14. JOHN MACBETH. BOSTON.
Casey war Macbeths vier Jahre jüngerer Bruder. Sie hatten einander und auch ihrem Vater schon immer nahegestanden, der ihre kleine Familie stets als die »drei Musketiere« bezeichnet hatte. Dies war ein Ausdruck trauriger Einsamkeit gewesen, auch wenn sich Macbeth, und noch weniger Casey, damals vollständig im Klaren über die Traurigkeit ihres Vaters gewesen waren.
Macbeths Mutter war in ihrem Leben nur aufgrund ihrer Abwesenheit präsent gewesen: Sie war gestorben, als Macbeth sechs Jahre alt war, plötzlich und unbemerkt, wie eine Hauptfigur in einem Theaterstück, die auf einmal auf unerklärliche Weise jenseits der Bühne ums Leben kam. Später hatte Macbeth herausgefunden, dass seine Mutter einem Berry-Aneurysma im Arterienring des Gehirns zum Opfer gefallen war, das bewirkt hatte, dass ihr Hirnstamm einriss und mit Blut überflutet wurde. Als Kind hatte er sich vorgestellt, dass sie einfach die Augen geschlossen hätte, als würde sie einschlafen, aber als Arzt hatte er das wahrscheinlichere Szenario vor Augen gehabt: den heftigen Donnerschlagkopfschmerz, den katastrophalen Verlust der motorischen Fähigkeiten, vielleicht eine aufsteigende Verwirrung, lebhafte Halluzinationen, Zuckungen und dann der Tod. Häufig kam es bei einem Berry-Aneurysma auch zu einer Ptose, bei der ein Augenlid halb geschlossen über dem Auge lag, und so hatte er sie sich häufig vorgestellt – und aus diesem Grund hatte er sich auch wieder an sie erinnert, als er Gabriel Rees halb geschlossenes Augenlid auf dem Platz und in seinem Traum gesehen hatte.
Wie immer seine Mutter auch wirklich gestorben sein mochte, sie war auf jeden Fall plötzlich und unerwartet aus seinem Leben verschwunden: Cora Macbeth war an diesem Morgen noch körperlich in seinem Leben vorhanden gewesen, am Nachmittag jedoch verschwunden. Danach existierte seine Mutter nur noch als Konzept, als Gedanke in einem heranwachsenden Verstand, und mit der bedingungslosen Anpassungsfähigkeit eines Kindes hatte sich Macbeth bald an ihre Abwesenheit gewöhnt. Zumindest hatte er sich angepasst. Während er aufwuchs, hatte er sich häufiger vorgestellt, seine Mutter sei gar nicht tot und würde an einem anderen Ort leben, vielleicht eine andere Existenz unter einem anderen Namen führen. Sie würde sich jedoch jede Nacht in den Schlaf weinen, wenn sie an ihre Söhne dachte, die sie hatte zurücklassen müssen. Er hatte sich sogar eine Alternative ausgedacht, in der ihm die Wahrheit vorenthalten worden war und seine Mutter in einem tiefen Schlaf lag, aus dem man sie nicht wecken konnte und in dem sie sich ein anderes Leben herbeiträumte; vielleicht waren er, sein Vater und sein Bruder, ihre ganze Welt, nichts weiter als Produkte der Fantasie seiner träumenden Mutter.
Das Defizit in seinem Leben, das aufgrund der toten Mutter und des traurigen Vaters entstanden war, konnte jedoch dank seines Bruders kompensiert werden. Casey war Macbeth sehr ähnlich, und gleichzeitig unterschieden sie sich deutlich voneinander. Während ihrer Kindheit war Macbeth der Wegbereiter gewesen. Trotz der auftretenden Störungen seiner Psyche war Macbeth ein herausragender Schüler. Sein IQ lag den Messungen zufolge am oberen Ende der Skala, aber zu diesem Zeitpunkt stellte dieser Vorteil vermutlich eher einen Nachteil dar und schuf das Potenzial für mentale Fehltritte. Als Casey älter wurde, stellte sich heraus, dass er seinem Bruder intellektuell gewachsen war, jedoch zeichnete sich Caseys Intellekt durch eine Anmut und Symmetrie aus, die Großes von ihm erwarten ließ.
Und es gab bei ihm keine Störungen.
Während Macbeth seinem Vater nacheiferte und Medizin und Psychologie studierte, ging Casey in die Physik, danach die Astrophysik und die Quantenmechanik. Trotz seiner Jugend gehörte er schon jetzt zu den herausragendsten Wissenschaftlern des Planeten, und man erwartete, dass er eines Tages den Nobelpreis gewinnen würde.
Das erfüllte Macbeth sowohl mit Stolz als auch Neid. Aber vor allem liebte er seinen Bruder, und jeder Konkurrenzgedanke wurde durch ihre Freundschaft unterdrückt, welche die engste war, die Macbeth je gehabt hatte. Und die vielleicht auch die einzige echte Freundschaft in seinem Leben war.
Sie trafen sich wie verabredet auf einer Bowlingbahn an der Massachusetts Avenue nicht weit von Caseys Wohnung im ersten Stock eines Back-Bay-Sandsteinhauses, von dem aus er über die Brücke in fünfzehn Minuten das MIT erreichen konnte.
Casey Macbeth war ganz offensichtlich John Macbeths Bruder. Er war kleiner und schmaler gebaut und sah etwas weicher aus, aber sie hatten dieselben grünen Augen, das gleiche dunkle Haar, und auch der Schnitt ihres Gesichts war nahezu identisch. Doch während sich Macbeth anspruchsvoll und teuer kleidete, sah Casey fast immer so aus, als sei sein Kopf mit anderen Dingen beschäftigt gewesen, während er sich angezogen hatte. Als Macbeths jüngerer Bruder auf die Bowlingbahn kam, trug er eine Jeans und ein dunkelblaues T-Shirt mit der Aufschrift: »Gesucht tot und/oder lebendig: Schrödingers Katze«. Macbeth hatte einmal versucht, dem höchst amüsierten Casey zu erklären, warum niemand den Quantenphysikhumor verstand. Er hatte es dann jedoch aufgegeben.
Die Brüder machten drei Spiele, die Macbeth alle gewann, obwohl er sich keine große Mühe gab. Caseys Leidenschaft für das Bowlen wurde nur noch von seiner Unfähigkeit übertroffen. Macbeth hatte noch nie verstanden, wie es sein Bruder, der mit einer eleganten Gleichung jede Kraft, jeden Winkel und jeden Drall ausrechnen konnte, damit sich die Kugel auf die gewünschte Weise bewegte, so oft schaffte, so viele Pumpen zu werfen.
»Ich bin befriedigt …«, sagte Casey mit fröhlichem Grinsen nach seiner dritten Niederlage. »Jetzt sollten wir zu mir fahren und uns betrinken. Klingt das nach einem guten Plan?«
»Das klingt nach einem guten Plan«, erwiderte Macbeth begeistert, auch wenn er wusste, dass weder er noch sein Bruder zu den Menschen gehörte, die sich völlig und hoffnungslos betranken. »Nach all dem, was ich letzte Nacht durchgestanden habe, könnte ich ein wenig Entspannung gebrauchen.«
»Warum? Was ist denn letzte Nacht passiert?«, erkundigte sich Casey mit besorgter Miene.
»Das erzähle ich dir später«, entgegnete Macbeth.
Caseys Wohnung sah nicht so aus, wie man es anhand seiner Erscheinung erwarten würde, aber das wusste Macbeth längst. Zwar ließ seine Kleidung auf ein mentales Chaos schließen, aber Caseys Lebensumfeld spiegelte die kristallklare Ordnung in seinem Verstand wider. Macbeth vermutete, dass sein Bruder ebenso wie er ein Bedürfnis nach einer Umgebung verspürte, die ihm ein Gefühl von Harmonie vermittelte.
»Hast du alles, was du brauchst? Ich meine, für deinen Aufenthalt hier … Ich weiß, wie schwer es ist, beim Packen nichts zu vergessen.« Casey legte einen Untersetzer vor Macbeth auf den Tisch und stellte dann ein Glas Wein darauf ab.
»Ich habe alles, danke. Das Einzige, wobei du mir helfen könntest, ist mein Laptop.«
»Klar, wo liegt das Problem?«
»Es ist etwas ganz Komisches passiert – ich habe da einen Ordner auf dem Desktop, den ich nicht öffnen kann. Dabei erinnere ich mich nicht mal daran, ihn angelegt zu haben.«
»Kein Problem. Das klingt ganz danach, als hättest du ihn versehentlich gesperrt. Ich werde mir das mal ansehen.«
»Nein … Er ist nicht gesperrt«, sagte Macbeth. »Wenn ich ihn anklicke, werde ich nicht nach einem Passwort gefragt, es geht auch kein Nachrichtenfenster auf oder so was. Es ist fast so, als handle es sich bei dem Ding um ein Phantom.«
»Ein Phantom?« Casey lachte. »Wenn du in Bezug auf Computer jetzt metaphysisch werden willst, dann solltest du lieber auf meine Seite der Wissenschaft wechseln. Bring ihn einfach beim nächsten Mal mit, wenn du mich besuchen kommst.«
»Danke.«
»Vermisst du es eigentlich nie? Hier zu leben, meine ich«, fragte Casey.
»Ich schätze schon. Das Cape allerdings mehr als Boston. Doch es gefällt mir in Kopenhagen. Ich weiß, dass es dir da auch gefallen würde.«
»Wir sehen uns kaum noch«, meinte Casey. »Ich hatte überlegt, dich nächsten Monat mal besuchen zu kommen.«
»In Kopenhagen? Das wäre großartig, Casey.« Macbeth grinste. »Du kannst gern einige Wochen bleiben, wenn du so lange Urlaub bekommst. Ich werde dir einige wunderschöne dänische Blondinen vorstellen.«
»Tut mir leid. Ich werde nur ein paar Tage bleiben können. Ich muss nach England, genauer gesagt nach Oxford, und ich hatte mir überlegt, über Kopenhagen zu fliegen. Die beiden Städte können doch höchstens ein paar Stunden auseinanderliegen.«
»Wie gesagt, du kannst gern bleiben, so lange du willst. Ich würde mich sehr freuen, dich zu sehen. Was gibt es in Oxford?«
Casey trank einen Schluck Wein und grinste ihn verschwörerisch an. »Die größte wissenschaftliche Entdeckung aller Zeiten ist dort zu finden. Größer als Higgs. Größer als die allgemeine Relativitätstheorie, falls du dir das vorstellen kannst. Du hast einen der wenigen Auserwählten vor dir … Hey, ich bin offenbar ein Mitglied der Elite. Eigentlich solltest du mich mit wesentlich mehr Ehrerbietung behandeln.«
»Okay … dann schieß mal los.«
»Hast du schon von Henry Blackwell gehört?«, fragte Casey.
»Ja, ob du es glaubst oder nicht, ich bekomme auch einiges von dem mit, was außerhalb der psychiatrischen Welt vor sich geht. Was ist mit ihm?«
»Tja, dann weißt du ja, dass er der größte lebende Quantenphysiker der Welt ist. Er arbeitet seit Jahren an einem Projekt, über das er ungewöhnlich wenig verrät … oder zumindest so wenig, wie es jemandem innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde so gerade eben möglich ist. Tatsächlich gibt es auf der ganzen Welt in verschiedenen Forschungseinrichtungen Informationsbruchstücke über das Prometheus-Projekt. Aber Blackwell hat nicht viel über den Kern des Projekts verraten.«
»Prometheus?«
»Ja, ich weiß«, erwiderte Casey grinsend. »Aber es ist groß, wirklich groß. Die Prometheus-Antwort ist sein Codename für die Große Vereinheitlichte Theorie. Tatsächlich behauptet er sogar, es vollbracht zu haben – die Arbeit, an der Einstein, Bohr, Feynman und Hawking gescheitert sind. Bei jedem anderen würde ich diese Behauptung mit größter Skepsis zur Kenntnis nehmen, aber … Jedenfalls hat er versprochen, dass es die größte Enthüllung in der Geschichte der Quantenphysik sein wird. Die definitive, elegante Lösung, die ein für alle Mal erklärt, wie das Universum funktioniert.«
»Und du wurdest eingeladen?«
»Er wird seine Ergebnisse natürlich veröffentlichen, aber er hat einige Hundert der besten Leute dieses Fachbereichs aus der ganzen Welt zu einem besonderen Seminar nach Oxford eingeladen. Darunter auch mich. Im Grunde genommen nutzt er dieses Symposium als Referenzgruppenveröffentlichung, und ich kann dir gar nicht sagen, was es für mich bedeutet, dass mich Blackwell als einen ihm Gleichgestellten ansieht.«
»Das hast du aber auch verdient, Casey. Ich freue mich wirklich für dich. Doch was soll diese Geheimniskrämerei?«
»Ach, die drehen doch alle durch, wenn es um die Wissenschaft geht. Hast du vom Blinden Glauben gehört, dieser fundamentalistischen Christenvereinigung?«
»Ja. Das ist ein Haufen Irrer.«
»Sie sind weit mehr als das. Der Blinde Glaube ist komplett untergetaucht, seitdem ihn das FBI als terroristische Organisation eingestuft hat. Wir haben am MIT einen Haufen von Richtlinien erhalten, und beim Symposium in Oxford wird es jede Menge Sicherheitsvorkehrungen geben. Blackwell hat schon Morddrohungen erhalten und ein unausgegorenes Gerät per Post bekommen, das jedoch abgefangen wurde. Diese Leute sind gefährlich, das kannst du mir glauben.« Casey schüttelte den Kopf, sodass ihm eine Locke seines schwarzen Haars ins Gesicht fiel. »Wir glauben, wir leben in einer erleuchteten Zeit, aber es gibt in der heutigen Welt ebenso viele Möchtegerninquisitoren wie damals bei Kopernikus und Galileo.«
»Mir ist nicht wirklich klar, wovor diese Leute so eine Angst haben.«
»Vor der Ausrottung, so sieht es aus. Weißt du, was Religion ist?« Casey beugte sich vor und sah ihn aufgeregt an. »Das Fehlen der Wissenschaft. Die Religion ist aufgeblüht, als wir nicht begriffen haben, wie das Universum funktioniert. Mit jeder neuen Entdeckung verschwindet eine abergläubische Erklärung eines Naturphänomens. Die Wissenschaft hat die Religion seit der Aufklärung mehr und mehr vernichtet, sodass sie jetzt um ihren letzten Lebensfunken kämpfen muss. Aus diesem Grund haben es der Blinde Glaube sowie jeder islamistische Fundamentalist und wiedergeborene Irre besonders auf Blackwell und seine Forschung abgesehen. Daher kann ich es ihm auch nicht verdenken, dass er sich besonders bedeckt hält.«
»Tja«, Macbeth hob sein Glas und prostete seinem Bruder zu, »ich freue mich wirklich für dich, Casey. Und es wäre toll, wenn du danach für einige Tage nach Dänemark kämst. Vielleicht kannst du deinem zurückgebliebenen Bruder dann alles erklären.«
»Du musst dein Licht aber auch immer unter den Scheffel stellen«, meinte Casey und runzelte die Stirn. »Ehrlich gesagt habe ich dich immer um deinen Verstand beneidet.«
Macbeth hätte seinen Wein beinahe wieder ausgespuckt. »Du hast mich beneidet?«
»Du redest immer davon, wie fokussiert ich bin … Einer meiner Freunde, Jürgen, ist Arzt am CERN und hat mir ein deutsches Wort verraten: Fachidiot. Jürgen sagt, dass wir genau das seien. Wir wissen viel über das, was wir tun, und so gut wie nichts über alles andere.«
»Ein Experte ist jemand, der mehr und mehr über immer weniger weiß …«
Macbeth lächelte und hob erneut sein Glas. »Samuel Johnson.«
»Da haben wir es wieder …« Casey deutete anklagend auf Macbeth. »Dein Kopf ist voller Fakten und Informationen über Dinge, die nichts mit deiner Arbeit zu tun haben. Demgegenüber kann ich gerade mal mit einer Fähigkeit prahlen.«
»Ich würde mich nicht über das Gehirn beschweren, das du bekommen hast.« Macbeth nippte an seinem Wein. »Und was die Tatsache angeht, dass ich mir Allgemeinwissen verdammt gut merken kann – ich würde diese Fähigkeit sofort gegen bessere Erinnerungen an mein reales Leben eintauschen. Ich würde ein autobiografisches Gedächtnis jederzeit einem semantischen vorziehen.«
»Wir sind, was wir sind«, stellte Casey resigniert fest.
»Hast du schon mal von Cosmos Rossellius gehört?«
Casey zuckte mit den Achseln.
»Er hat im sechzehnten Jahrhundert gelebt, in Florenz, und viele verschiedene Theorien über das Gedächtnis und seine Funktionen aufgestellt – Theorien, die seiner Zeit weit voraus waren. Ich sollte seine Werke irgendwann noch mal lesen … Und einige seiner Mnemotechniken ausprobieren.«
»Seiner was?«
»Möglichkeiten, die reale Welt im eigenen Kopf nachzubilden. Wenn er einen Ort besuchte, sagen wir eine Kirche oder eine Burg, dann hatte er eine Technik entwickelt, um diesen Ort perfekt in seinem Gedächtnis nachzubilden. So etwas könnte ich verdammt gut gebrauchen.«
»Freut mich zu hören, dass du bei der Literatur auf dem Laufenden bleibst …« Casey zog eine Augenbraue hoch. »Sechzehntes Jahrhundert, hast du gesagt?«
»Der Verstand war damals nicht anders als heute. Das Komische ist, dass wir erst jetzt entdeckt haben, dass sich spezifische Neuronen bestimmten Konzepten zuordnen lassen. Wenn du an eine bestimmte Person denkst, die du kennst, oder an einen Ort, an dem du mal gewesen bist, dann werden einige Neuronen aktiviert, die du speziell für diese Erinnerung hast wachsen lassen. Die Menschen leben tatsächlich in unseren Köpfen. Rossellius war der Welt in seiner Denkweise weit voraus, und er hat über Erinnerungsräume als Dimension der Existenz gesprochen. Er hat sogar eine Beschreibung von Paradies und Hölle geschrieben, die der von Dante in Umfang und Ausschmückung in nichts nachsteht. Der Unterschied ist, dass Rossellius’ Jenseits vollständig aus Erinnerungen bestand. Es war ein ewiger Erinnerungsraum.«
»Hmmm …« Casey goss sich noch etwas Wein ein. »Erinnerst du dich daran, wie Dad immer über die beiden Universen gesprochen hat? Das innere und das äußere Universum. Findest du es nicht seltsam, dass jeder von uns beiden letzten Endes eines davon untersucht?«
»Daran erinnere ich mich …« Auf einmal klang Macbeths Stimme belegt. »Ich schreibe ihm noch immer SMS, weißt du. Dad, meine ich. Nur, um ihm kleine Dinge aus meinem Alltag zu erzählen und so etwas.«
»John …« Caseys Tonfall war gleichzeitig mitfühlend und besorgt.
»Ich weiß. Es ist ungesund und ziemlich verschroben. Aber es ist einfach so, dass die Menschen heute elektronisch existieren. Wir haben alle irgendeine ›Präsenz‹ in Cyberland …« Macbeth wedelte mit der freien Hand in der Luft herum. »Irgendwie hilft es mir dabei, mir vorzustellen, er wäre noch immer irgendwo da draußen. Ich gebe ja selbst zu, dass es verrückt ist.«
»Mir fehlt er auch«, gestand Casey. »Wir haben vermutlich alle eine andere Methode, um mit dem Verlust fertigzuwerden.«
Die Brüder schwiegen einen Augenblick lang und versuchten jeder für sich, aus der dunklen Ecke wieder herauszukommen, in die sie sich hineinmanövriert hatten.
»Erzähl mir mehr über Blackwells riesige Entdeckung …«, forderte Macbeth endlich mit gespielt fröhlicher Stimme.
»Im Grunde genommen nutzt er Simulationen, um in der Zeit zurückzublicken, eigentlich sogar an der Zeit vorbei. Es geht darum, das zu sehen, was vor diesen zehn hoch minus dreiundvierzig Sekunden nach dem Urknall – oder was immer dem Universum und der Zeit selbst die Existenz ermöglicht hat – passiert ist. Es gibt jede Menge Spekulationen, aber niemand weiß genau, was er ankündigen wird.« Casey nahm sein Glas in die Hand und trank einen großen Schluck. »Und jetzt erzähl mir mal, was dir auf der Seele liegt. Du hast gesagt, dass gestern Nacht irgendwas passiert wäre. Was war das?«
Macbeth seufzte und ließ die Ereignisse der vergangenen Nacht Revue passieren. Er erzählte seinem Bruder von dem Selbstmörder, der gestorben war, und dem Priester, der noch um sein Leben kämpfte. Er ließ auch den Depersonalisierungsanfall auf dem Platz nicht aus, den er gehabt hatte, während er versuchte, Mullachy das Leben zu retten.
»Großer Gott, das ist ja schrecklich«, sagte Casey. »Du hättest mir heute absagen können. Ich hatte ja keine Ahnung.«
»Nein, der heutige Abend ist genau das, was ich gebraucht habe. Übrigens könnte es sein, dass du den Selbstmörder kennst, allerdings ist das ziemlich weit hergeholt …«
»Ach, echt?«
»Ja. Es war ein Mann namens Gabriel Rees. Er war am MIT …« Macbeth sprach nicht weiter, als er Caseys Reaktion auf seine Worte bemerkte.