auch immer es ist, es ist viel zu weit weg. Auf diese Weise werdet ihr es niemals erreichen. Ihr sitzt in Kajaks und nicht etwa in Hochseejachten. Das ist der totale Blöds…«
Weiter kam ich nicht, weil ein älterer Herr, der seinen Mangel an Technik durch Entschlossenheit wettmachte, mein Kajak rammte. Der Aufprall geschah mit einer solchen Wucht, dass das Kajak auf die Seite kippte und ich hinausfiel.
In der Sekunde, in der ich die Wassernaht durchschnitt, jene unbeschreiblich feine Grenze zwischen der Sphäre und der Menschenwelt, gab ich fast der Versuchung nach, in die Sphäre zu wechseln. Ich wollte wissen, wer die Frechheit oder auch Dummheit besaß, in der Menschenwelt gut sichtbare Wolkentürmchen zu bauen. Der Drang war unermesslich groß, mir diese Schattenschwinge zu schnappen und etwas mit ihr anzustellen, auf das nicht einmal Asami, König der Bestrafung, verfallen wäre.
Doch ich tat es nicht.
Stattdessen durchbrach ich die Wellen wie ein Mensch, sank einige Meter tief, bis ich mich weit genug sortiert hatte, um wieder aufzutauchen, wobei ich achtgeben musste, dass keiner der wahnsinnig gewordenen Paddler sein Kajak über meinen Kopf hinweg lenkte, weil außer dem Wolkenzauberwerk ja nichts mehr in ihrem benebelten Verstand existierte.
Als ich auftauchte, scherte ich mich nicht darum, laut nach Luft zu schnappen oder mir das Salzwasser aus den Augen zu wischen, wie ich es ansonsten immer tat in meinen Bemühungen, einen echten Menschen darzustellen. Ich richtete mein Kajak wieder auf, glitt hinein und … hielt erst einmal inne.
So wie alle anderen auch, die in ihren Kajaks saßen und sich nicht rührten.
Denn der Wolkenpalast, der mittlerweile so weit gediehen war, dass man ihn wirklich als Gebäude hätte bezeichnen können, löste sich schlagartig wie eine Fata Morgana in Luft auf. Nicht einmal ein fernes Glitzern blieb zurück. Obwohl ich meine mentalen Türen fest verschlossen hielt, erreichte mich ein Widerhall der Auseinandersetzung, die weit draußen auf dem Meer gerade ihren Höhepunkt gefunden haben musste. Welche Schattenschwinge auch immer wolkenfarbene Augen hatte, sie hatte bei dem Versuch, ihre Pforte nicht nur zu durchschreiten, sondern die Menschenwelt auch wissen zu lassen, dass es diese Pforte gab, soeben einen herben Rückschlag erlitten.
Während ich noch schockiert über dieses Übergreifen der Sphäre auf die Menschenwelt war, kamen die Paddler langsam wieder zu sich und schauten sich verwundert um. Auf einigen Gesichtern breitete sich bereits ein peinlich berührtes Lächeln aus, besonders bei dem Herrn, der mich völlig außer Rand und Band umgepflügt hatte. Mit dem Wolkenpalast war offenbar auch der Wunsch verschwunden, die halbe Nordsee zu durchpaddeln.
»Großartig«, rief ich in die Runde, als wäre nichts geschehen. »Das war doch ein schöner Ausflug und jetzt geht es wieder zurück. Und zwar schleunigst.«
Niemand widersprach mir.