45. JOHN MACBETH. BOSTON.

Deborah Canning saß an genau derselben Stelle in exakt derselben Haltung. Sogar der Kunstbildband lag in genau dem gleichen Winkel auf dem Tisch. Die einzigen Unterschiede zu Macbeths letztem Besuch bestanden darin, dass sie andere Kleidung trug und dass das Fenster geschlossen war. Er hatte das Gefühl, ein bestimmtes Gemälde zum zweiten Mal zu sehen und sich an dieselben Elemente zu erinnern, wobei er gleichzeitig aber auch neue bemerkte.

Als er sie wiedersah, hätte sich Macbeth sehr leicht davon überzeugen lassen, dass Deborah Canning tatsächlich nur dann existierte, wenn andere Menschen anwesend waren. Oder vielleicht auch nur, wenn er bei ihr war.

Es lag nicht nur an der unveränderten Umgebung, dass er irritiert war. Macbeth wurde auch von der fernen Erinnerung an das nicht veränderte Zimmer und an eine andere Zeit heimgesucht. Er wusste noch genau, wie er in diesem Zimmer gesessen und mit seinem Patienten – seinem letzten am McLean – gesprochen hatte, dem er multiple Persönlichkeiten bescheinigt hatte.

Pete Corbin stellte Deborah Walt Ramirez vor. Der riesige, sonnengebräunte Polizist mit den riesigen Händen und den breiten Schultern schien den Raum auszufüllen und erinnerte Macbeth auf unangenehme Weise daran, wie er an diesem Morgen aus seinem Traum aufgewacht war. Deborah schien Ramirez’ beeindruckende Präsenz nichts auszumachen. Stattdessen nickte sie und hatte ein belangloses Lächeln auf den Lippen.

Corbin plauderte einen Moment lang mit Deborah und fragte sie, wie ihr Tag gewesen war, bekam jedoch nur fast automatische, inhaltsleere Antworten, bevor er Ramirez das Ruder überließ.

»Sie sehen besorgt aus, Detective Ramirez«, meinte Deborah.

»Sergeant Ramirez«, korrigierte er sie. »Ich bin Patrol Sergeant. Inwiefern wirke ich besorgt?«

»Als hätten Sie mehr Fragen, als Sie stellen könnten.«

»Ich habe einige Fragen über Melissa. Wissen Sie, was passiert ist?«

»Ja, das tue ich. Aha, Sie versuchen also, es zu verstehen.«

»Genau. Es wäre sehr wichtig für mich, das zu verstehen. Nicht nur als Polizist, sondern auch für mich als Mensch.«

Deborah nickte. »Ich verstehe es jetzt … Sie waren da?«

»Ja. Aus diesem Grund möchte ich es verstehen. Wissen Sie, warum Melissa und die anderen das getan haben?«

»Sie waren im Werden.«

»Was bedeutet das? Was werden sie?«

»Das würden Sie nicht verstehen. Sie sind nicht darauf programmiert, es zu verstehen.«

»Ich würde es gern versuchen.«

»Melissa, die anderen, ich … Wir haben die Wahrheit gesehen. Es war Zeit zu werden.«

»Welche Wahrheit?« Ramirez konnte nur noch mit Mühe die Geduld bewahren.

»Dass unsere Zukunft bereits passiert ist.«

Ramirez seufzte.

»Ich sagte ja, dass Sie es nicht verstehen würden.« Sie lächelte sanft.

»Ich verstehe es auch nicht«, schaltete sich Macbeth ein. »Wie kann unsere Zukunft bereits passiert sein?«

»Es bedeutet, dass das, was Sie für das Jetzt, für die Gegenwart, halten, schlicht und einfach die Vergangenheit ist. Nur dass wir nicht die echten Menschen sind, die damals gelebt haben. Wir sind nicht einmal ihre Geister. Wir leben nur in einem lebendigen Bild. Wir sind Marionetten.«

»Das ergibt doch keinen …«

Macbeth unterbrach Ramirez, indem er ihm eine Hand auf den Ellenbogen legte. »Debbie ist hier, weil sie psychiatrische Hilfe gesucht hat«, sagte er leise. »Sie können nicht erwarten, dass alles, was sie sagt, für Sie einen Sinn ergibt. Um die Wahrheit herauszufinden, müssen wir uns um ihr Syndrom herumarbeiten.«

Deborah Canning lachte, als wäre sie leicht amüsiert.

»Hat es ein Ereignis gegeben, irgendwas, das sie dazu gebracht hat, das zu tun?«, formulierte Ramirez seine Frage um.

»Wir haben lediglich die Wahrheit gesehen. Wir haben ein neues Spiel entwickelt. Das größte Projekt, an dem wir je gearbeitet haben. Völlig intuitiv bezieht es den Spieler ganz mit ein. Es war eigentlich sogar weitaus mehr als ein bloßes Spiel. Jane McGonigal hat einmal gesagt, es sollte einen Nobelpreis für Spiele geben. Unser Baby hätte ihn gewonnen.«

»Was war denn so besonders daran?«, wollte Ramirez wissen.

»Die Größe, die bloße Komplexität der Programmierung, die Mechanik … Aber vor allem die Umgebung, die es erschuf. Melissa hatte eine Partnerschaft zwischen unserer Firma und Jeff Killberg eingeleitet. Das war eine neue Generation, quasi ein Paradigmenwechsel in der Spielebranche. Wir haben es ›Reality Pervasive Envirogeering‹ oder auch ›Realitätsdurchdringende Umgebungserschaffung‹ genannt.«

»Können Sie mir das genauer erklären?«, bat Ramirez. »Mit einfacheren Worten, so, dass ich es verstehe.«

»Sie wissen, wie realistisch Computerspiele geworden sind. Tja, wir haben das in einer völlig neuen Dimension weiterentwickelt. Wir haben eine virtuelle Spielumgebung erschaffen, die komplexer und überzeugender ist als alles, was je erschaffen wurde. Alle beschweren sich darüber, dass Spiele in virtuellen oder alternativen Realitäten den Menschen aus der realen Welt herausnehmen … Doch unser Spiel war eine perfekte Simulation dieser Welt. Straßen in der Stadt, Wahrzeichen, alles war genau so wie im richtigen Leben. Der Unterschied bestand darin, dass der Spieler die Zeit und die Realität verändern konnte – als hätte er im wirklichen Leben Superkräfte entwickelt. Aber die wirklich große Neuigkeit war die Überzeugungskraft des Spiels. Es verschmolz die virtuelle Realität mit der erweiterten und der echten Realität.« Zum ersten Mal entdeckte Macbeth so etwas wie echte Lebhaftigkeit in Deborahs Gesichtsausdruck. »Wir haben eine Spielwelt effektiv und überzeugend über die reale Welt gelegt. Uns ist klar geworden, dass wir die Grenze zwischen dem Leben im Spiel und dem wirklichen Leben völlig auslöschen können.«

»Das klingt doch eher nach einem Grund zum Feiern«, meinte Ramirez, »und nicht nach einem Selbstmordpakt.«

»Sie verstehen es nicht.« Jetzt war Deborah die Frustrierte. »Das, was Sie gesehen haben, war keine Tat, die aus Verzweiflung oder Traurigkeit begangen wurde. Es war ein Werden.«

»Erzählen Sie uns mehr über das Programm«, bat Macbeth sie.

»Haben Sie schon vom ›Pervasive Game Syndrome‹, dem ›Tief greifenden Spielsyndrom‹, gehört, das auch Tetris-Effekt genannt wird?«, fragte sie.

Macbeth nickte. Dabei handelte es sich um ein psychologisches Phänomen, bei dem die Formen herunterfallender Tetris-Blöcke oder auch die Bilder aus einem anderen Spiel noch lange, nachdem die Spieler zu spielen aufgehört hatten, vor ihrem inneren Auge zu sehen war.

»Tja, die Umgebung unseres neuen Spiels war diesbezüglich die ultimative Lösung. Aus diesem Grund haben wir es realitätsdurchdringend genannt. Dieses Potenzial des Spiels, das Leben der Menschen zu verbessern, war … grenzenlos. Gelähmte Menschen, Menschen, die am Locked-In-Syndrom leiden, Menschen, die alle möglichen einschränkenden Leiden haben, konnten ein freies und unbeschwertes Leben führen. Sie konnten ein vollständiges Leben in einer generierten Realität führen.«

»Wie in dem Film Avatar?«, warf Ramirez ein.

»Nein, nicht wie in einem CGI-Cartoon … wie hier …« Sie streckte die Hände aus und deutete auf das Zimmer und ihre Umgebung.

»Was haben Sie denn nun während Ihrer Entwicklung dieses Programms entdeckt?«, wollte Macbeth wissen. »Was war das für eine Wahrheit, die Sie ans Licht gebracht haben?«

»Das Programm begann, sich selbst zu entwickeln: Es wurde von ganz allein komplexer. Dann erkannten wir, dass es sich drahtlos mit anderen Programmen verbunden hatte, die wir ebenfalls geschrieben hatten. Nicht nur mit Killbergs TIME-Programm, sondern auch mit anderen. Insbesondere mit einem.«

»Und welches Programm war das?«, erkundigte sich Corbin.

»Wir konnten es nicht herausfinden. Das Programm war autonom geworden und traf seine eigenen Entscheidungen. Es stellte Verbindungen her. In der Art von Neuralverbindungen … wie in einem Gehirn. Aber was immer dieses Programm auch war, es war definitiv gewaltig. Und damit meine ich so gewaltig, als würde es von der Regierung genutzt werden oder in einem bedeutenden Forschungsprojekt, und wir bekamen Angst, dass man uns beschuldigen würde, uns in Hochsicherheitssysteme gehackt zu haben. Aber das waren nicht wir, das hatte das Programm gemacht.«

»Nichts von all dem hat bisher erklärt, warum sich Melissa umgebracht hat«, stellte Macbeth fest. »Oder die anderen.«

Deborah drehte sich zum Fenster um und sah durch das Glas, auf dem jetzt Regentropfen zu sehen waren. Sie schwieg einige Sekunden lang.

»Es war ein Witz«, meinte sie schließlich. »Ein Spaß. Schließlich war es doch nur eine vom Computer generierte Welt wie diese. Doch sie besaß die Fähigkeit, diese zu überdecken.«

»Was war ein Witz, Debbie?«, fragte Ramirez.

»Wissen Sie, was passiert, wenn man ›Rekursion‹ in die Google-Suche eingibt, Sergeant?«

»Was ist ›Rekursion‹?«

»In der Programmierung kommt es zur Rekursion, wenn sich als Ergebnis einer Operation diese Operation und ihre Ergebnisse immer wiederholen, und zwar endlos. In der Kunst bedeutete es beispielsweise, dass sich ein Bild in sich selbst unendlich oft wiederholt. Wenn Sie jedenfalls ›Rekursion‹ in die Google-Suche eingeben, erhalten Sie als Antwort ›Meinten Sie Rekursion?‹ Das ist Programmiererhumor. Wir haben aus Spaß etwas Ähnliches gemacht.«

»Was?«

»Wir haben uns selbst hineinprogrammiert. Alternative Versionen von uns. Eigentlich nur Avatare, aber als das Programm begann, sich selbst weiterzuentwickeln …«

»Was ist passiert?«

»Wir haben es gesehen …« In Deborahs Gesicht und in ihrer Stimme war jetzt eine große Traurigkeit zu erkennen. »Wir haben alle Level des Spiels gesehen. Wir haben alle Stufen unseres Ichs gefunden. All die einander überlappenden Realitäten, von denen keine real war.«

Ramirez drehte sich zu Macbeth um und zuckte hilflos mit den Achseln.

»Debbie«, sagte Macbeth. »Was bedeutet das?«

»Es bedeutet, dass sie beide recht hatten.«

»Wer hatte recht?«

»Ich weiß, dass Dr. Corbin vermutet, ich würde über multiple Persönlichkeiten verfügen. Er hat recht, denn so ist es. So ist es bei uns allen. Erinnern Sie sich an das, was ich über Reflexionen gesagt habe?«

»Wer hatte noch recht?«, fragte Ramirez.

»John Astor. Die Zukunft ist bereits passiert. Und wir sind tatsächlich Phantome, die wir selbst geschaffen haben.«