64. JOHN MACBETH. KOPENHAGEN.
Macbeth merkte, dass er stundenlang gelesen hatte. Vor den Fenstern ging die Sonne langsam auf. Mora Ackerman lag auf seiner Couch, sie war eingeschlafen. Er beobachtete sie, die leichte Bewegung ihres Körpers, wenn sie atmete, und fragte sich, ob sie wirklich in dem Schlaf, den sie zu schlafen schien, träumte.
Er klappte den Laptop zu und saß lange Zeit da, während er über das nachdachte, was er gelesen hatte. Astors Argumente ließen sich nicht widerlegen, aber sie ließen sich auch nicht beweisen. Wie die Religionen, die er so verabscheute, verlangte er von seinem Leser, sein Vertrauen auf einen einzigen, weit hergeholten Text zu setzen. Reichte das aus, Macbeth zu rechtfertigen, dass er eine Bombe legte und das Projekt zerstörte, dem er vier Jahre seines Lebens gewidmet hatte?
Er dachte an Casey, der zerfetzt und tot in einer Leichenhalle in England gelegen hatte. Er dachte an Bundy, den Mann, den er vor Kurzem selbst getötet hatte. Er dachte an die verrückten Visionen, die die Welt plagten, und das Chaos, das ihnen gefolgt war. Er dachte zurück an sein Leben voller Depersonalisierungs- und Derealisationsanfälle, in denen er völlig davon überzeugt gewesen war, dass seine eigene Existenz eine Fälschung war, ebenso wie die aller Menschen um ihn herum.
Dennoch konnte er es nicht über sich bringen, Astors paranoide Fantasien zu glauben. Was ich brauche, dachte er mit müder Ironie, als er langsam von seinem Schreibtischstuhl aufstand, ist ein brennender Busch oder eine Rauchsäule oder welche Theophanie posthumane Götter auch immer zu nutzen pflegen.
Der Gedanke war ihm kaum gekommen, als seine Wohnung sich auch schon mit grellem Sonnenlicht füllte. Das Zimmer, die Möbel, die Wände, der Fußboden, alles begann, zu verschwimmen und transparent zu werden. Selbst Moras schlafende Gestalt auf dem Sofa wurde durchscheinend und glasig.
Erneut hing Macbeth über dem sich auflösenden Kopenhagen in der Luft. Aber er konnte noch immer den Boden unter sich spüren. Er fiel auf die Hände und die Knie und kroch durch sein Wohnzimmer, bis er mit der Stirn gegen den Wohnzimmertisch stieß, den er nicht länger sehen konnte. Verzweifelt tastete seine Hand über den unsichtbaren Rucksack, bis sie sich um einen der Riemen schloss. Er hielt ihn sich vor das Gesicht und strich mit den Händen über die raue Oberfläche. Er konnte ihn spüren, merkte, wie der Inhalt die Seiten ausbeulte, aber seine Hände sahen leer aus.
»Er ist noch da …«, sagte er sich. »Er ist noch real. Ich weiß, dass er es ist.«
Er sah nach unten.
»Großer Gott …«
Unter ihm konnte er durch die jetzt unsichtbaren Fußböden die Erde aufreißen und kochen sehen. Ihm wurde speiübel.
Er kniff die Augen zu und zwang seinen Verstand, aus der dunklen Ecke herauszukommen, in der er sich versteckt hatte, und wieder die Kontrolle zu übernehmen. Er atmete tief und langsam. Die Geräusche der falschen Welt um ihn herum zerrten und zogen an seiner Entschlossenheit, aber er konzentrierte sich einzig darauf, alles auszuschließen und sich in die Festung seines eigenen Verstandes zurückzuziehen.
»Es ist nicht real«, wiederholte er. »Es ist nicht real.«
Macbeth erinnerte sich daran, dass Astor geschrieben hatte, die Halluzinationen seien so real wie normale Erlebnisse und nur eine Frage der Realität, in der man sich gerade befand. Die Worte schienen Macbeth zu verspotten, während er jedes Neuron in seinem Gehirn, jede Faser seines Körpers darauf verwandte, die Realität heraufzubeschwören, die er sich wünschte. Er erinnerte sich an das, was er Casey über Cosmo Rossellius erzählt hatte, darüber, wie man eine Realität als Speicherort in seinem Verstand nachbauen konnte. Genau das musste er jetzt tun. Er musste sein Gedächtnis und seine Konzentration benutzen.
Er schlug die Augen auf. Sah auf seine Füße, dann blickte er sich um. Er existierte in zwei Realitäten, begriff er. In jede Richtung war er, so weit er blicken konnte, von einem fremden Planeten umgeben, der unter einem brennenden, widerlichen Himmel ständig aufriss, kochte und brodelte, aber er sah ihn, als blicke er durch geriffeltes Glas. Er konnte seine Wohnung und alles darin erkennen, aber nur als glasige, durchsichtige Formen, die eher gekräuselte Linien und Umrisse als etwas Solides zu sein schienen. Doch vielleicht reichte das ja aus, um sich darin vorwärtszubewegen.
Macbeth erkannte, dass die andere Welt, die er durch die unwirkliche Glasur sah, eine war, in der kein Mensch überleben konnte. Sie sah in jeglicher Hinsicht aus wie alles, was er je über die Hölle gelesen hatte, aber er wusste, dass es nicht die Hölle war. Das war die Protoerde … die kindliche Welt, die gerade Gestalt annahm. Die Welt vor dem Mond. Ihre Masse, ihre Rotation, ihr Winkel, ihre Dynamik … alles an dieser Welt war anders. Was er hier durch das Fenster seiner Gegenwart vor sich hatte, war eine viereinhalb Milliarden Jahre zurückliegende Vergangenheit: eine Zeit, bevor all die Zufälle und Unmöglichkeiten, die Astor erwähnt hatte, stattgefunden hatten, um eine Welt zu erschaffen, auf der das Leben lange genug existieren konnte, um Komplexität zu erlangen.
Macbeth wusste auch genau, was dafür gesorgt hatte, dass der Mond aus der Protoerde hervorgegangen war: der Theia-Aufprall. Ein Planet, etwa so groß wie der Mars, würde die Protoerde rammen und einhundert Millionen Mal mehr Energie freisetzen als bei der Kollision, durch die die Dinosaurier ausgestorben waren.
All das würde geschehen. Das war die größte – und letzte – Halluzination, die passieren würde. Gillman hatte recht gehabt: Der Beginn der Erde würde gleichzeitig das Ende der Menschheit sein.
Es wurde reiner Tisch gemacht.
Milliarden würden sterben. Milliarden würden in der Atmosphäre, in der es keinen Sauerstoff gab, ersticken, in der unglaublichen Hitze verbrennen oder von atmosphärischen und geologischen Kräften zermalmt werden – die allesamt nur in ihrem Kopf existierten.
Er musste Projekt Eins stoppen.
Erneut sah er den Rucksack in seiner Hand an. Er konnte ihn gerade so sehen, als sei er aus Eis und Wasser geschnitzt worden.
Er musste zur Universität.