3. JOHN MACBETH. BOSTON.
Macbeth nannte dem Fahrer sein Ziel.
»Ist das dieser schottische Laden an der Beacon Street?« Der harte Bostoner Akzent des Taxifahrers ließ die Konsonanten beinahe verschwinden. Macbeth staunte jedes Mal aufs Neue, wie stark ihm dieser Akzent auffiel, wenn er aus Europa zurückkehrte.
»Das ist er«, bestätigte er.
»Alles klar …« Der Fahrer warf einen Blick in den Rückspiegel, wie es Bostoner Taxifahrer immer taten, um ihren Fahrgast in Augenschein zu nehmen. Dann runzelte er konzentriert die Stirn und Macbeth seufzte, da er wusste, dass der Fahrer gerade überlegte, wo er Macbeth schon einmal gesehen hatte. Die Leute glaubten immer, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben, aber das konnte nicht sein, weil es nie geschehen war. Wie alle anderen hatte auch der Taxifahrer zuvor noch nie den Weg des Psychiaters gekreuzt, aber Macbeth wusste, dass seine Fragen früher oder später kommen würden.
Schweigend saß Macbeth auf dem Rücksitz und ließ die ihm gleichzeitig vertraute wie unbekannte Innenstadt von Boston an sich vorbeirauschen, wobei es ihn irritierte, dass er keine Verbundenheit zu dieser Umgebung verspürte, obwohl er es eigentlich tun sollte. Jamais-vu, das Gegenteil eines Déjà-vus.
Er erinnerte sich daran, dass er mal eine Frau behandelt hatte, die sich aufgrund einer Gehirnverletzung ständig im Zustand der Derealisierung und des Jamais-vu befunden hatte: Alles, was sie gekannt und womit sie aufgewachsen war, womit sie gelebt hatte, kam ihr auf einmal nicht mehr vertraut vor. Sie litt nicht unter Amnesie und ihre Erinnerungen waren intakt, aber die Verbindungen, die das, was sie sah, mit dem, was sie kannte, abstimmten, existierten nicht mehr. Als Resultat starrte sie jedes Mal, wenn sie das Apartment betrat, in dem sie seit fünf Jahren lebte – dessen Adresse sie kannte und von dem sie wusste, dass es ihr Apartment war – die Möbel, die Deko-Objekte und die Bilder an der Wand an, als betrete sie zum ersten Mal eine Wohnung, die sie zu mieten gedachte. Nichts von alldem kam ihr bekannt vor.
Genau so fühlte sich Macbeth jedes Mal, wenn er durch Boston fuhr. Er wusste, dass er sich hier zu Hause fühlen sollte, aber er tat es nicht. Seine Patientin, deren Verbindungsverlust zur Welt pathologisch und dauerhaft war, hatte gelernt, ihren Zustand nicht nur zu akzeptieren, sondern ihn sogar zu begrüßen und als Geschenk anzusehen. Für sie war die Welt jeden Tag neu und konnte entdeckt werden, und sie betrachtete ihr Leben mit einer Objektivität, die anderen fehlte. Macbeth fühlte sich hingegen einfach nur verloren.
Nach einigen Blocks blieb das Taxi auf einmal stehen, als der Verkehr dichter geworden war und sie nicht weiterkamen.
»Schrecklich, diese Sache in San Francisco. Haben Sie davon gehört?«, fragte der Fahrer und sah in den Rückspiegel. Macbeth kam es so vor, als bestünde das Positive allen menschlichen Leids darin, dass Taxifahrer auf der ganzen Welt ein Thema hatten, über das sie reden konnten.
»Ich habe davon gehört. Ja, es ist wirklich schrecklich.«
»Was könnte einen Haufen junger Leute dazu bringen, einfach von der Golden-Gate-Brücke zu springen?«
Als Psychiater fielen Macbeth auf Anhieb ein halbes Dutzend Hypothesen ein, doch anstatt eine zu nennen, erwiderte er: »Keine Ahnung.«
»Ich begreife einfach nicht, warum sich Leute einen ganz besonderen Ort aussuchen, wenn sie Selbstmord begehen wollen«, fuhr der Taxifahrer fort, wobei er untröstlich klang. »Ich meine, warum die Golden Gate? Und warum dieser Wald in Japan? Das ist der zweitbeliebteste Ort auf der Welt, um Selbstmord zu begehen, wussten Sie das? Direkt nach der Golden-Gate-Brücke. Ich begreife es einfach nicht.«
»Ich auch nicht.«
»Es ist eine Schande, wie immer der Grund auch aussehen mag.« Der Fahrer schüttelte den Kopf und erkundigte sich dann in deutlich fröhlicherem Tonfall: »Sind Sie ortsfremd?«
»Ja. Aber auch wieder nicht … Ich komme aus Boston, lebe aber seit einigen Jahren im Ausland.«
»Machen Sie einen Familienbesuch?«
»Ich bin eher geschäftlich hier, werde aber auch meinen Bruder besuchen, der noch in der Stadt wohnt. Wissen Sie, warum es hier nicht weitergeht?«
»Ich kann nichts sehen. Wir müssen es einfach aussitzen. Normalerweise dauert es nicht lange. Könnte es sein, dass ich Sie von irgendwoher kenne?«
»Das bezweifle ich«, antwortete Macbeth. Da begann sie wieder, die eine Unterhaltung, die er schon so oft geführt hatte. Es störte ihn, dass sein Gesicht vielen Menschen so bekannt vorkam, und in Kombination mit seinem schlechten Gedächtnis bewirkte es, dass er sich nie ganz sicher sein konnte, ob er seinem Gegenüber nicht doch schon einmal begegnet war.
»Doch …«, entgegnete der Fahrer und sah in den Rückspiegel. »Ich bin mir ganz sicher. Direkt nachdem Sie eingestiegen waren, habe ich Sie erkannt, aber mir fällt nicht ein, wo ich Sie schon mal gesehen habe.«
»Vielleicht bin ich schon mal mit Ihnen gefahren«, schlug Macbeth vor.
»Nein …« Der Taxifahrer runzelte frustriert die Stirn, da es ihm einfach nicht einfallen wollte. Macbeth beschloss, es wie immer einfach durchzustehen. »Nein … Es war nicht im Taxi. Verdammt, ich kann Sie nicht zuordnen, aber ich weiß, dass ich Sie kenne.«
»Das höre ich häufig«, meinte Macbeth. »Wahrscheinlich habe ich einfach so ein Durchschnittsgesicht.«
»Es ist nicht nur Ihr Gesicht …«, sagte der Taxifahrer entschiedener. »Bevor Sie etwas gesagt haben, wusste ich schon, wie Ihre Stimme klingen würde. Als würde ich Sie wirklich von irgendwoher kennen.«
»Auch das höre ich häufiger. Ich habe irgendetwas an mir, das andere wiedererkennen. Vielleicht bin ich eine Art jungianischer Archetypus.«
»Was?«
»Ach, vergessen Sie’s.« Macbeth beugte sich vor und sah durch die Plexiglasscheibe, die ihn und den Fahrer trennte, sowie die Windschutzscheibe nach draußen. »Ist der Grund dafür, dass wir hier rumstehen, noch immer nicht zu erkennen?«
»Vielleicht liegt es am Vollmond. Wissen Sie, ob heute Nacht Vollmond ist?«
»Keine Ahnung. Was hat der Mond mit dem Verkehr zu tun?«
»Alles. Das wird Ihnen jeder Cop bestätigen«, erwiderte der Taxifahrer. »Und jeder Lieferant. Dann ist der Verkehr die Hölle, und nicht nur das … Jede Krankenschwester aus einer Notaufnahme und jede Kindergärtnerin kann Ihnen da so einiges erzählen. Bei Vollmond benehmen sich die Menschen anders. Nicht wirklich verrückt, aber anders. Sie treffen falsche Entscheidungen, schlagen den falschen Weg ein. Bei Vollmond gibt es deutlich mehr Unfälle und Staus. Möglicherweise ist das der Grund für diese Verzögerung. Vielleicht ist heute Vollmond.«
»Ich habe wirklich nicht die leiseste Ahnung, ob heute Vollmond ist«, meinte Macbeth.
»Wird vermutlich so sein. Zwei Touren vor Ihnen hatte ich einen Mann im Wagen, den ich zur Christian-Science-Kirche bringen sollte. Keine Ahnung, was er zu dieser nachtschlafenden Zeit da wollte. Er war jedenfalls ein ruhiger Zeitgenosse und hat nicht viel gesagt. Doch auf einmal schrie er los, dass da ein Kind vor meinem Wagen stehen würde. Also geh ich in die Eisen und habe beinahe einen Bus hinten auf der Stoßstange kleben. Aber da war gar kein Kind. Aber ich konnte ihm ansehen, dass er fest davon überzeugt war. Das Komische ist, dass er in einem Moment noch völlig schockiert war, im nächsten aber wieder ganz ruhig wurde, als hätte er begriffen, warum er sich geirrt hatte. Das muss am Vollmond liegen. Ganz sicher.«
Die Autos setzten sich wieder in Bewegung, und Macbeth und der Fahrer schwiegen.
Als das Taxi vor der Bar mit dem grünen Vordach hielt, stand die Sonne schon tief am Himmel und tauchte die Innenstadt von Boston in rotgoldenes Licht und samtene Schatten. Bei diesen Lichtverhältnissen wurde immer etwas in Macbeth geweckt, das sonst tief vergraben und lange vergessen war. Er spürte eine leichte Melancholie, als er die Beacon Street entlang zur georgianischen Architektur der King’s Chapel sah, die vom Abendlicht umspielt wurde.
»Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht doch von irgendwoher kenne?«, hakte der Taxifahrer noch einmal nach, als ihm Macbeth das Geld für die Fahrt und ein Trinkgeld reichte.
»Ganz sicher.«
Macbeth konnte sich nicht genau daran erinnern, wann und wo er Pete Corbin zum ersten Mal begegnet war, aber es musste zu der Zeit gewesen sein, als sie beide an der medizinischen Fakultät von Harvard studiert hatten. Soweit er sich erinnerte, waren sie damals keine Freunde gewesen. Corbin hatte einer anderen Gruppe angehört, und sie waren sich nicht oft über den Weg gelaufen. Aber in den Jahren danach, während ihrer gemeinsamen Assistenzzeit im Beth-Israel-Deaconess-Krankenhaus und als sich Corbin und Macbeth in ihrem gemeinsamen Fachgebiet der Psychiatrie einen Namen machten und am McLean arbeiteten, waren sie Freunde geworden. Vielleicht auch nur Arbeitskollegen. Macbeth war sich nie ganz sicher, wo der feine Unterschied zwischen beidem lag. Pete Corbin gehörte zu den Leuten, die man anrief, wenn man in der Stadt war, um etwas zu trinken oder essen zu gehen. Man sprach über die Medizin, die Politik verschiedener Krankenhäuser und gemeinsame Bekannte und schüttelte sich am Ende des Abends herzlich die Hand, aber eigentlich kannte man den anderen nicht wirklich. Es ähnelte eher einer Freundschaft und war eigentlich nur einer der Fäden, die man im gesellschaftlichen Netz sponn und an denen man sich entlanghangelte.
Daher hatte Macbeth Corbin angerufen, als er erfahren hatte, dass er sich wieder in Boston aufhalten würde, und sie hatten sich zum Essen verabredet.
Das Gathering Stone sollte einen schottischen Eindruck erwecken, aber mit der Fassade aus rotbraunem Portland-Sandstein und verzierten blau-grünen Eisenarbeiten um die riesigen Fenster, dem Namen in keltisch anmutenden Buchstaben und den Kreidetafeln auf dem Bürgersteig, auf denen die Namen und Preise der Biersorten standen, unterschied es sich nicht sonderlich von den zahlreichen vermeintlich irischen Kneipen Bostons. Im Inneren herrschten freigelegter Ziegelstein und Kiefernholz vor sowie Poster vom Edinburgher Schloss und rothaarigen Männern im Kilt mit Schwertern in der Hand anstelle der Bilder von Fahrrädern vor ländlichen Pubs in Irland. Es war einer dieser Orte, die gar nicht erst zu verschleiern versuchten, dass sie nur vortäuschten, etwas anderes zu sein als eine ehrliche Simulation, von der man auch gar nicht erwartete, dass sie mehr als das darstellte. Wie in einem Themenpark.
Bei ihrem Kennenlernen hatte Pete Corbin angemerkt, dass Macbeths Nachname auf einen schottischen Ahnenstrang hindeute. Aufgrund dieser gewagten These trafen sie sich fortan immer im The Gathering Stone.
Macbeth entdeckte Corbin mit einem Single Malt an einem Tisch unter dem gerahmten Bild eines verlassen wirkenden Bergs an einem See. Corbin, ein großer, schlanker Mann mit lichter werdendem blondem Haar, das er über seinen hohen Schädel kämmte, trug eine Tweed-Jacke, eine helle Hose und ein blaues Hemd, dessen oberster Knopf offen stand. Er hatte mit gezielter, eingeübter Absicht den lässigen Look eines Akademikers gemeistert. Macbeth hatte nie versucht, es ihm gleichzutun, da ihn sein europäisches Aussehen ebenso wie vieles andere hier in seiner Heimatstadt als Außenseiter kennzeichnete.
»Hi, John …« Corbin stand ein wenig träge auf und schüttelte Macbeth die Hand. »Schön, dich wiederzusehen. Du siehst wie immer hervorragend aus.«
»Bei dir alles okay?«, erkundigte sich Macbeth, während er sich seinem ehemaligen Kollegen gegenüber setzte. Ihm war aufgefallen, dass Corbins Grinsen bei seiner Begrüßung leicht müde gewirkt hatte.
»Bei mir? Mir geht’s gut. Ich bin nur überarbeitet. Du weißt schon … immer die alte Leier.« Corbin lächelte. »Und bei dir? Wie ist es in Europa?«
»Weit weg. Anders. Aber gut. Es ist allerdings schön, mal wieder für eine Weile nach Hause zu kommen. So bekomme ich die Gelegenheit, Casey wiederzusehen.« Damit bezog sich Macbeth auf seinen jüngeren Bruder, der noch immer in Boston lebte. »Ich habe gehört, dass du auch einiges erreicht hast, Pete. Ein Lehrauftrag am McLean …«
»Seit zwei Jahren.« Corbin schenkte ihm erneut dieses müde Lächeln.
»Sehr beeindruckend«, entgegnete Macbeth. Ein Lehrauftrag am McLean-Krankenhaus in Belmont war so ziemlich das Höchste, was man als Psychiater erreichen konnte. Während seiner eigenen Zeit am McLean vor einigen Jahren hatte Macbeth zum letzten Mal mit Patienten gearbeitet, bevor er in die Forschung gegangen war. Das McLean sah in jedem Lebenslauf gut aus. So etwas öffnete einem Türen. Ihm hatte es die Stelle in Kopenhagen ermöglicht.
Corbin rief eine hübsche Kellnerin mit dickem, rotbraunem Haar an ihren Tisch, bei der Macbeth ein Glas Pinot Grigio bestellte. Dabei lächelte sie ihn so an, wie es viele Frauen taten und wie ihn schon mit fünfzehn die Mädchen angelächelt hatten. Er hatte nie herausgefunden, warum sie das taten: Er sah nicht aus wie ein Filmstar, war nicht sehr selbstbewusst oder konnte gut mit Worten umgehen, aber er schien etwas an sich zu haben, das die Frauen anzog. Vielleicht glaubten sie aber auch nur, ihn schon mal irgendwo gesehen zu haben.
»Ist wirklich alles in Ordnung, Pete?«, fragte er Corbin, als die Kellnerin gegangen war.
»Mir geht es gut. Joanna und ich sind gerade in ein Haus in Beacon Hill gezogen …«
»Dann geht es euch in der Tat sehr gut.« Macbeth hob sein Glas und prostete ihm zu.
»Schätze schon. Joannas Familie hat uns unterstützt. Ehrlich gesagt ist sie stinkreich, und ohne sie hätten wir das Haus nicht kaufen können. Außerdem ist es ein altes, historisches Gebäude, in das wir viel Arbeit stecken müssen. Das ist nerviger, als wir es uns vorgestellt haben. Aber das Haus ist auch interessant, da sich eine finstere Bostoner Geschichte darum rankt.«
»Wirklich?«
»Früher hat dort Marjorie Glaiston gewohnt. Hast du schon mal von ihr gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Nicht? Der Glaiston-Skandal war fast so berüchtigt wie der Albert-Tirrell-Fall.«
Macbeth zuckte mit den Achseln.
»Wie dem auch sei«, fuhr Corbin unbeirrt fort, »die Glaistons hatten damals gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts Schulden bei halb Boston. Marjorie war eine berühmte Schönheit und Salonlöwin. Bis sie umgebracht wurde, und zwar auf unserer Treppe …«
»Sie wurde in eurem Haus ermordet?«
»Ja. Ist doch witzig …« Corbin lachte freudlos. »Wäre es ein Haus an einer anderen Stelle als Beacon Hill gewesen und wäre der Mord vor einem Jahr und nicht vor einem Jahrhundert passiert, dann hätte es nicht zum Verkauf gestanden. Anscheinend wird ein Mord im Verlauf der Zeit romantisch und marktfähig. Macht ein Haus wertvoller. Zumindest hatten wir diesen Eindruck, als wir es kaufen wollten. Aber die Renovierungsarbeiten ziehen sich ziemlich hin …«
»Bist du aus diesem Grund so müde?«
»Nein, nicht nur deshalb. Ich habe, wie gesagt, in den letzten Monaten wie verrückt gearbeitet.«
»Ich dachte, unsere Arbeit soll auch … verrückt sein.«
»Nicht auf diese Art verrückt.« Corbin schüttelte den Gedanken ab. »Aber lass uns jetzt nicht von der Arbeit reden. Oder zumindest nicht von meiner. Diese Kopenhagen-Sache, an der du arbeitest, klingt ausgesprochen interessant.«
»Sie ist cool, das muss ich zugeben.«
»Aber glaubst du wirklich, dass sich das realisieren lässt?«, fragte Corbin. »Die Dekonstruierung der menschlichen Intelligenz?«
»Ich weiß nicht, ob es das ist, was wir tun«, meinte Macbeth. »Ich würde eher sagen, wir versuchen, die menschliche Intelligenz zu verstehen.«
»Aber ich habe in Nature gelesen, dass das Ziel des Kopenhagen-Projekts darin besteht, die menschliche Wahrnehmung zurückzuentwickeln, um den Technologen bei der Entwicklung von künstlichen Intelligenzen, die auf diesem Modell basieren, zu helfen. Im Grunde genommen wollen sie einen menschlichen Verstand simulieren.«
»Das ist nur ein Teil davon, Pete. Mein Bereich ist sehr konzentriert.«
»Worauf?«
»Wie du bereits gesagt hast, ist Projekt Eins eine Computersimulation des menschlichen Gehirns – des limbischen Systems, des Neocortex, von allem –, das Neuron für Neuron und Zelle für Zelle nachgebaut wird. Oder vielmehr virtuelles Neuron für Neuron. Mein Anteil daran ist die Programmierung von Krankheiten, um dann die Veränderungen der Neuralaktivitäten zu beobachten.«
»Besteht denn nicht die Gefahr, dass es anfangen wird zu denken?«
»Das ist ein Ziel und keine Gefahr. Es soll zumindest ein gewisses Selbstbewusstsein entwickeln. Wahrscheinlich ist es ohnehin unausweichlich, denn wenn wir die Architektur eines echten Gehirns nachbauen, wird sich das Bewusstsein automatisch von selbst generieren. Stell dir das doch mal vor, Pete … Wir werden in der Lage sein, psychiatrische Zustände zu simulieren und die damit verbundenen Neuralaktivitäten zu kartografieren. Zum ersten Mal können wir einem Gehirn bei der Arbeit zusehen. Das wird die Psychiatrie revolutionieren.«
Corbin runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht, John … Was ihr da erschafft, wird von einem echten menschlichen Verstand nicht zu unterscheiden sein. Und du sprichst davon, diesen Verstand auch noch mit Neurosen und Psychosen zu infizieren.«
»Wir haben über die moralischen Bedenken nachgedacht, und die Projektprotokolle schreiben eindeutig fest, wie eine Persönlichkeit zu bestimmen ist. Aber wir werden ohnehin nur mit Teilen des Bewusstseins und nicht mit dem Ganzen arbeiten. Aber wenn Projekt Eins einfach nur ›aufwacht‹, liegen bereits strikte Richtlinien vor, wie wir weiter vorgehen dürfen.«
In Corbins Gesicht spiegelten sich erneut seine Zweifel wider. »Aber wir sind alle mit unseren Körpern verbunden – mit dem Lymph- und Verdauungssystem sowie den endokrinen Systemen. Unser Geisteszustand hat ebenso viel mit unserem Hormonspiegel und der Frage zu tun, ob wir gut geschlafen oder was wir gerade gegessen haben, wie mit unserem Gehirn. Doch dein synthetisches Bewusstsein ist mit nichts verbunden.«
»Das haben wir in unsere Überlegungen mit einbezogen«, erwiderte Macbeth. »Das Programm simuliert den zirkadianen Rhythmus und das endokrine Gleichgewicht und spiegelt die Effekte der Umgebung, Ernährung und Physiologie wider. Es wird mit einem virtuellen Körper verbunden sein.«
»Aber nicht mit der Welt … Wenn dein synthetisiertes Gehirn ein Bewusstsein entwickelt, wacht es in einer Welt ohne sensorische Inputs auf. Du hast Josh Hobermans These über die psychotomimetischen Effekte des Reizentzugs und die Forschungsunterlagen des University College in London gelesen. Testpersonen, die in lichtversiegelte, schalltote Kammern eingesperrt wurden, bekamen bereits nach fünfzehn Minuten Halluzinationen und sahen eine Umgebung und Menschen, die gar nicht da waren. Offenbar erfinden wir eine reale Welt um uns herum, wenn keine vorhanden ist – und ich rechne damit, dass dein Projektgehirn dasselbe tun wird. Ich bezweifle, dass du dir darüber Gedanken machen musst, wie du die psychiatrischen Zustände hervorrufst, denn dein Baby wird sie bereits von Geburt an haben.«
»Daran haben wir natürlich auch gedacht. Wenn Projekt Eins sein komplettes Bewusstsein selbst initiiert, werden Programme aktiviert, die Sinnesreize simulieren.«
Corbin schüttelte ungläubig den Kopf. »Du machst Witze. Ihr wollt ihm wirklich eine falsche Realität vorspielen? Vielleicht solltet ihr euer synthetisches Gehirn René nennen.«
»Wieso René?«
»Nach Decartes. Er hat gesagt, er könne niemals beweisen, dass er kein Gehirn in einem Tank wäre, das nur von einem böswilligen Dämon in die Irre geführt wird. Offenbar bist du dieser Dämon.« Corbin zuckte mit den Achseln. »Entschuldige, John, aber ich werde zynisch, wenn ich müde bin. Ich halte dieses Projekt für eine einmalige Gelegenheit und bin vermutlich mehr als nur ein bisschen neidisch auf dich.«
»Es gibt keinen Grund, neidisch zu sein. Projektdirektor Poulsen ist ein wahrer Captain Bligh.«
»Schick mir eine Postkarte aus Schweden, wenn du deinen Nobelpreis in Empfang nimmst …« Corbin prostete ihm zu.
Macbeth lachte und schüttelte den Kopf. »Glaub mir, wenn es einen Nobelpreisträger in der Familie geben wird, dann wird das Casey sein.«
»Tja, ich beneide dich, John.« Corbin grinste. »Wo wir gerade bei Neid sind, was macht dein Liebesleben?«
»Mein Liebesleben?«
»Erheitere mich«, meinte Corbin. »Ich muss durch andere leben. Willst du dich noch immer nicht niederlassen? Was ist mit … Melissa hieß sie, nicht wahr?«
»Melissa ist aufgrund ihres Jobs nach Kalifornien gezogen«, antwortete Macbeth. »Wir haben keinen Kontakt mehr.«
»Wie schade.« Corbin schüttelte den Kopf. »So einen Kontakt möchte man wirklich nicht verlieren. Sie war etwas ganz Besonderes, John.«
»Ich weiß. Aber so etwas kann passieren. Und es passiert immer mir. Ich bin aber auch nicht der einfachste Partner.«
»Wirklich schade …« Corbins abwesende Miene ließ vermuten, dass er Melissas Bild vor seinem inneren Auge wieder aufleben ließ.
»Warum erzählst du mir nicht, was du bei der Arbeit für Probleme hast?«, wechselte Macbeth das Thema.
»Wie gesagt, würde ich lieber über etwas anderes reden …« Corbin wollte offensichtlich ebenso wenig über seine Arbeit reden wie Macbeth über sein Privatleben, und so wichen sie auf Oberflächlichkeiten aus.
Die nächste Stunde unterhielten sie sich beim Essen über Dinge, die ihr Alltagsleben betrafen. Macbeth stellte fest, dass er die meiste Zeit sprach und Corbin von seiner Arbeit für die Universität und seinem Leben in Kopenhagen erzählte, von den Ähnlichkeiten und Unterschieden zum Leben in den Vereinigten Staaten und wie man seine Persönlichkeit und seine Erwartungen an die Umgebung anpasste. Corbin lächelte. Nickte. Kommentierte. Aber es war offensichtlich, dass er mit seinen Gedanken ganz woanders war und dass ihm nicht nur die Müdigkeit zusetzte. Macbeth beschloss, den Abend so früh wie möglich zu beenden. Die hübsche Kellnerin mit dem rotbraunen Haar kam zurück, und Macbeth übersprang das Dessert und ging gleich zum Kaffee über.
»Entschuldige«, sagte Corbin. »Ich bin heute nicht gerade sehr redselig.«
»Schon in Ordnung«, erwiderte Macbeth. »Es ist schön, dich wiederzusehen. Aber es ist auch offensichtlich, dass du sehr unter Stress stehst. Wenn du mir doch nur verraten würdest, was bei der Arbeit los ist …«
Corbin schien gerade etwas sagen zu wollen, als sein Handy klingelte.