39. MARKUS. DEUTSCHLAND.
Inklusive des Fahrers waren sie zwanzig, sechzehn Schüler und vier Lehrer. Markus Schwab, der normalerweise nie etwas hastig oder begierig erledigte, sorgte dafür, als Erster im Bus zu sitzen. Sein Eifer hatte jedoch nichts mit dem Grund für diesen Schulausflug und erst recht nichts mit dem Ziel zu tun, sondern entsprang allein dem Wunsch, sich den hintersten Sitz im Bus direkt am Fenster zu sichern.
Man konnte nicht behaupten, dass Markus seine Schulkameraden hasste. Eigentlich mangelte es ihm für einen Siebzehnjährigen auf bemerkenswerte Weise an der üblichen Giftigkeit Heranwachsender. Er hasste weder sein Leben noch seine Eltern, seine Lehrer oder seine Klassenkameraden. Sie langweilten ihn bloß mit ihrem Enthusiasmus, ihren verrückten Ideen, der Art, wie sie über die Dinge sprachen, die ihnen so viel bedeuteten, obwohl sie eigentlich völlig unwichtig waren, und mit ihrer unglaublichen Inkonsequenz – Markus hätte sich darüber geärgert, wenn er denn genug Energie dafür aufgebracht hätte.
Also sorgte er dafür, dass er den Platz in der hintersten Reihe direkt am Fenster bekam. So konnte er durch das Glas nach draußen schauen und sehen, wie die Welt an ihm vorbeiglitt, während er sich den Kopf über die Kopfhörer seines MP3-Players mit Musik füllte.
Man hatte den Schülern erklärt, dass dieser Ausflug gerade in Bezug auf das, was in Europa passierte, von besonderer Bedeutung sei. Jeder konnte Teil der Geschichte werden. Der Kontext jedes Ereignisses aus dem neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert wurde jetzt als verlängerter Geburtsschmerz einer neuen Nation angesehen. Europa war nicht länger nur ein geografischer Begriff, sondern wurde zu einer Identität.
»Ihr jungen Leute«, hatte Herr Hartz, der Geschichtslehrer, ihnen vor der Abreise erklärt, »ihr lebt in einer sehr bedeutsamen Zeit. Als ich in eurem Alter war, wurde Deutschland gerade wiedervereint, und das, was es bedeutete, Deutscher zu sein, änderte sich ebenso über Nacht wie Deutschlands Platz in der Welt. Ihr jungen Leute werdet die erste Generation sein, für die es wichtiger ist, Europäer zu sein als Deutscher. Das, was wir heute sehen werden, verdeutlicht, warum derartige Fortschritte wichtig sind und warum engstirniger Nationalismus das größte Übel in der Politik darstellt.«
Bla, bla, bla …
Markus hatte sich Hartz’ Rede mit derselben Gleichgültigkeit angehört, mit der er an allen Schulstunden teilnahm. Die Schule war ein überflüssiges soziales Konstrukt, und der Mann war ein Langweiler. Markus verabscheute ihn nicht aus diesem Grund, sondern weil der Mann ein Lehrer war und ipso facto einen abgestumpften und eingeschränkten Intellekt besaß.
Ipso facto.
Trotz seiner Bemühungen, dies zu verhindern, interessierte sich Markus für lebendige und tote Sprachen und besaß eine große Begabung dafür. Eigentlich erzielte er in den meisten Fächern hervorragende Leistungen, und es nervte ihn, dass er von seiner eigenen Langeweile nicht überzeugt genug war, um in der Schule zu versagen. Aber genau da lag für Markus das Paradoxon: Um zu scheitern, musste er sich Mühe geben, während es einfach war, erfolgreich zu sein. Zumindest war das seine Entschuldigung, mit der er die Scham darüber, zumindest ein wenig bürgerlichen Stolz über das Erreichen der von der Gesellschaft erwarteten Ziele zu empfinden, ignorieren konnte.
Aber am heutigen Tag hatte er seine beiden Ziele erreicht: Er hatte sich den Platz ganz hinten und somit die Isolation gesichert. Der Bus hatte mehr Sitze als Passagiere, und alle anderen ballten sich im vorderen Teil, sodass Markus sein kleines Imperium aus Bank und Fenster für sich hatte.
Hartz hatte betont, dass die Fahrt zweieinviertel Stunden dauern und dass sie unterwegs eine Mittagspause machen würden. Sobald der Lehrer Platz genommen hatte, schob sich Markus die Kopfhörer in die Ohren und schaute nach draußen. Zweieinviertel Stunden. Einhundertundfünfunddreißig Minuten Isolation. Wider Erwarten spürte er eine gewisse Zufriedenheit.
Sobald sie unterwegs waren, schaltete Markus seinen MP3-Player ein und sah mit an, wie die Randbezirke Stuttgarts an ihm vorbeiglitten. Durch sein Fenster sah er manchmal ein Haus, dann wieder eine Gestalt, die in einem Türrahmen stand, aus einem Wagen ausstieg oder im Garten arbeitete; Hinweise auf ein Leben vor und nach seinem Blick aus dem Busfenster. Markus empfand diese Distanziertheit von der Welt weder als seltsam noch als beunruhigend, für ihn war sie das Natürlichste auf der Welt.
Eines der Geheimnisse, die er vor dem Rest der Welt hütete, war, welche Musik er hörte. Seine Altersgenossen schienen eine Vorliebe für Industrial Metal zu haben: witzige, unheilvolle Texte zu rauen, misstönenden Klängen. Er vermutete, dass das die perfekte Begleitmusik des Heranwachsens war. Im Gegensatz zu ihnen hörte Markus eine Vielzahl von Musikrichtungen, aber meistens bevorzugte er, wie auch jetzt gerade, Bach. Ihm entging die Ironie nicht, dass er, der sich nicht für die Vergangenheit interessierte und für den der Geschichtsunterricht der langweiligste überhaupt war, Musik hörte, die über zweieinhalb Jahrhunderte zuvor geschrieben worden war. Doch er löste dieses Paradoxon auf, indem er sich sagte, dass die Musik in seine und nicht in Bachs Zeit gehörte. Soweit es ihn betraf, existierte sie wie alle Informationen und Kunstwerke erst ab dem Moment, in dem Markus Schwab sie entdeckte.
Auf der anderen Seite des Fensters erblickte er immer weniger Häuser und immer mehr Bäume, während er den Brandenburgischen Konzerten lauschte. Der Bus nahm die Straße entlang des Neckars, sodass auf der rechten Seite, auf der Markus saß, der Fluss zu sehen war, während sich links die steilen Weinberge erhoben. Der Tag war angenehm, die Sonne funkelte auf dem Wasser, und am Himmel flogen vereinzelte Wolken dahin. Alles sah zufriedenstellend ordentlich und sauber aus, die Natur unterwarf sich der Herrschaft des Menschen.
Sie machten in Ulm Mittagspause in einer Cafeteria. Markus sah sich gezwungen, neben Imke Paulig und zwei ihrer blöden Freundinnen am Tisch zu sitzen. Die drei flüsterten sich hinter vorgehaltener Hand ständig irgendetwas zu, während ihre Gesichter dumm und leer wirkten. Gelegentlich warf Imke einen vermutlich bedeutungsschwanger gemeinten Blick in Markus’ Richtung. Er ignorierte sie, was sie jedoch nur noch zu ermutigen schien.
Schließlich wurde ihr Flüstern immer lauter und eindringlicher, bis Markus nicht anders konnte, als ihnen zuzuhören, während er so tat, als würde er aus dem Fenster sehen. Die Mädchen unterhielten sich über die Nachrichten aus Boston und den Vereinigten Staaten, wo offenbar ein seltsamer Virus umging, der dafür sorgte, dass die Menschen sehr lebensechte Tagträume hatten und Dinge sahen, die gar nicht da waren. Beispielsweise hatten mehrere Hundert Menschen ein Erdbeben miterlebt, das gar nicht stattgefunden hatte. Und offenbar passierte derartiges nicht nur in Boston.
»Weißt du, was ich denke?«, meinte Stefanie, Imkes dunkelhaarige Freundin. »Ich denke, das liegt an den ganzen Drogen, die die Amerikaner nehmen. Vielleicht wurde das alles von einer neuen Droge verursacht, die anders wirkt, als geplant.«
Markus konnte sich nicht länger zurückhalten. Er drehte sich zu den Mädchen um. »Genau … das habe ich auch gehört. Und es gibt noch eine neue Droge … hier in Deutschland. Die ist sogar noch gefährlicher.«
»Wirklich?«, fragte Stefanie und beugte sich vor.
»Ja«, raunte Markus, »sie hat ganz schlimme Nebenwirkungen … Offenbar beeinflusst sie sowohl das Gehirn als auch den Hintern. Deine ganze Kacke steigt ins Gehirn und du fängst an, mit dem Arschloch zu denken.«
Stefanie stand auf und verließ den Tisch. Die anderen folgten ihr, Imke als Letzte.
»Weißt du was, Markus«, sagte sie im Fortgehen, »wenn hier jemand ein Arschloch ist, dann wohl du.«
Markus zuckte gleichgültig mit den Achseln und sah Imke nach, während sie durch die Cafeteria ging. Doch ihm war bewusst, dass es ihm eigentlich ganz und gar nicht egal war, was Imke von ihm hielt.
Er bemerkte, dass Herr Hartz die Mädchen aufhielt, da er offensichtlich mitbekommen hatte, dass etwas vorgefallen war. Dann ging der Geschichtslehrer langsam in Markus’ Richtung, wobei er betont lässig einherschritt, als ob er nichts vorhätte. Er setzte sich Markus gegenüber.
»Weißt du was«, sagte Herr Hartz und sah Markus mit seinen kleinen, dunklen Augen an, die wie die Augen eines Hais im Schädel eines Menschen wirkten, »du hast großes Glück, dass du mit einem solchen Intellekt gesegnet bist. Wenn du dich allen anderen überlegen fühlen willst, dann ist das deine Sache … aber wenn du es darauf anlegst, dass sie sich dir unterlegen fühlen, dann wird es auch zu meiner Angelegenheit.«
»Ich habe kein Problem mit der Unterlegenheit anderer, Herr Hartz«, sagte Markus, »nur mit ihrer Dummheit.«
»Die Menschen können nun mal nicht beeinflussen, wie viel oder wenig Intellekt sie bekommen.«
»Das meine ich doch gar nicht«, erwiderte Markus aufgebracht. »Wie Sie selbst sagen, kann man nichts gegen seine Mittelmäßigkeit tun. Aber ich verabscheue es, wie sie das zur Schau stellen. Dummheit ist nichts, was man bemitleiden sollte, vielmehr sollte man sich davor fürchten. Letzten Endes wird es die Dummheit sein, die uns alle umbringt. Ich könnte mich irren, aber ich habe so das Gefühl, dass das der Sinn dieses kleinen Ausflugs ist.«
»Ich dachte, du wärst nicht gerade begeistert von diesem Ausflug?«
Markus zuckte mit den Achseln. »Ich sehe keinen Sinn darin. Okay, ich sehe den Sinn, aber ich bezweifle, dass er auf mich zutrifft. Ich verstehe es. Ich habe es schon immer verstanden. Man muss es mir nicht noch ins Gesicht sagen.«
»Tja, eine Sache, die du daraus lernen könntest, ist, wie gefährlich es ist, sich als überlegen anzusehen. Diese Lektion solltest du lernen.« Hartz hielt inne und sah sich in der Cafeteria um. »Hör mir mal gut zu, Markus«, sagte er, als er sich dem Jungen wieder zuwandte. »Du hast in jeder Geschichtsklausur hervorragend abgeschnitten, weil du die richtigen Antworten kennst. Du kannst dir Fakten und Daten sehr gut merken …«
»Dann begreife ich nicht, wo das Problem ist«, erwiderte Markus, der es sehr wohl verstand.
»Du spielst das Spiel mit, funktionierst im System. Es ist meine Aufgabe, junge Geister zu erkennen und zu fördern, insbesondere wenn ein Verstand so viel Potenzial besitzt wie der deine. Und das bedeutet, dass du mehr leisten solltest, als von dir erwartet wird. Du hast einen klugen Kopf, Markus. Aber dein Verstand muss gefördert werden.«
»Ich fördere meinen Verstand. Und falls Sie mein Interesse an der Geschichte steigern wollen, dann ist das nicht möglich. Es tut mir sehr leid, Herr Hartz, denn ich weiß, dass Sie es gut meinen, und ich nehme mir Ihre Worte zu Herzen, aber ich kann nicht noch mehr in ein Thema investieren, das meiner Ansicht nach absolut nichts mit mir zu tun hat.«
»Wie kannst du so etwas sagen?« Hartz schien ernsthaft schockiert zu sein. »Die Geschichte betrifft jeden von uns. Die Geschichte macht uns erst aus, und sie hat die Welt geformt, in der wir leben.«
»Die Welt ist so, wie sie ist. Damit komme ich klar. Wir können nicht in der Vergangenheit leben, sondern nur in der Gegenwart.«
Hartz lachte. »Und was macht das dann aus mir? Ich bin Historiker. Das ist nicht nur mein Beruf, das macht mich aus. Ich bin mit der Vergangenheit verbunden.«
»Nein, das sind Sie nicht …« Markus passte seinen Tonfall und seinen Gesichtsausdruck schnell wieder an. »Nein, Herr Hartz, bei allem Respekt, das sind Sie nicht. Die Vergangenheit ist vorbei und kein Ort, den Sie besuchen können. Sie existiert nicht mehr. Es gibt nur das Hier und Jetzt. Ich habe vor Kurzem ein Buch gelesen, in dem es um Erinnerungen ging … die Art des Erinnerns. Die Hauptfigur in dem Buch ist mittleren Alters und hat im Leben alles erreicht. Der Mann ist glücklich und zufrieden. Dann trifft er einen Freund aus seiner Jugendzeit und denkt an die Vergangenheit zurück. Kurz darauf kauft er einen Song, lädt sich dieses Lied herunter, das er zuletzt in meinem Alter gehört hat. Er setzt die Kopfhörer auf, schließt die Augen und hört das Lied, und auf einmal wird er wieder in diese Zeit zurückversetzt. Einen Moment lang glaubt er, Zeitreisen seien in Gedanken möglich, dass man die Vergangenheit in seinem Kopf nachbauen und noch einmal erleben kann. Also hört er sich das Lied wieder und wieder an. Irgendwann begreift er, dass das Lied jetzt in der Gegenwart und nicht in der Vergangenheit ist. Es ist keine zerkratzte Langspielplatte, die er auf einem Plattenspieler abspielt, sondern ein digitaler Download auf einem MP3-Player. Er hat es sich so oft angehört, dass es nicht länger das Zimmer aus seiner Teenagerzeit heraufbeschwört, sondern die luxuriöse Wohnung, in der er jetzt lebt.« Markus schüttelte den Kopf. »Wenn wir so einen Ausflug machen, dann sehen wir uns alte Gebäude an und Sie sagen, die stammen aus dem sechzehnten oder siebzehnten Jahrhundert. Aber so ist das nicht, denn sie sind Objekte des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Sie existieren hier und jetzt, unabhängig davon, wann sie gebaut wurden. In hundert Jahren werden sie Objekte des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts sein. Die Vergangenheit ist vorüber, die Toten sind begraben. Wir können nichts aus dem lernen, was längst vorüber ist, sondern nur aus dem, was gerade passiert.«
Hartz saß schweigend da. In seiner Miene spiegelten sich weder Wut noch Feindseligkeit wider, nur eine leise Traurigkeit, als hätte er einen Defekt oder eine Unfähigkeit bei seinem Schüler entdeckt.
»Dazu kann ich nur sagen, dass ich aufrichtig hoffe, dass du dich irrst«, sagte er schließlich. »Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen. Wir müssen aus ihr lernen. Darum geht es heute. Das, was du sagst, macht mich nicht nur traurig, es macht mir Angst.«
Es dauerte keine eineinhalb Stunden, bis sie ihr Ziel von Ulm aus erreicht hatten. Trotz all der Dinge, die er zu Hartz gesagt hatte, trotz allem, was er sich selbst versprochen hatte, spürte er etwas wie ein Frösteln, als er es zum ersten Mal sah.
Verstört nahm er zur Kenntnis, dass genau das, was er zu Hartz gesagt hatte, nicht eintrat: Etwas, das in der Vergangenheit hätte bleiben sollen, existierte in der Gegenwart. Als der Bus die Alte Römerstraße entlangfuhr, sah er es, kurz bevor er auf die Straße einbog, die zum Besucherzentrum und zum Parkplatz führte: Etwas, das er zuvor nur von Schwarz-Weiß-Bildern gekannt hatte, von einer nicht perfekten Aufzeichnung einer vergangenen Realität. Doch nun hatte er es in Farbe und lebensecht vor sich. Die Mauer neben der modernen Straße war gekrönt von Stacheldraht und wurde von eckigen, robusten Türmen unterbrochen, die unter ihren pyramidenförmigen Walmdächern ringsum Fenster aufwiesen.
Auf dem Parkplatz vor dem Besucherzentrum stiegen sie aus dem Bus. Hartz verschwand in dem Gebäude und kam mit einer attraktiven dunkelhaarigen Frau wieder heraus, die sich als Anna vorstellte und sagte, dass sie die Führung leiten werde. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle bereit waren, führte sie die Gruppe durch ein Metalltor im Jourhaus auf die Gedenkstätte.
Obwohl er entschlossen gewesen war, sich von diesem Erlebnis nicht beeinflussen zu lassen, und auch wenn er wusste, dass es sich bei den drei Worten, die in Eisen gegossen in der Mitte des Tores angebracht waren, um eine Replik aus den 1960ern handelte, konnte Markus ein Frösteln nicht unterdrücken, als er sie las.
ARBEIT MACHT FREI.
Zusammen mit den anderen ging Markus angemessen würdevoll schweigend weiter und lauschte der jungen, hübschen Frau, die hässliche, alte Fakten von sich gab.
Sie wurden um die einzigen beiden noch stehenden Baracken herumgeführt. Nur dass dies nicht die echten Barackenblöcke waren, sondern exakte Nachbauten aus dem Jahr 1965. Was sollte das bringen?, fragte er sich. Hier waren so schreckliche Dinge geschehen, die man gar nicht erst als Simulation darstellen sollte.
Markus fand es viel faszinierender, die anderen zu beobachten. Die ganze Gruppe wirkte so ernst, wie es bei Schulausflügen nicht gerade üblich war. Einige seiner Klassenkameraden waren wirklich interessiert, aber das wären sie auch in einer Kunstgalerie oder einem Museum gewesen. Andere wirkten jedoch tatsächlich beeinflusst von dem, was sie gerade sahen oder hörten. Er bemerkte, dass Imke Paulig die ganze Zeit über geschwiegen hatte und dass ihr Gesicht sehr blass geworden war, als man ihnen das Krematorium gezeigt hatte. Er wusste, dass einige Leute behaupteten, noch immer den Geruch von brennendem Fleisch und Asche zu riechen, wenn sie in der Nähe der Öfen standen. Markus roch nichts und wunderte sich, wie sich einige Menschen derart leicht von ihrer eigenen Fantasie täuschen lassen konnten.
Für Markus war dies schlicht und einfach ein Ort, an dem vor sehr, sehr langer Zeit etwas Schlimmes, etwas Unverzeihliches und Böses geschehen war. Etwas, das nichts mit ihm zu tun hatte. Die Erbschuld war längst abbezahlt worden oder betraf nur die vorangegangenen Generationen, aber nicht ihn. Zwar tat Markus oft so, als hätte er für andere nichts als Abscheu übrig, aber er war empfindsam genug, sich um Unrecht und Unmenschlichkeit Gedanken zu machen. Die Verbrechen, die hier begangen worden waren, waren schrecklich und abscheulich, und er fühlte sich deswegen schlecht, aber auf dieselbe Weise, wie ihm Verbrechen im stalinistischen Russland, in Serbien, in Ruanda oder einem Dutzend anderer Orte und zu anderer Zeit nahegingen.
Nach der Führung durften sich die Schüler ohne Aufsicht auf dem Gelände bewegen und hatten Zeit, um noch einmal in Ruhe über alles nachzudenken.
Wie immer beschloss Markus, alleine zu bleiben, und er setzte sich unter einer Weide auf eine Bank und beobachtete die anderen. Ein Teil von ihm wäre gern bewegt gewesen und hätte gern etwas gespürt, aber das passierte nicht.
Dieser Ort gehörte in die Gegenwart. Die Ereignisse, die hier stattgefunden hatten, waren tragisch, doch der Ort selbst war es nicht. Für Markus stellte er vielmehr keine unangenehme, sondern eher eine irgendwie städtische Umgebung dar. Wenn überhaupt, dann empfand er ihn als beruhigend und friedlich.
Möglicherweise lag es am Wetter, dass er so empfand, aber unter dem blauen Frühsommerhimmel und mit der Sonne im Gesicht fiel es ihm schwer, einen solchen Ort des Leidens und des Sterbens auf sich wirken zu lassen. Doch dann ging ihm auf, dass die Sonne damals auch für sie geschienen haben musste.
Markus überlegte, ob er seinen MP3-Player einschalten sollte, war jedoch besorgt, dass das respektlos erscheinen würde, also lehnte er sich einfach zurück, streckte die Arme auf der Rückenlehne aus, schloss die Augen und hielt sein Gesicht in die Sonne.
Markus Schwab saß auf der Bank in der Sonne und hatte auf einmal ein seltsames Gefühl.
Es ließ sich am besten als eine Art Déjà-vu beschreiben.