4. JOSH HOBERMAN. VIRGINIA.

Josh Hobermans Herz klopfte wie wild.

Er war dermaßen ruckartig wach geworden, dass er ein Brennen in der Speiseröhre spürte. Dann saß er aufrecht im Bett, reglos, die Luft anhaltend, und versuchte, herauszufinden, was ihn so plötzlich aus dem Schlaf gerissen hatte. Um ihn herum herrschte Stille. Nahezu völlige Stille. In der Ferne auf dem North Shore Drive hörte er die Sirene eines Polizei- oder Krankenwagens. Ein Hund bellte noch weiter entfernt.

Nichts im Haus oder in der Nähe.

Er stieß die Luft aus, seufzte und nahm seine Armbanduhr vom Nachttisch. 0.30 Uhr. Vielleicht war er wegen eines schlechten Traums aufgewacht, weil ein Waschbär eine Mülltonne umgeworfen hatte oder weil er einfach zu spät am Tag noch zu viel Kaffee getrunken hatte. Was immer es auch gewesen war, so wusste Hoberman, dass er in der nächsten Stunde keinen Schlaf finden würde. Er ging ins Bad, entleerte seine Blase und betätigte die Toilettenspülung. Dann wusch er sich die Hände und musterte sein Spiegelbild. Jemand hatte es offenbar gestohlen und durch das seines Vaters ersetzt: dasselbe Gesicht, dieselben traurigen Augen, dieselbe Form. Er wurde alt. Obwohl er gerade erst fünfzig geworden war, schienen die dunklen Ringe unter seinen Augen ihn ein halbes Jahrzehnt älter zu machen. Aber sein Haar war noch immer dick und dunkel. Wenigstens etwas. Doch er musste etwas wegen seines Gewichts unternehmen. Er war für seine Größe zu schwer, und das Übergewicht zeichnete sich in seiner Bauchregion ab. Diese Speckrollen führten zu einem Herzinfarkt. Daran war auch sein Vater gestorben. Mit vierundfünfzig.

Hoberman beschloss, wieder ins Arbeitszimmer zu gehen und noch etwa eine Stunde zu arbeiten. Der Trick war, etwas zu tun, das notwendig, aber langweilig war, damit es ihn ermüdete und nicht etwa stimulierte.

Das Haus war alt. Etwa einhundertundfünfzig Jahre alt, und es stand allein, circa eineinhalb Kilometer von der Straße entfernt und umgeben vom dichten Wald Virginias. Es hatte Hoberman die Isolation geboten, nach der er sich sehnte, aber mit der Isolation hatten auch eine gewisse Unsicherheit und Verletzlichkeit Einzug gehalten.

Als er auf den Treppenabsatz ging und das Licht einschaltete, machte sich Hoberman nicht die Mühe, vorher einen Bademantel anzuziehen. Einer der Vorteile, derart abgelegen zu wohnen, war, dass es keine Nachbarn oder Passanten gab, die einen ausspionierten. Doch als er da nur mit Boxershorts bekleidet auf dem Treppenabsatz stand, hörte er es. Etwas oder jemand war draußen und bewegte sich ums Haus. Er lief die Holztreppe herunter und direkt ins Arbeitszimmer. Dort zog er die Schreibtischschublade auf und holte die alte halbautomatische Jericho 941 heraus. Er starrte die Pistole einen Moment lang an, erstaunt darüber, wie fremd sie in seiner Hand aussah, und überlegte, was zum Henker er eigentlich damit anstellen wollte. Sein jüngerer Bruder Benjamin hatte ihm die in Israel hergestellte Pistole gegeben und ihm auch einen Waffenschein besorgt, da er der Meinung war, wenn Josh schon derart abgelegen wohnte, müsse er sich wenigstens schützen können. In Bennys Händen würde so eine Waffe nicht seltsam aussehen. Benny wusste, wie man mit Waffen umging, mit Situationen, mit Frauen. Benny war in jeder nur denkbaren Weise das genaue Gegenteil seines Bruders.

Erneut hörte Josh draußen ein Geräusch, und er wünschte sich, dass Benny bei ihm wäre. Er würde wissen, was zu tun war.

Hoberman schob das Magazin in den Griff, entsicherte die Waffe und zog den Schlitten ganz nach hinten, so wie Benny es ihm gezeigt hatte. Danach ging er wieder in den Flur, schaltete alle Lampen aus und schlich zur Haustür. Dort verharrte er und lauschte auf Geräusche von draußen, wobei er den Kopf dicht an die dicke Eichentür presste.

Das Klopfen war so laut, dass Josh die Pistole beinahe fallen gelassen hätte. So klopfte die Polizei mitten in der Nacht. Auf diese Art hatte die Polizei in Köln in der Nacht geklopft, als sie Joshs Großeltern und seinen zwölfjährigen Vater abgeholt hatten.

»Professor Josh Hoberman?« Die Stimme klang professionell. Autoritär.

»Professor Hoberman?«, wiederholte sie, als Josh nicht reagierte.

Josh holte tief Luft. »Wer ist da?«

»Hier ist Special Agent Roesler, Sir. FBI. Bei mir ist Special Agent Forbes. Könnten wir mit Ihnen sprechen, Professor Hoberman?«

»Augenblick …« Josh sah sich um, musterte den Eingangsbereich und die Treppe hinter sich, das Arbeitszimmer zu seiner Linken, seinen Schmerbauch über dem Gummiband der Shorts, die Waffe in seiner Hand. Was wollte das FBI hier? Falls es wirklich das FBI war. Er schaltete das Verandalicht ein, legte die Sicherheitskette vor und öffnete die Tür einen Spalt weit, wobei er die Waffe hob, sodass sie von außen nicht zu sehen war. Zwei Männer mit Bürstenhaarschnitt in Anzügen sahen ihn an. In der Einfahrt stand ein schwarzer Crown Victoria mit einer dritten Person am Steuer.

»Zeigen Sie mir bitte Ihre Ausweise …« Josh versuchte, seine Forderung so energisch wie möglich vorzubringen.

»Natürlich, Professor Hoberman.« Der junge Mann hob jedoch nicht, wie Josh erwartet hatte, einfach seinen Ausweis hoch, sondern reichte ihm die schwarze Lederbrieftasche durch den Türspalt. Josh sah sich den Ausweis genau an und verglich das Foto mit dem Gesicht vor der Tür, auch wenn er eigentlich keine Ahnung hatte, wie er einen gefälschten FBI-Ausweis von einem echten unterscheiden konnte.

»Was wollen Sie? Wissen Sie überhaupt, wie spät es ist?« Josh gab ihm die Brieftasche zurück.

»Ja. Es tut uns leid, dass wir Sie so spät noch stören müssen, Professor Hoberman«, sagte Special Agent Roesler, dessen Stimme ganz und gar nicht entschuldigend klang. »Aber wir brauchen in einer sehr wichtigen Angelegenheit Ihre Hilfe.«

»Wobei?«

»Ich soll Ihnen das hier geben …« Roesler reichte Josh einen verschlossenen Umschlag, den er sofort aufriss, um das Schriftstück zu lesen.

»Wissen Sie, was das ist?«, fragte er den jungen FBI-Agenten, als er alles gelesen hatte. »Wissen Sie, wer mir das schickt?«

»Nein, Sir. Wir sind nur hier, um Sie dorthin zu bringen, wo Sie erwartet werden.«

Josh starrte die beiden Männer noch einen Augenblick lang an und versuchte zu begreifen, dass das tatsächlich geschah. »Geben Sie mir zehn Minuten, um mich anzuziehen«, meinte er schließlich. »Bin gleich wieder da.«

Er schloss die Tür und sah sich die Nachricht noch einmal an, bevor er sich umdrehte und die Treppe hinaufging.

Im Briefkopf prangte das Siegel des Präsidenten der Vereinigten Staaten.