59. ÜBERALL. JEDER.

Zwei Tage später wurden die Welt und alle Menschen schwerer.

Es geschah für jeden, und es geschah überall. An dem Tag und in der Nacht, bevor es passierte, hatte eine überraschende Ruhe auf der Welt geherrscht. Jeder Mann und jede Frau und auch jedes Kind hatten diese Empfindung geteilt. Zum ersten Mal in der Geschichte war die Menschheit durch ein gemeinsames, einheitliches Erlebnis vereint gewesen.

Es passierte gleichzeitig und in zwei Formen: Da war zunächst eine umfassende Lethargie, hervorgerufen durch das Gefühl einer unerklärlich hohen Schwerkraft, der eine völlige Distanziertheit von der Welt folgte. Anfänglich glaubte jedes Individuum, als Einziges dieses Gefühl ermattender Trägheit zu spüren, als wäre man nicht mit seiner Umgebung im Einklang. Als die Menschen jedoch miteinander sprachen und sich über ihre Erfahrung austauschten, wurde das Ausmaß des Problems rasch offensichtlich.

Ironischerweise hatte die Depersonalisierung, die mit diesem Gefühl einherging, eine willkommene Begleiterscheinung: Frieden. Alle Leidenschaften wurden abgemildert, und im Mittleren Osten, in Afrika, in Südamerika schwiegen die Waffen und die ideologischen und ethischen Konflikte wurden auf einmal irrelevant. Selbst der religiöse Eifer, der zuvor von den Halluzinationen angefacht worden war, kühlte sich ab. Als der Tag in den verschiedenen Zeitzonen anbrach, waren die Rushhours rund um den Globus auf einmal keine mehr, und niemand drängte sich in die U-Bahn in Tokio, verstopfte die Fahrstühle in Manhattan. Rio de Janeiro, Singapur, Mumbai, Moskau, Berlin, Paris und London sahen die Sonne mit bleischwerer Gleichgültigkeit aufgehen.

Die Welt nahm einen Tag Auszeit.

Marie Thoulouze in Paris führte jeden Tag, seitdem sie die Opferung von Johanna von Orleans durch die Hände der verhärmten Ketzer hatte mit ansehen müssen, inbrünstig ihre Rituale aus. An diesem Morgen spürte sie, dass ihr jeder Schritt und jede Bewegung schwerer zu fallen schienen, während sie gleichzeitig unbeteiligt zur Kenntnis nahm, was um sie herum passierte, als würde sie die Welt durch eine Glasscheibe betrachten. In San Francisco fühlte sich Walt Ramirez ganz genauso, als er lustlos in seinem Wagen saß und den ungewöhnlich dünnen Verkehr auf der Golden-Gate-Brücke betrachtete. Fabian Bartelma empfand auf die gleiche Weise, als er nach einem einsamen Schultag, an dem er nichts gelernt hatte, nach Hause ging. Mary Dechaud schob dieses Gefühl auf ihr Alter, als sie am Küchenfenster stand, auf die sich durch die Landschaft von Vermont schlängelnde Straße hinausblickte. Mary versuchte, sich daran zu erinnern, wen sie erwartete, und überlegte, was sie für Joe zum Abendessen kochen sollte. Deborah Canning war desinteressiert, aber sich vage dieses Gefühls bewusst, als sie am Fenster ihres Krankenzimmers saß und ihre blasse Hand ungewöhnlich schwer auf dem Kunstbildband auf dem Tisch ruhte. In New York teilte Jack Hudson diese Empfindung, während er gerade erneut versuchte, eine Dokumentarfilmidee an den Mann zu bringen – dieses Mal bei einem völlig neuen strahlenden, frischen Gesicht. In Liquan wog die Bürste schwer in Zhang Xushous Hand, als sie ihr rotgoldenes Haar ebenso stolz wie müde nach hinten kämmte. In Boston fühlte sich Karen Robertson so, als sie in einem fast leeren Café am Tisch saß und unbeteiligt mit ansah, wie eine kleine Spinne über die Aluminiumtischplatte auf ihre Hand zukrabbelte. In Stuttgart beugte sich Markus Schwab über seine Geschichtsbücher und rieb sich vor Müdigkeit den Nacken. Eine bleierne Schwere lag auf seinen Gliedern; müde und seltsam abwesend, war er jedoch bestrebt, sein Holocaust-Projekt fortzusetzen, das jetzt nicht mehr nur eine Schulaufgabe für ihn darstellte. In Gefängniszelle 394 der Militärpolizei in Tzrifin spürte Ari Livnat ebenfalls diese Schwere und dieses Gefühl der Unwirklichkeit, während er träge auf der Koje in der Zelle lag, die er sich mit Gershon Shalev teilte.

Und in Oxford fühlte sich Emma Boyd so, als sie in ihrer dunklen Wohnung saß und nicht einmal merkte, dass sie vergessen hatte, die Vorhänge zuzuziehen. Sie empfand ebenfalls ein seltsames, unwirkliches Gefühl, aber sie hatte sich in diesem einen Jahr auch an das Unwirkliche gewöhnt. Man hatte ihr versichert, dass die sichtbaren Halluzinationen, die sie seit der Explosion, durch die sie plötzlich komplett erblindet war, sah, nichts Ungewöhnliches darstellten. Das Charles-Bonnet-Syndrom war kein psychiatrisches Problem, wie ihr die Ärzte erklärt hatten, vielmehr stimulierte das Gehirn die visuellen Eindrücke, weil der tatsächliche Stimulus verloren gegangen war. Die winzigen Menschen und Tiere, die oft groteske Gesichter hatten, waren eine häufig auftretende Erscheinung gerade bei diesem Syndrom. Doch das hier war etwas anderes. Sie hatte den Eindruck, als würden alle Empfindungen und Geräusche nicht zu ihr durchdringen, und das Gefühl, nach unten gezogen zu werden, hatte sie daran gehindert, an diesem Tag einen Fuß vor die Tür zu setzen.

Selbst Macbeth teilte die weltweite Empfindung. Distanziertheit war zwar ein normaler Bestandteil seines Lebens, aber heute wusste er, dass etwas ganz und gar nicht mit ihm, mit der Welt und mit den Menschen um ihn herum stimmte.

Nicht, dass es viele Leute gewesen wären. Er hatte den Morgen an der Universität verbracht, doch nicht einmal sein halbes Team war zur Arbeit erschienen. Den ganzen Morgen über hatte sich Macbeth genervt und schwach gefühlt. Alles schien mehr zu wiegen, sein leichter Anzug fühlte sich an, als trüge er nasse, schwere Wolle am Körper, seine Glieder, als wären sie mit Sand gefüllt, und seine Bewegungen waren langsam und schwerfällig. Aber da war mehr als nur das körperliche Empfinden. Seit dem Tag, an dem er Mora Ackerman begegnet war, dem Tag, an dem Projekt Eins ein Bewusstsein erlangt hatte, hatte er dieses unwirkliche Gefühl gehabt, das jetzt einfach noch intensiver geworden war. Und diese Art des Déjà-vu war nicht nur ein plötzlich auftretendes Gefühl, sondern eine anhaltende Wahrnehmung, die sich alles in Form einer ewigen Hofstadter-artigen Schleife aus gleichzeitiger Vorahnung und Erinnerung wiederholte.

Kurz vor dem Mittagessen kehrte Macbeth erschöpft ob der Anstrengung, seinen schweren Körper über den Morgen gebracht zu haben, in die Wohnung zurück und ging unter die Dusche, weil er hoffte, so dieses bleierne Gefühl aus seinem Körper vertreiben zu können, doch selbst das Wasser, das aus dem Duschkopf strömte, schien ihn kräftiger zu attackieren und seine Haut runzliger und welliger werden zu lassen als sonst. Er war müde, so unsagbar müde.

Er zog sich gerade wieder an, als Mora Ackerman ihn anrief.

»Diese Sache heute … diese Schwerkraftgeschichte … Spüren Sie das auch?«, fragte er.

»Jeder spürt es«, erwiderte sie. »Jeder Mensch auf der Welt, so haben sie in den Nachrichten gesagt. Wir erleben die Kausalität. Ich weiß, dass Sie mir nicht glauben, aber es ist Ihr Projekt, das diese Erscheinung verursacht – so wie das Prometheus-Projekt verursacht hat, was letztes Jahr passiert ist.«

Macbeth wollte protestieren, aber eigentlich wusste er längst nicht mehr, was er glauben sollte, außerdem konnte er die dafür erforderliche Energie im Augenblick ohnehin nicht aufbringen.

»Ich werde mich mit Ihrem Freund treffen«, sagte er. »Aber ich möchte, dass das Treffen an einem öffentlichen Ort stattfindet. Wie heißt er?«

»Das kann ich am Telefon nicht sagen. Sie werden es verstehen, wenn Sie ihn kennenlernen. Kennen Sie den Diamanten?«

»Den kenne ich.«

»Können Sie in einer Stunde dort sein?«

Macbeth hielt inne. Das war verrückt. Völlig verrückt. Und vielleicht sogar gefährlich.

»Ich werde da sein.«