30. ZHANG. GANSU-PROVINZ.
Sie musterte ihr Spiegelbild und strich sich das blonde, eigentlich zwischen rot- und goldblond schwankende Haar aus dem ovalen Gesicht. Ihre Stirn wirkte breit und blass über hellgrünen Augen, und sie befestigte ihr Haar am Hinterkopf mit einer Spange, die sie zwischen den Lippen festgehalten hatte.
Eine Fremde sah ihr aus dem Spiegel entgegen. Oder zumindest zum Teil eine Fremde. In ihrem Gesicht spiegelten sich zwei Welten, zwei Hemisphären wider, und doch gehörte es zu keiner. Die Details – die hohen Wangenknochen, die Form der Augen, ihr kleiner, herzförmiger Mund – waren eindeutig dem Han-Chinesischen zuzuschreiben, aber die grundlegende Form und Ausrichtung, die Haut- und ihre Haarfarbe waren eindeutig europäisch. Eigentlich hätte sie wie das Kind von Eltern gemischter Herkunft aussehen müssen, doch das tat sie nicht, denn dem war auch nicht so. Sie sah genauso aus wie das, was sie war, und sie sah so aus wie viele andere aus ihrem Dorf, aber wie so wenige in einer Nation aus eineindrittel Milliarden Menschen.
Zhang Xushou war in Liqian aufgewachsen und hatte sich nie fremd oder andersartig gefühlt, weil es in ihrem Dorf viele andere gab, deren Haare rot, blond oder braun waren und deren Augenfarbe von Braun über Grün bis zu Blassblau reichte. Das war ein normaler Bestandteil ihrer Kindheit gewesen, in der sich ihr Universum gerade mal bis zu den Ruinen der alten Stadt am Dorfrand erstreckt hatte. Erst als sie im Nachbardorf zur weiterführenden Schule kam, wurde sich Zhang Xushou bewusst, dass an ihrem Dorf etwas anders und seltsam sein musste – wie auch an ihr.
Da hörte sie auch die Sage von den Legionären, den großen, blonden römischen Soldaten, die von ihren Kommandanten bei dem von vorneherein zum Misserfolg verdammten Feldzug von Marcus Licinius Crassus gegen die Parther zurückgeblieben waren. Laut dieser Überlieferung waren die Legionäre, die die Schlacht überlebt hatten, sehr weit im Osten gelandet und hatten sich in der Wüste Gobi verlaufen, nur um schließlich an deren Rand Zuflucht in ihrem Dorf zu suchen. Das war damals eine Grenzstadt gewesen, wo sie von der Han-Dynastie zwangsrekrutiert wurden.
Manchmal wurden Zhang Xushou und ihresgleichen ausgegrenzt und verspottet. Als sich die Grenzen ihrer Welt ausdehnten, begriff sie zunehmend, wie es war, anders zu sein und in einem Meer aus schwarzhaarigen Chinesen blondes Haar zu haben. Dann, als sie älter wurde, stach sie noch viel mehr aus der Masse heraus, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Aufgrund ihrer uralten Gene wurden ihre Knochen länger, sodass sie schon als Dreizehnjährige viele ihrer Lehrer an der Schule überragte. In einem Alter und in einer Umgebung, in denen Anpassung und Akzeptanz alles bedeuteten, sah sich Zhang Xushou feindseligen Blicken und gemeinen Bemerkungen ausgesetzt und wurde im Allgemeinen Wai Guo Ren genannt, die Ausländerin.
Doch ihre Isolation hatte bewirkt, dass sie ihre Individualität nicht etwa verabscheute, sondern begrüßte und wertschätzte. Sie mochte die Spitznamen, verwandelte Beleidigungen in Komplimente und schätzte es besonders, wenn man sie Lijian nannte, was Griechin oder Römerin bedeutete. Ihre Herkunft wurde erst zu einer Leidenschaft, dann zu ihrer Besessenheit. Sie verbrachte Stunden damit, alles über das Römische Reich zu lesen, was ihr in die Hände fiel; über die sechstausend verlorenen Legionäre, über die Menschen und die Kultur in Europa. Sie hängte sich Bilder von westlichen Models und Popstars an die Wand.
Als sie älter wurde, merkte sie, wie sich die Einstellungen änderten. Immer mehr Touristen kamen nach Liqian und starrten die Dorfbewohner an, die oft stolz für sie posierten und Geld für Interviews mit der chinesischen und internationalen Presse nahmen. An einem Tag, den sie nie vergessen würde, kam das Filmteam eines italienischen Fernsehsenders in ihr Dorf. Anfangs war sie enttäuscht gewesen, weil die italienischen Männer nicht viel größer als der durchschnittliche Han-Chinese waren und ebenfalls schwarze Haare hatten. Doch dann sah sie die Reporterin, die eine Cargo-Hose und ein Sweatshirt trug und ihr Haar mit einer Spange am Hinterkopf hochgesteckt hatte. Dieselbe Haarfarbe, genau das gleiche bronzefarbene Haar in demselben Farbton. Zhang Xushou fand, dass die italienische Journalistin die schönste Frau war, die sie je gesehen hatte. Zhangs Freude war riesig gewesen, als die Italienerin sie entdeckte, sie als eines der »römischen« Kinder erkannte und sich mit ihr so gut unterhalten hatte, wie es aufgrund des kleinen, untersetzten Regierungsdolmetschers möglich gewesen war.
Nachdem die Filmcrew wieder abgereist war, hatte Zhang eine Freundin besucht, von der sie wusste, dass sie so eine Haarklemme besaß, wie sie die italienische Reporterin getragen hatte, und sie ihr für viel mehr Geld abgekauft, als das Teil wert war. Von diesem Tag an trug Zhang Xushou ihr Haar aus dem Gesicht und befestigte es mit einer Haarspange hinter dem Kopf.
Etwa ein Jahr nach dem Besuch der Italiener waren Leute von der Lanzhou-Universität gekommen. Sie hatten Fotos des Ortes gemacht, die alten Ruinen der uralten Stadt untersucht und mit den Dorfbewohnern gesprochen. Unter ihnen waren auch Spezialisten gewesen, die sich vor allem für die dreißig Familien interessierten, die der allgemeinen Meinung nach wie Wai Guo Ren aussahen. Diese Spezialisten mit Gummihandschuhen hatten Zhang Xushou ein Wattestäbchen in den Mund gesteckt und an der Innenseite der Wange damit herumgerieben, um es dann in einem Röhrchen zu versiegeln. Sie hatten ihr erklärt, dass jeder Mensch eine geheime Geschichte in sich trage, die in einer eng aufgewickelten Spirale aufbewahrt wurde. Ihre Aufgabe wäre es, diese Geschichte ans Licht zu bringen. Zhang hatte sie mit ihren hellgrünen Augen auf diese offene und trotzige Weise angestarrt, die ihr in der Schule so viel Ärger eingebracht hatte, und gesagt: »Sie meinen die DNS? Ich mag ein Mädchen aus einem Gansu-Dorf sein, aber ich weiß, was die DNS ist.«
Die Leute von der Universität hatten gelächelt und ihr erklärt, dass sie auch die anderen dreißig Familien testen würden und so auf die eine oder andere Art beweisen könnten, ob sie die entfernten Nachfahren eines Römers wären.
Und das taten sie auch. Als die Ergebnisse zurückkamen, bewiesen sie zumindest, dass das, was die aufgeregten Dorfbewohner seit jeher geglaubt hatten, stimmte: Sie waren ebenso Europäer wie Chinesen. Die Archäologen aus dem Team bestätigten außerdem, dass sich das Dorf tatsächlich genau an der Stelle der antiken Festungsstadt befand, die früher die Westgrenze des Han-Imperiums bewacht hatte. Doch die Regierung beharrte darauf, dass die Ergebnisse nichts weiter bewiesen, als dass Zhang Xushou und die anderen Lijian-Familien einer Untergruppe der Volksgruppe der Han angehörten.
Doch Zhang Xushou hatte nie aufgehört, an die Wahrheit zu glauben.
Danach war das Leben mehr oder weniger normal weitergegangen, nur dass es jetzt zunehmend römisch angehauchte Souvenirläden und Cafés gab, die die unternehmungsfreudigen Einheimischen für die Touristen eröffneten, die in immer größerer Zahl kamen. Zhang hatte eigene Nachforschungen angestellt und von anderen in der Gansu-Region und darüber hinaus erfahren, die ebenso wie sie fremdartig aussahen. Bei ihnen gab es keine Hinweise auf Legionäre, aber auf uralte Völker der Kelten, der Tocharer, der Wusun – der Enkel des Raben –, die eineinhalb Jahrtausende zuvor von Yan Shigu als Affen beschrieben worden waren: grünäugige, rothaarige Wilde.
Sie durchstöberte das Internet, was deutlich einfacher und ergiebiger war, als die nächste Bücherei in Yongchang zu besuchen, und las von merkwürdigen Leuten. Sie erfuhr von den dreitausend Jahre alten Leichen, die perfekt erhalten in der Taklamakan-Wüste gefunden worden waren, und sah sich Fotos des Cherchen Man und der Schönen aus Loulan an: große, blonde oder rothaarige Menschen, die vor nahezu dreitausend Jahren im Westen Chinas gelebt hatten. Zhang wusste, dass die Wahrscheinlichkeit groß war, dass sie ihr andersartiges Aussehen von ihnen und nicht von einem mystischen Römer geerbt hatte, aber sie klammerte sich verzweifelt an die romantische Vorstellung, die Nachfahrin eines Legionärs zu sein.
Als sie sich jetzt darauf vorbereitete, ihr Dorf zu verlassen und auf die Universität in Lanzhou zu gehen, stellte sie sich innerlich auch darauf ein, ein Leben als Fremde im eigenen Land zu führen. Ihre Identität wurde immer wichtiger für sie. Abends ging sie zum Rand des Dorfes und sah mit an, wie die Sonne hinter den Qilian-Bergen unterging. Sie starrte auf den Wüstensand hinaus und ließ sich von dem schwächer werdenden Licht und den Staubwolken in der Ferne vorgaukeln, dass eine Phalanx langsam näher rückte.
Aber dann sprachen immer mehr vom Zeitalter der Visionen.
Alles hatte mit Berichten über seltsame Vorfälle in weit entfernten Städten angefangen: Geschichten aus dritter Hand wurden immer weiter aufgebläht, als sie die Wege des Dorfklatsches durchliefen. Es waren Geschichten im Umlauf über Menschen, die ihre Ahnen oder eine vergangene Zeit gesehen, Katastrophen miterlebt oder den Mond zwanzigfach vergrößert und mitten am Tag am Himmel gesichtet hatten. Viele Menschen, insbesondere die älteren, abergläubischen Dorfbewohner, sprachen zunehmend von den alten Religionen und den Sagen über ein Zeitalter der Visionen, welches das Ende aller Zeiten kennzeichnete. Man erzählte sich von der Rückkehr des Hundun, des Geistes des Chaos, der schon vor Beginn der Zeit existiert hatte. Ein alter Mann, Zhia Bao, ein Hui-Chinese und vermeintlich strenggläubiger Muslim, behauptete unheilvoll, die Himmelsmauer wäre durchbrochen worden. Er erklärte, dass es in der Geschichte der Menschheit schon einmal geschehen sei, aber die Schöpfergöttin Nüwa habe die Lücke mit ihrem Körper wieder gestopft.
»Wenn das, was du sagst, stimmt«, hatte Zhang einen der Dorfbewohner sagen hören, »was wird dann aus uns, wenn die Mauer durchbrochen wurde?«
Zhia Bao hatte lange und nachdenklich an seiner Pfeife gezogen und den Dorfältesten gespielt. »Laut der Legenden werden der Himmel und diese Welt dann kollidieren und alles geht zu Ende.«
All das waren nur aufgewühlte Spekulationen aus der Ferne gewesen, die Aufregung ob einer weit entfernten Gefahr. Doch dann hörte man auf einmal von einer Panik auf den Straßen von Lanzhou, von Menschen, die vor Monstern wegliefen, die eigentlich gar nicht da sein konnten. Danach kam es zu seltsamen Vorkommnissen in Yongchang. Aber erst als eine Frau aus dem Dorf, die seit zwanzig Jahren gehörlos war, behauptete, sie hätte die Geräusche marschierender Männer und klappernden Metalls in der Wüste gehört, wusste Zhang, dass etwas Gewaltiges geschehen würde. Ab diesem Augenblick saß sie oft stundenlang am Dorfrand und schaute auf den Sand hinaus. Sie wartete.