13 Ganz bei dir
Mila
Tapp-tapp.
Was war das?
Ich setzte mich im Bett auf, noch halb in einem Traum gefangen.
Die Leuchtziffern des Weckers standen auf vier Uhr morgens.
Tapp-tapp.
Schon wieder!
Das seltsame Geräusch kam vom Fenster.
Ich schob den Vorhang zur Seite, doch draußen war nichts zu sehen. Dafür fiel mir der trotz Dunkelheit rotgold schimmernde Ring an meiner Hand auf.
Sam musste in der Nähe sein!
Mit einem Griff hatte ich das Fenster aufgerissen und lehnte mich aus dem Rahmen.
Dort unten auf der Terrasse stand wirklich und wahrhaftig Sam, gehüllt in ein sanftes Leuchten. Zuerst dachte ich, er würde mir zuwinken, dann erst begriff ich, dass er mir bedeutete, zu ihm runterzukommen.
Aber gerne doch!
Fast wäre ich in meinem Nachthemd aus dem Zimmer gestürmt, dann fiel mir ein, wie unser letztes Rendezvous im Garten ausgegangen war: Da hatte mein Liebster mich wegen meiner Eisfüße kurzerhand Richtung Haus zurückgetragen. Das würde mir dieses Mal nicht passieren. Hastig schlüpfte ich in Wollsocken und Strickjacke, dann wickelte ich mir ein Tuch um den Hals, obwohl die Kombination wenig sexy aussah. Zu allem Überfluss schnappte ich mir auf dem Weg durchs Wohnzimmer auch noch die Kuscheldecke vom Sofa, bevor ich auf die Terrasse eilte.
Sam begrüßte mich mit einem breiten Grinsen. »Sag bloß, du hast noch irgendwo eine Thermoskanne mit heißem Tee versteckt.«
»Das und eine tragbare Heizmatte. Wo habe ich sie in der Eile bloß hingetan …?«
»Dabei ist es heute Nacht ausgesprochen milde.« Mit dem Zeigefinger lockerte Sam mein Halstuch so weit, dass er meinen Hals liebkosen konnte.
»Ist es so milde, dass du vergessen hast, dein Shirt anzuziehen?«, fragte ich atemlos. »Oder bist du in Ermangelung eines Balkons etwa zum Fenster hochgeflogen, mein Romeo?«
Sam lachte leise. »Das bin tatsächlich.«
Bei diesem Geständnis sackte meine Kinnlade unwillkürlich nach unten. Erst als Sam mir einen leichten Stups unters Kinn gab und meine Zähne aufeinanderstießen, begriff ich, dass ich vor Verblüffung mit offenem Mund dastand.
»Du bist geflogen?«
Abwägend blickte Sam zu meinem Fenster hoch, das immer noch sperrangelweit offen stand. »Über drei Meter hoch springen kann ich aus dem Stand leider nicht …«
»Jetzt mal im Ernst: Du bist hochgeflogen und hast an meine Fensterscheibe geklopft?«
»Ja, das hielt ich für eine gute Idee. Zumindest so lange, bis mir der Gedanke kam, dass dich beim Anblick eines gefiederten Unholds vor deinem Schlafzimmerfenster vor Schreck der Schlag treffen könnte.«
»Der durchfährt mich doch eh jedes Mal, wenn ich dich sehe«, antwortete ich wahrheitsgemäß. Ich schmiegte mich an ihn, nicht nur, weil es so schön war, sondern auch, weil ich einen Moment zum Nachdenken brauchte. Sam hatte seine Schwingen benutzt und sah trotzdem aus, als wäre er mit sich im Reinen. Anscheinend hatte nicht nur ich einen interessanten Nachmittag verlebt.
»Kann es sein, dass wir zwei uns einiges zu erzählen haben?«
Liebevoll strich Sam durch mein Haar, das zum Abstehen neigte, seit meine Mutter es vor einigen Tagen frisch gestutzt hatte. »Reden wäre gut. Falls dir nicht zu kalt ist, würde ich dazu gern draußen bleiben. Irgendwie brauche ich die Weite des Himmels heute Nacht noch mehr als sonst. Komm, lass mich die Decke tragen.«
Während wir durch den nächtlichen Garten spazierten, jagten mir unzählige Gedanken gleichzeitig durch den Kopf, aber als Sam die Decke unter der alten Kastanie ausbreitete, vergaß ich sie alle binnen der Sekunde, in der er willentlich seine Aura aufleuchten ließ.
Hell und klar.
Ich hatte diesen Strahlenkranz unendlich vermisst.
In dem Licht sah ich zu, wie Sam ein Band von seinen Hüften löste und einen schwarzen Stab zum Vorschein brachte. Dann erst begriff ich, dass es kein Stab, sondern ein Schwert war, das in einer dunkel lackierten Scheide steckte. Sorgsam legte er das Schwert vor sich ab und bedeutete mir, ihm gegenüber Platz zu nehmen. Während ich mich hinsetzte, wickelte ich das Tuch von meinem Hals, weil mir mittlerweile ganz heiß war vor Aufregung. Es juckte mich in den Fingern, die samtig glänzende Oberfläche der Scheide zu berühren, aber mein Instinkt riet mir davon ab. Diese Waffe war nicht einfach ein Gegenstand, sie war etwas Besonderes, das erkannte ich, ohne es zu begreifen. Als Sam die Klinge aus der Scheide zog und sie auf seinen Oberschenkeln ablegte, fand ich mich bestätigt. Die leicht gebogene Klinge bestand aus Bernstein, wie er nur in der Sphäre vorkam. Und nichts, das aus diesem Bernstein bestand, war lediglich ein Gegenstand.
»Du trägst ein Schwert bei dir?«
Obwohl wir allein waren, flüsterte ich, denn die Waffe flößte mir Ehrfurcht ein. Sicherlich lag das an dem Respekt, den Sam ihr entgegenbrachte, aber auch an der Gefahr, die von ihr ausging. Die Klinge sah aus, als würde sie durch einen Gegner wie durch Wachs gleiten. Das war zweifelsohne kein dekoratives Schmuckstück, dafür geschaffen, sein Dasein auf einem Podest zu fristen und bestaunt zu werden. Diesem Schwert wohnte eine Aufgabe inne, fast glaubte ich, sie zu erkennen. Wenn ich jetzt meinen Zeichenblock zur Hand gehabt hätte, hätte ich es aufgezeichnet, so, wie ich es immer tat, wenn eine Sache oder Person sich mir offenbarte. Das Schwert war für Sam bestimmt, es war mit ihm verbunden, als gehörten sie zueinander … ein merkwürdiger Gedanke, der mir trotzdem vollkommen logisch erschien. Wenn ich etwas auf meine spezielle Weise sah, hatte ich damit noch nie falsch gelegen – wie damals, als ich Sams Aura bereits gesehen hatte, als er noch nicht einmal wusste, dass es sie überhaupt gab. Auch jetzt war ich mir der Bestimmung des Schwerts sicher.
»Es ist ein Katana, das Langschwert der Samurais.«
Samurais? Das allerdings gefiel mir ganz und gar nicht. Abrupt schlug meine Stimmung um. »Ein japanisches Schwert also. Lass mich raten, wem du es zu verdanken hast: Der Todesengel Asami ist vom Himmel hinabgestiegen und hat es dir gegen deinen Willen in die Hand gedrückt. Ich hoffe, sein himmlischer Auftrag lautet nicht, mir verruchtem Menschenkind den Kopf abzuschlagen.« Es klang witzig, war aber nicht im Geringsten so gemeint, und das wusste Sam auch. Statt einer Antwort warf er mir einen bittenden Blick zu. Ich aber verschränkte demonstrativ die Arme, schließlich hatte ich mit diesem selbst ernannten Samurai bereits einschlägige Erfahrungen gemacht. »Du magst Asami vertrauen, aber von mir kannst du das auf keinen Fall verlangen. Bei einem solchen Menschenhasser weiß man nie. Was wollte der überhaupt von dir, ich meine, außer dich mit einer tödlichen Waffe auszustatten?«
Sams Finger strichen über die Klinge, in der sich der Schein seiner Aura spiegelte.
Plötzlich tat es mir leid, den Moment mit meinem Argwohn ruiniert zu haben, aber allein der Name Asami brachte mein Blut zum Kochen. Diese Schattenschwinge hatte versucht, mich zu töten, weil ich ein Mensch war – so viel stand fest. Mittlerweile kam mir allerdings auch der Verdacht, dass Asami einen ganz anderen Grund hatte, gegen unsere Liebe zu sein. Ein Verdacht, den ich an nichts Richtigem festmachen konnte, höchstens daran, wie Sam jedes Mal reagierte, wenn die Rede auf den Ersten Wächter kam: nämlich ausweichend. Auch jetzt schwieg er und erhärtete damit meine Vermutung.
»Geschenke von jemandem wie Asami anzunehmen, finde ich – ehrlich gesagt – ziemlich naiv. Ich möchte nicht wissen, was du ihm dafür schuldig bist, der drückt dir doch nicht einfach for free ein solches wertvolles Schwert in die Hand.«
Endlich hob Sam den Blick und sah mich eindringlich an. »Asami hat dieses Katana zwar geschaffen, aber es gehört mir. Das war ihm von Anfang an bewusst, sonst hätte er nicht meinen Namen ins Griffstück gemeißelt. Für mich ist es nicht von Bedeutung, wer es geschaffen hat, sondern dass es nach mir ruft. Es ist wie bei unseren Ringen: Bei denen spielt es auch keine Rolle, wem sie einst gehörten, sie symbolisieren unsere Liebe und stärken sie zugleich.«
Bei dem Verweis auf den ursprünglichen Besitzer der Ringe, die uns miteinander verbanden, fuhr ich zusammen, während Sam meinen Blick hielt, um zu unterstreichen, wie gleichgültig ihm der Schatten war. Der Schatten hatte keine Macht mehr, nicht über uns und schon gar nicht über unsere Liebe … Wenn ich das doch auch nur glauben konnte! Aber Glauben und Wissen waren zwei verschiedene Paar Schuhe.
»Ich möchte dem Katana einen Namen geben, damit es wirklich mir gehört, und das wollte ich gern mit dir zusammen tun. Mir ist klar, dass das alles seltsam für dich sein muss, und ich erklär dir gern, wie es dazu gekommen ist, dass ich es überhaupt in Händen halte … falls du die Geduld zum Zuhören aufbringst.«
Verlegen rutschte ich auf der Decke herum. Sam war gekommen, um etwas Wichtiges mit mir zu teilen, und ich spielte mich auf wegen meiner dämlichen Eifersucht, die ich mir selbst nicht anständig erklären konnte. »Tut mir leid, dass ich so patzig gewesen bin. Natürlich höre ich dir zu. Immer. Ich will einfach alles erfahren über dich, jede winzige Kleinigkeit.«
»Gut, das zu wissen.«
Sams Lächeln war so breit und offen, dass ich erleichtert aufatmete. Allerdings nur kurz, denn was er mir dann über Wolkenportale, seinen Besuch in der Sphäre und die gemeinsame Vergangenheit von Menschheit und Schattenschwingen erzählte, sorgte bei mir für Schnappatmung. Es hatte nicht nur ein gemeinsames Leben gegeben, die beiden Welten waren sogar durch Brücken miteinander verbunden gewesen! Am meisten begeisterte mich die Vorstellung, dass die Schattenschwingen sich uns gegenüber nicht als Überlegene aufgespielt, sondern uns als gleichrangig betrachtet hatten. Neben dem, was Sam erlebt und in Erfahrung gebracht hatte, war mein Besuch bei Shirin eine Nebensächlichkeit.
»Ich kann es kaum glauben, was du mir erzählst. Also … Wow! Da lässt man dich an einem harmlosen Paddelausflug teilnehmen und dann kommt so was dabei heraus.«
»Meinst du, es wäre besser gewesen, du hättest mich nicht gehen lassen?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ganz und gar nicht. Mir ist zwar nicht wohl bei dem Gedanken, dass es ausgerechnet Asami war, der die Schattenschwinge in dir wieder hervorgelockt hat, aber ich bin wirklich froh darum. Seit du den Entschluss gefasst hattest, die Sphäre hinter dir zu lassen, habe ich dir immer wieder angemerkt, wie unglücklich dich das macht. Die ganze Zeit über wollte ich dir schon sagen, dass meine Haltung sich mit etwas Abstand zu dem Schock, der mit der Sphäre und noch mehr mit dem Schatten über mich gekommen ist, geändert hat. Mittlerweile sehe ich auch wieder die hellen Seiten der Sphäre. Und ich weiß, erst Schwingen und Aura machen dich vollständig, genau wie es für dich wichtig ist, dich in der Sphäre aufzuhalten.« So weit, so gut. Nun folgte der schwierige Teil.
»Außerdem muss ich dir etwas gestehen«, druckste ich herum und begann nervös am Deckensaum zu zupfen, obwohl Sam mir meinen Besuch bei der Sternwarte wohl kaum übelnehmen würde.
»Mila, komm schon. Erzähl es mir«, forderte Sam mich auf.
Als wenn das so einfach wäre … Ich wünschte mir, er würde das Katana zurück in seine Scheide stecken, damit ich bei ihm Halt suchen konnte. Denn einfach so über die Klinge hinwegzufassen, traute ich mich nicht. Leider interpretierte Sam mein Unwohlsein falsch.
»Egal um was es geht, es wird kaum wilder sein als mein Einknicken auf der ganzen Linie.«
»Wusstest du, dass man eine Aura prägen kann?«, tastete ich mich voran.
Sam zog die Stirn kraus. »Ich habe es schon einmal erlebt, als Nikolai mir geholfen hat, über meinen Kummer hinwegzukommen. Es war eine Art Nebeneffekt seiner Hilfestellung. Wenn man jemanden einlässt und ihm das Recht zugesteht, einen über die Aura zu berühren, dann kann er eine Spur hinterlassen.«
»Genau das hat der Schatten bei Shirin getan, wobei es deutlich mehr als nur eine Spur war. Er hat ihr regelrecht seinen Stempel aufgedrückt, und ich habe ihn entdeckt, als ich eine Zeichnung von ihr angefertigt habe. Dieser Stempel ist … ich weiß nicht … wie eine Pforte zu ihr. Shirin hat sie mich einmal durchqueren lassen, damit ich ihre Geschichte mit dem Schatten erfahre. Und dieses Mal habe ich sie genutzt, um sie zu finden, weil ich mir solche Sorgen um sie gemacht habe.« So, jetzt war es endlich raus. Innerlich wappnete ich mich gegen Sams Ansage, was ich mir dabei bloß gedacht hätte.
»Du hast nach einer Möglichkeit gesucht, um Kontakt zu Shirin aufzunehmen?« Ob nun mit Absicht oder nicht, es war unmöglich, aus Sams Stimmlage Rückschlüsse zu ziehen.
»Ja, das habe ich … und ich habe sie gefunden. Gleich nachdem du mit Toni fortgegangen bist.«
»Du warst bei Shirin!«
Sam schnellte hervor und schloss mich fest in seine Arme. Ich hörte ein Geräusch, wie wenn die Luft durchschnitten wird, und blickte auf seine ausgebreiteten Schwingen. Ja, er steckte ohne jeden Zweifel wieder in seiner Schattenschwingen-Haut. Dann erwiderte ich die Umarmung und flüsterte ihm ins Ohr, wie ich den Nachmittag verbracht hatte.
»Du kannst also verstehen, warum ich mich so verhalten habe?«, fragte ich abschließend.
»Voll und ganz.« Vorsichtig löste Sam sich wieder. »Und noch mehr als das bin ich erleichtert. Nach meiner Rückkehr aus der Sphäre habe ich nämlich als Erstes versucht, Kastor zu erreichen, aber er hat sich vollkommen vor mir verschlossen.«
»Vermutlich dachte er, du willst ihm die Meinung geigen. Oder er wollte mir nicht die Chance nehmen, als Erstes mit dir zu reden«, mutmaßte ich.
»Wie auch immer, mir fällt jedenfalls ein Stein vom Herzen. Den beiden meine Hilfe zu verweigern, hat mir mehr zugesetzt, als ich dir sagen kann. Einmal davon abgesehen, dass dieser Quatschkopf Ranuken mir grauenhaft fehlt. Morgen werde ich alles wiedergutmachen.« Sam blickte hinauf in den Himmel, wo die letzten Sterne verblassten, auch wenn die Morgendämmerung sich noch nicht ankündigte. »Das Katana … ich würde es jetzt sehr gern prägen. Es fühlt sich alles so richtig an.«
Auch ich spürte diese spezielle Magie zwischen uns, die mir verriet, dass Sam und ich in dieser Nacht nichts falsch machen konnten und dass wir beide von demselben Wunsch beseelt waren: unsere innere Verbundenheit zu manifestieren.
»Sag mir einfach, was ich tun soll.«
Obwohl mir der intensive Blick, mit dem Sam mich nun bedachte, bestens vertraut war, begannen meine Wangen zu glühen. Als wäre er gerade dabei, Schicht für Schicht meiner Persönlichkeit freizulegen … Dann wischte er sich über die Stirn und der Eindruck verflüchtigte sich.
Mit einem schiefen Lächeln sagte er: »Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du das besser weißt als ich. Wende einfach deine Gabe an.«
»Meine eigene Gabe …« Mit einem dicken Kloß im Hals dachte ich an Mael und seine Fähigkeit, aus den Splittern der Gegenwart deren Ganzes zu erfassen. Auch in mir schlummerte eine besondere Gabe, und ich hatte sie sogar schon einmal angewandt, als ich Nikolai einen Pfeil in die Haut geritzt hatte. Doch die Erinnerung daran verdrängte ich schnell und freute mich stattdessen an Sams Bitte, ihm mit seinem Katana zu helfen. Wie schnell sich die Welt doch ändern konnte. Eben noch war ich ein Mensch, der den Schattenschwingen wegen ihrer besonderen Fähigkeiten ausgeliefert war und ihnen deshalb besser aus dem Weg ging, und jetzt ein Geschöpf, das über eine eigene Gabe verfügte. Eine Gabe, deren Ausmaß noch keiner von uns beiden einzuschätzen wusste.
Ich reichte Sam meine beringte Hand, und als er sie mit seiner Linken nahm, war es, als vereinten sich die Ringe, während sie zugleich zwei Teile eines Ganzen blieben. Genau wie Sam und ich. Von dem Katana ging ein helles Summen aus und sein Glanz verstärkte sich, obwohl Sams Aura keineswegs heller leuchtete.
»Es ruft tatsächlich«, brachte ich verblüfft hervor.
»Das tut es schon die ganze Zeit. Hörst du, was es singt?«
Zuerst konnte ich es kaum glauben, aber dann nickte ich. »Es singt seinen eigenen Namen. Aber es ist kein Name, den man aussprechen kann.«
Sams Lächeln bewies, dass es ihm schon die ganze Zeit über klar war. »Es verrät uns seinen Namen, das heißt: Es singt ihn für mich – und da du zu mir gehörst, kannst du es ebenfalls hören. Sein Name hallt in uns wider und diesem Echo muss eine Form gegeben werden. Das ist eines der ältesten Rituale der Schattenschwingen.«
»Wie das Prägen einer Aura …« Die Erkenntnis versetzte mich in Unruhe, und Sam drückte sofort meine Hand, um mich zu beschwichtigen.
»Oder wie das Tragen unserer Bernsteinringe. Die Verbindung, die dadurch entsteht, ist von ihrem Kern her dieselbe. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, denn entscheidend ist, was man aus dieser Verbindung macht.«
»Und du willst wirklich, dass diese Waffe zu dir gehört? Sie strahlt eine solche Strenge aus und ich habe die dunkle Ahnung, dass du sie benutzen wirst … und zwar nicht nur beim Training.«
»Es ist mein Katana, das ist es von Anfang an gewesen.« Obwohl Sam diese Worte sanft aussprach, nahm es ihnen nichts von ihrer Entschlossenheit.
Die Entscheidung war längst gefallen – an mir lag es lediglich, zu bedenken, ob ich Teil dieses Bündnisses sein wollte … oder ob ich andernfalls damit zurechtkäme, ausgeschlossen zu sein, wenn Sam seine ersten Schritte zurück in sein Dasein als Schattenschwinge tat.
Unwillkürlich biss ich auf meine Unterlippe, als jäh der Wunsch aufkam, mehr über diesen jungen Mann herauszufinden, der hier vor mir saß und mir in solchen raren Momenten fremd erschien.
Sosehr die Bernsteinringe auch unsere Verbundenheit symbolisierten, es gab Seiten an Sam, die ich bislang nicht kennengelernt hatte. Wie etwa jene, die es ihm ermöglicht hatten, Nikolai ohne jegliche Reue zu töten oder Asami mit Gewalt zu unterwerfen. Natürlich konnte ich zu seinem Inneren vordringen, denn wenn ich eines von Nikolai gelernt hatte, dann, dass ich dazu imstande war, den wahren Wesenskern einer Schattenschwinge zu erfassen. Ich hatte auf anderen Wegen sehr viel über Sam herausgefunden, aber erst in diesem Augenblick erkannte ich: Genau wie Nikolai war Sam ein Schicksal vorgezeichnet, und wenn ich mich auf die Suche nach dem begab, was seinen Kern ausmachte, dann würde ich bei ihm dieses Katana finden – ähnlich wie Nikolais Innerstes aus einem fliegenden Pfeil bestand, der unabänderlich auf sein Ziel zuhielt. Sam und Nikolai hatten im Kern ihres Wesens also einige Gemeinsamkeiten. Darüber verspürte ich eine solche Gewissheit, dass mir schwarz vor Augen wurde.
»Mila?«, fragte Sam beunruhigt. »Wenn dir das alles zu viel ist, dann brechen wir sofort ab. Das Katana kann warten.«
»Nun, deine Klinge sieht das anders. Sie will nicht warten. Und du … du willst es in Wahrheit auch nicht.« Bevor Sam protestieren konnte, umfasste ich seinen breiten Bernsteinring, beugte mich zu ihm hinab und wisperte: »Verändere dich.«
Als er zusah, wie seinem Ring ein Dorn entwuchs, schnappte Sam verblüfft nach Luft. »Um Himmels willen …«
»Es ist, wie du gesagt hast: Ich weiß, was zu tun ist, denn es ist meine Gabe. Vertrau mir.«
Sam kniff die Augen so fest zusammen, dass es wehtun musste. »Nikolai hat dir das hier beigebracht, dieser verfluchte Mistkerl.«
Allein bei der Erinnerung daran, wie Nikolai mich dazu gezwungen hatte, ihn zu zeichnen, begannen meine Hände zu zittern, während der Dorn sich zurückzubilden begann. »Nenn seinen Namen nicht und denk bitte auch nicht weiter über die Vergangenheit nach. Vertrauen ist das Einzige, was ich jetzt von dir brauche.«
Mit einem Murren gab Sam nach und im nächsten Moment drang eine Welle des Wohlbehagens zu mir durch. Seine Augen waren zwar immer noch geschlossen, aber nun lagen die Lider leicht auf. Sam hatte seine Wut und Angst losgelassen, trotzdem zweifelte ich nicht daran, dass er imstande wäre, seine Gelassenheit innerhalb eines Augenblicks abzuwerfen. Es handelte sich um jene Art von Konzentration, bei der man vollkommen ruhig dasitzt, um in der nächsten Sekunde das Katana in einer perfekten Bahn zu führen, die jeden Gegner niederstreckt. Was überraschte es mich? Er ist ein Krieger, sein Innerstes ist wie ein Katana geformt, erkannte ich wider Willen. Diesen Zug an Sam hatte der Schatten höchstpersönlich freigelegt: Er hatte aus dem Jungen, den sein Vater beinahe getötet hatte, einen Krieger gemacht, der bereit war, seinen Weg bis ans Ende zu gehen. Doch während der eine erbarmungslos kämpfte, bis er sein Ziel erreicht hatte, ruhte Sams Schwert, solange es nicht herausgefordert wurde. Darin lag der Unterschied zwischen den beiden.
Hätte ich nicht genau gespürt, dass Sam und sein Schwert zusammengehörten, hätte ich den Gesang der Klinge wohl zurückgewiesen. So aber ließ ich mich darauf ein, getragen von der inneren Ruhe, die Sam auf mich übertrug. Ich hörte auf sie und akzeptierte es, als sich ihr Gesang vor meinem inneren Auge in eine Form verwandelte. Jeder Irrtum war ausgeschlossen: Dieses Schwert und Sam gehörten zusammen. Ich musste lediglich den Dorn, den sein Ring bildete, über die Klinge führen, die mittlerweile leuchtete, als berge sie in ihrem Inneren ein Feuer.
Wie in Trance prägte ich die Form in den Bernstein ein und sah zu, wie sie in seine Oberfläche einsank.
Als das Glühen der Klinge nachließ, bildete sich auch der Dorn zurück.
»Jetzt ist es deins«, sagte ich.
Sam öffnete langsam die Augen, nahm das Schwert auf und zog die Klinge über seinen offenen Handteller. Mit Schrecken sah ich, wie sich eine weiße Linie abzeichnete, die sich rasch mit Blut füllte. Die zuvor stumpfe Klinge war nun messerscharf.
»Ja, jetzt gehört es zu mir, aber auch ein wenig zu dir. Nimm es in deine Hände«, forderte Sam mich auf. »Du bist die Einzige, die es neben mir berühren darf. Diesem Katana wohnt jetzt eine Seele inne, es ist ein Wahres Schwert.«
Ich wich zurück aus Furcht vor der scharfen Klinge, besann mich dann anders, streckte meine Hände aus und ließ sie mir von Sam darauf legen. Von dem Katana ging eine Wärme aus, als wäre es lebendig.
»Hallo, du«, sagte ich und lauschte seiner Antwort.
Sam lächelte mich an. »Genau, wie ich gesagt habe.«